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8. Kapitel
ОглавлениеSabine Thelen öffnete die Tür ihres Kühlschranks und starrte hinein. Ihr Magen knurrte, aber sie konnte sich nicht aufraffen, eine der Tupperdosen zu öffnen, die ihre Mutter eingepackt hatte, und das Essen warm zu machen.
Für einen kurzen Augenblick überlegte sie nach Oppum zu ihren Eltern zu fahren, doch dort war sie vorgestern schon gewesen. Außerdem konnte sie den besorgten Blick ihrer Mutter nicht mehr ertragen.
»Isst du genug, Kind? Du siehst so dünn aus? Du arbeitest sicher zu viel. Komm, nimm dir noch ein Stück Kuchen. Soll ich dir auch Kuchen einpacken?« Sätze dieser Art kamen immer. Obwohl Sabine wusste, dass ihre Mutter es gut meinte, fand sie die Fürsorge übertrieben und konnte nur schlecht damit umgehen.
Ihre Katze maunzte und rieb sich dann schnurrend an Sabines Beinen.
»Du hast auch Hunger, nicht wahr?« Sabine füllte den Napf der Katze, sah dem Tier beim Fressen zu. Auf dem Küchenschrank stand eine Flasche Rotwein, den Sabine gestern geöffnet hatte. Sie nahm sich ein Glas, schenkte es voll. Dann ging sie auf den Balkon.
Schon seit einigen Jahren wohnte sie in der Dachgeschosswohnung eines Hauses in der Dürerstraße. Den Blick über die Gärten empfand sie als beruhigend, die Wohnung gut geschnitten. Trotzdem schaute sie immer mal wieder in die Zeitung, auf der Suche nach einer neuen Wohnung.
Vor zwei Jahren war ihr Lebensgefährte und Kollege bei einem Einsatz ermordet worden. Sabine hatte inzwischen fast alles von ihm weggegeben, aber die Erinnerungen blieben.
Das Schellen der Wohnungstür riss sie aus ihren Gedanken. Im Flur nahm sie den Hörer der Gegensprechanlage ab. Wer würde sie um diese Zeit besuchen? Wahrscheinlich waren es die Zeugen Jehovas.
»Sabine? Hier ist Oliver …«
»Komm hoch.« Verwundert drückte sie den Türöffner. Seine Schritte klangen laut in dem engen Treppenhaus. An der Tür blieb er stehen, sah verlegen auf den Boden.
»Ich wollte dich nicht stören …«
»Komm rein. Ist was passiert?«
»Ich habe versucht dich telefonisch zu erreichen …« Oliver stand immer noch an der Tür.
Sabines Handy lag auf dem Tischchen in der Diele. Sie warf einen Blick darauf. »Der Akku ist leer. Verflucht, ich hatte das Ding doch gerade erst aufgeladen.«
»Zeig mal.« Endlich trat Brackhausen in die Wohnung und schloss die Tür hinter sich. »Kann sein, dass der Akku kaputt ist. Da kannst du aufladen bis der Arzt kommt, das Ding ist sofort wieder leer. Hast du Ersatz?«
»Ja, irgendwo. Ich such nachher. Magst du ein Glas Wein?«
»Ein Bier wäre mir lieber.«
»Hab ich auch. Geh schon mal auf den Balkon.«
Oliver blieb am Geländer stehen. Er wischte sich über das Gesicht, schaute in die Gärten, ohne etwas wahrzunehmen. War es richtig gewesen, zu Sabine zu fahren? Die Kollegen hielten zusammen, waren wie eine Familie. Sie kannten sich in Ausnahmesituationen, manchmal kannten sie sich besser als der Partner zu Hause. Er hatte jemanden zum Reden gesucht und Sabine war ihm als Erstes eingefallen. Ohne großartig nachzudenken, war er zu ihr gefahren.
»Hier.« Sabine reichte ihm die Bierflasche. In der warmen Luft des Augustabends bildete sich sofort eine Kondensschicht auf der kalten Flasche. Oliver nahm sie, öffnete sie mit seinem Feuerzeug und trank einen großen Schluck. Er machte einen fahrigen Eindruck, wirkte unglücklich.
»Setz dich doch.« Sabine wies auf die Alustühle und den kleinen Bistrotisch. Sie zündete zwei Teelichter an, die dort standen.
»Vera hat Schluss gemacht.« Oliver lehnte sich mit dem Rücken an das Geländer, trank noch einen Schluck.
»Wann?«
»Vor einer Stunde. Sie war gestern bei mir, wollte mit mir reden. Sie ist fertig mit ihrer Ausbildung und ich war der Meinung, dass sie sich hier oder in der Umgebung auf eine Stelle bewirbt. Will sie aber nicht. Sie will das Bundesland wechseln.«
»Oh, das ist gar nicht so einfach.«
»Nein, ist es nicht. Aber möglich. Ihr Traum, das hat sie mir gestern gesagt, war schon immer, am Meer zu wohnen.«
»Gestern? Ach. Ihr kennt euch schon knapp zwei Jahre und gestern erzählt sie dir ihren Lebenstraum?«
»Ich habe es auch erst nicht begriffen. Wir haben uns gestritten. Heute hat sie mir dann gesagt, wenn ich nicht mitgehe, dann war es das.«
»Ein Ultimatum?« Sabine schüttelte den Kopf. »Kannst du dir vorstellen, hier wegzugehen?«
»Keine Ahnung. Hat sich aber auch erledigt. Es war nur ein vorgeschobener Grund. Sie hat da oben jemanden kennen gelernt. Er arbeitet in Kiel.« Wieder trank Oliver. Diesmal leerte er die Flasche.
»Willst du noch eins?«, fragte Sabine.
Er nickte stumm.
Sabine holte das Bier, drückte es ihm in die Hand.
»Sie wollte gar nicht, dass ich mitkomme, suchte nur einen Aufhänger für einen Streit, einen Grund für die Trennung.«
»Miese Masche.« Sabine schluckte. Sie war nicht gut darin, andere zu trösten. »Hast du Hunger?«
»Hunger?«
»Ich wollte gerade kochen.« Sabine überlegte kurz. »Nudeln.«
»Klingt gut. Kann ich helfen?« Oliver folgte ihr in die Küche und ließ sich auf einen Stuhl sinken. Er stützte die Arme auf den Tisch und vergrub den Kopf in den Händen.
Schweigend setzte Sabine Wasser auf. Ihr wollte nichts Tröstliches einfallen. Ein ›sei froh, dass du sie los bist‹ erschien ihr zu platt.
Schließlich setzte sie sich neben ihn und legte den Arm um seine Schulter. »Sei traurig. Du hast das Recht dazu. Dann sei wütend. Hasse sie, verdamme sie, trauere um sie. Irgendwann lässt der Schmerz nach.«
»Vermisst du Martin?«
»Nein«, log sie.
»Hast du noch ein Bier?«
»Eins oder zwei. Sonst nur Wein.«
»Ich nehme alles, was mich über die Nacht bringt.«
Zwei Stunden später deckte Sabine Oliver mit einer Wolldecke zu. Er hatte schon geschnarcht, bevor sein Kopf das Kissen auf dem Sofa berührte. Nur mit Mühe hatte sie ihn ins Wohnzimmer verfrachtet.
Als er am nächsten Morgen aufwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Das Licht schien in seinen Augen zu explodieren und seine Zunge klebte am Gaumen. Mühsam hob er den Kopf, drückte eine Hand gegen die Schläfe, hinter der es schmerzhaft pochte.
Er hatte Schwierigkeiten sich zu orientieren. Wo war er? Was war passiert? Stöhnend richtete er sich auf und kämpfte gegen die Übelkeit an. Er war nicht zu Hause, aber wo dann?
Nach und nach begriff er, dass er in Sabines Wohnung war. Die Erinnerung an den gestrigen Abend kehrte bruchstückhaft zurück. Er hatte Sabine sein Herz ausgeschüttet, weil Vera sich von ihm getrennt hatte. Sabine gab ihm Bier und später fand sie noch eine Flasche Ouzo. Seine Erinnerungen endeten in der Küche, wie er ins Wohnzimmer gekommen war, wusste er nicht.
Ihm wurde klar, dass es schon spät am Vormittag sein musste und er eigentlich im Dienst war.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße.« Brackhausen stand auf, tastete sich an der Wand entlang zur Küche. Sein Mund war trocken und die Zunge wie Sandpapier. Der Nachdurst quälte ihn gewaltig. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel, daneben eine Packung Aspirin.
»Ich habe dich krankgemeldet. Im Badezimmer ist eine neue Zahnbürste. Gruß, Sabine.«
»Gott sei Dank«, murmelte er, beugte sich über die Spüle, drehte den Wasserhahn auf und trank.