Читать книгу Die Herrin der Burg / Das Siegel des Templers - Zwei Romane in einem Band - Ulrike Schweikert - Страница 21
KAPITEL 10
ОглавлениеIn kleinen Gruppen kamen sie aus dem Norden und Osten. Die Ritter und Edelknechte hatten ihre Farben abgelegt, wählten verschiedene Pfade, mieden die Dörfer und Weiler, doch sie schienen alle demselben Ziel zuzustreben. Schweigend ritten sie dahin, nur die Schwerter rasselten in ihren Scheiden, und die Kettenhemden klirrten leise. Im Schutz der Dunkelheit würden sie ihr Ziel erreichen. Alles kam darauf an, dass sie vorher nicht entdeckt werden würden.
»Heinrich von Husen bittet für die Töchter des edlen Ritters von Wehrstein um Schutz und Geleit«, rief der junge Edelmann den Wachen am Tor zur oberen Haigerlocher Burg zu. Es ärgerte ihn, dass er sich nicht Ritter nennen durfte, und so versuchte er, durch eine grimmige Miene und ein hoch erhobenes Haupt ein wenig wichtiger auszusehen. Viel zu langsam schlurfte einer der Wachen heran. Der große Riegel scharrte und quietschte, dann öffnete sich das eisenbeschlagene Tor, um die Gäste einzulassen.
Tilia bog den Kopf in den Nacken und sah zum Bergfried hoch. Ein fast grimmiger Bau, vor Stärke strotzend, aus großen, zwei Schritt langen, massiven Steinquadern errichtet. Über eine hölzerne Treppe gelangte man, in der schwindelnden Höhe von mehr als zehn Schritt, zum Eingang. Die Ritterstochter ließ den Blick die Mauer hinauf bis zum gewalmten Satteldach wandern. Gegen diesen Turm wirkten die einstöckigen Wirtschaftsgebäude winzig, wie ängstlich an die Mauern geduckt.
Über die hölzerne Treppe stieg ein Ritter in den Farben der Hohenberger herab. Er trug sein braunes, dichtes Haar im Nacken ungewöhnlich kurz, Wangen und Kinn waren von dichten Bartstoppeln verhüllt. Dennoch konnte kein Zweifel bestehen, dass es sich um einen hohen Herrn handelte. Mit weit ausladenden Schritten kam er auf die Gäste zu. Die Gestalt nur mittelgroß, doch kräftig und muskulös, konnte man den erfahrenen Kämpfer erahnen. Mit einem Kopfnicken begrüßte er das Edelfräulein, wandte sich dann jedoch an den jungen von Husen. »Seid willkommen in Haigerloch. Wenn Ihr die Nacht hier verbringen wollt, dann reitet am besten gleich durch die Stadt zur neuen Burg hinüber. Graf Albert wird Euch dort empfangen. Ihr habt einen guten Tag gewählt, Spielleute und Gaukler sind auf der Durchreise hier und werden heute Abend in der Burg ihre Künste zeigen.« Tilia, die ihre Stute zu den beiden Männern gelenkt hatte, hörte die letzten Worte. Ihre Augen leuchteten.
»Musikanten? Wie herrlich. Werden auch Akrobaten zu sehen sein?«
Burkhard von Hohenberg runzelte die Stirn und sah ein wenig missbilligend zu dem Mädchen hoch, doch dann lächelte er.
»Ja, Fräulein von Wehrstein, Ihr werdet staunen, was die Männer alles können. Ich habe sie bereits auf Hohenberg gesehen. Und ich kann Euch jetzt schon sagen, dass der Graf selbst der Minne pflegen und heute Abend einige seiner Lieder vortragen wird.«
Tilia lächelte den Ritter freundlich an und verabschiedete sich dann höflich. Dem jungen von Husen folgend, der Haigerloch schon mehrmals besucht hatte, ritten sie im Schritt durch das Stadttor. Heinrich ließ Tilia an seiner Seite reiten, dann sprudelte er voller Begeisterung los.
»Haigerloch ist eine ganz außergewöhnliche Stadt. Genau gesagt sind es zwei Städte, durch den Fluss Eyach getrennt. Seht nur, wie steil die grauen Felsen zum Wasser hin abfallen. Kein Mensch könnte sie je erklimmen. Von festen Mauern umgeben und von den beiden Burgen hüben und drüben des Flusses bewacht. Welch ein Feind würde es je wagen diese Stadt anzugreifen? Die obere Burg ist wie des Adlers Horst und wacht bei Tag und Nacht über ihre Bewohner, so dass auch Ihr, liebes Fräulein Tilia, heute Nacht beruhigt schlafen könnt.«
Nun musste er Luft holen. Beifall heischend sah er Tilia aus großen Augen an, so dass sie schnell das Lächeln verbarg, das um ihre Lippen spielte, und ihm scheinbar ernst dankend zunickte. So aufgemuntert setzte er sein Loblied fort, während die kleine Gruppe zwischen zwei geschlossenen Häuserreihen die steile, morastige Straße zur Eyach hinunterritt.
Zweistöckig, manche sogar dreistöckig, ragten die Häuser zu beiden Seiten auf, einige in der neuen Ständerbauweise, bei der die Pfosten nicht mehr in den Grund gegraben, sondern auf einem gemauerten Sockel durch Querriegel verzapft wurden. Dies brachte große Vorteile mit sich, da seit jeher die eingegrabenen Pfosten nach einigen Jahrzehnten vermodert waren und das Haus dann einzustürzen drohte. Häuser der neuen Bauweise, sagte man, würden mehrere Generationen überdauern, doch es gab noch nicht sehr viele Zimmerleute, die mit dieser Technik vertraut waren. Tilia verstand von diesen Dingen nichts, doch die hohen Häuser mit den dunklen Balken, den mit Flechtwerk, Kalk und Lehm verputzten Fächern und den schindelgedeckten Dächern gefielen ihr.
»Graf Burkhard, der Ritter, der uns gerade empfangen hat, ist seinem Bruder, dem Grafen Albert, völlig ergeben«, erzählte Heinrich weiter. »Er ist ein großartiger Kämpfer, mutig und stark – auch wenn man sagt, dass Graf Albert in Sachen List und Kriegführung der Überlegene ist. Graf Burkhard jedenfalls ist sein wachsames Auge, das dort oben im Bergfried mit den Wächtern haust, während Graf Albert in der neuen, bequemen Burg wohnt.«
Nun kam die neue Burg des Hohenbergers in Sicht. Groß und prachtvoll saß sie auf einem felsigen Rücken, der in eine Flussschlinge hineinragte. Zu ihren Füßen, zwischen Ufer und aufragenden Steilhängen, wand sich in gleichem Bogen der andere Teil der Stadt. Auch die dem heiligen Nikolaus geweihte Kirche und der Friedhof waren auf der anderen Flussseite, nah am Ufer, zu finden.
Die Reiter erreichten den hölzernen Steg, der über die Eyach führte. Nur für Fußgänger gebaut, war er zu schwach und zu schmal, um die Pferde tragen zu können, daher mussten die Gäste aus Wehrstein noch ein Stück flussaufwärts zur Furt reiten. Nachdem sie die Eyach überquert hatten, folgten sie ein Stück der Straße, die im Tal zum unteren Tor im Norden der Stadt führte, und nahmen dann den rechts abzweigenden Pfad, der in steilen Serpentinen zur Burg hoch führte.
»Kein Karren kann diesen Weg bezwingen, so steil und schmal, wie er ist«, wunderte sich Tilia. »Schaffen die denn alles, was oben gebraucht wird, auf Pferden und Eseln hoch?«
»Von der Stadt aus ist dies der einzige Weg zur Burg, da habt Ihr Recht«, pflichtete ihr Heinrich bei. »Allerdings kann man von der Hochebene aus im Osten auf flachem und breiterem Weg das andere Burgtor erreichen.«
Auch Gret und Rüdger sahen sich staunend um. Sie wunderten sich über die dicht an dicht gebauten Häuser, die vielen Menschen, die Händler, die Karren und das Geschrei.
Im Burghof herrschte nicht minder Trubel und Geschäftigkeit. Ochsen und Schweine wurden herangetrieben, Puten und Hühner mit zusammengebundenen Beinen, Mehlsäcke und Körbe mit Obst und Gemüse von Karren und Pferden geladen und herumgeschleppt. Scheinbar ziellos liefen die Menschen hin und her, lachten, schimpften, schrien und fluchten durcheinander. Ein paar Ritter trieben ihre Späße mit den Mägden, drei Knaben in schmutzigen Kitteln spielten Fangen, liefen den Bauern zwischen die Füße, ängstigten die Pferde und brachten die Ochsen zum Brüllen.
Niemand kümmerte sich um die Neuankömmlinge. Eine Weile saßen sie nur stumm auf ihren Pferden und warteten, doch dann besann sich Heinrich von Husen seiner Aufgabe, stieg ab und ging zu einem der Ritter. Der schien nicht gerade begeistert, von dem drallen Mädchen ablassen zu müssen, das er gerade umfangen hielt, doch er kam mit leidlich freundlicher Miene mit, stellte sich als Peregrin von Salmedingen vor und forderte sie auf, ihm in den Saal zu folgen. Einem der Knechte befahl er, die Pferde zu versorgen.
Sie brauchten nicht lange zu warten, bis die Gräfin kam, die Gäste zu begrüßen. Margarete von Fürstenberg, die zweite Frau des Grafen, war von kleinem Wuchs, mit blasser Haut und grauen Augen, das weißblonde Haar unter dem strengen Gebende verborgen. Sie wirkte kaum älter als ihre Stieftochter Agnes, die ganz anders, groß und rotwangig, mit ihrer burschikosen direkten Art die Stiefmutter schlicht in Vergessenheit geraten ließ. Dennoch hatte diese so zerbrechlich wirkende Frau dem Grafen fünf gesunde, kräftige Kinder geboren, die alle zu hoffnungsvollen Söhnen und Töchtern heranwuchsen.
Die Gräfin umarmte Tilia mütterlich, herzte die kleine Dorothea, die darüber wenig begeistert schien, und nahm die Verbeugung des jungen von Husen wohlwollend zur Kenntnis. Sie winkte einer Magd, dass sie Rüdger, Gret und Sofie in die Küche führe, und gab Heinrich von Husen in die Obhut eines Edelknechtes. Dann führte sie Tilia und Dorothea durch den Saal zu der steinernen Treppe, die in die oberen Stockwerke führte. Sie plauderte freundlich, doch Tilia folgte den Worten nur flüchtig. Zu sehr war sie mit Staunen beschäftigt, während sie der Hausherrin durch lange, spärlich beleuchtete Gänge folgte, an mehreren Räumen vorbei, die meisten mit einem Ofen! Über eine gewundene Stiege erreichten sie die Frauengemächer. Die Gräfin gab das Kind in die Obhut einer Kammerfrau und überwachte selbst das Anrichten eines Bades für Tilia. Die Wehrsteintochter lag mit geschlossenen Augen im heißen, nach Rosen und Thymian duftenden Wasser und ließ die vielen neuen Eindrücke noch einmal an sich vorbeiziehen.
»Da habt ihr euch den richtigen Tag ausgesucht«, sagte die kleine, rundliche Magd, die Gret und Rüdger über den Hof zu dem flachen Küchenbau hinüberführte. »Ich heiße Maria.« Sie lächelte freundlich und ließ eine Reihe gelber, schiefer Zähne sehen.
»Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, welche Köstlichkeiten es am Abend geben wird.« Begeistert schnalzte sie mit der Zunge.
»Ihr könnt von allem probieren, doch hütet euch vor Piero, dem Koch. Wenn der euch erwischt, dann klingen euch die Ohren. Er ist nicht groß, hat schwarzes Haar und eine rote, knollige Nase. Ihr erkennt ihn sofort. Er kommt von den Welschen und spricht ganz merkwürdig. Doch kochen kann er. Wenn ich nur an die Pastete zu Dreikönig denke. Die Herrschaften haben sie kaum angerührt. Die waren alle schon viel zu betrunken. Ich sage euch, das war für uns in der Küche nachher ein Fest!«
So plauderte sie ohne Unterlass, bis sie die Tür zur Küche aufstieß. Gret sog hörbar die Luft ein, und Rüdger pfiff anerkennend durch die Zähne. Maria plusterte sich stolz auf, als könne sie die Küche ihr Eigen nennen. Sie führte die Gäste an drei lodernden Feuern vorüber. Über den ersten beiden brutzelten an eisernen Spießen saftige Bratenstücke und ein ganzes Schwein. Zwei halb nackte Buben, denen in Strömen der Schweiß über Stirn, Hals und Brust rann, drehten die Spieße, die Griffe fest mit beiden Händen umschlossen. Über dem dritten Feuer hing ein Kupferkessel, in dem ein dicker Eintopf kochte. Weiter hinten, an langen Tischen, standen mehlbestäubte Mägde, walzten und schlugen, kneteten und formten weißes Brot und süße Kuchen. Auf einem Wandbord lagen Gewürzbrote in fantasievollen Formen, duftend frisch und noch heiß dampfend. Darüber hing an einem Haken ein winziger Käfig, in dem sich ein rotbraunes Eichhörnchen ängstlich an die Rückwand drückte.
Die Magd führte die Gäste aus Wehrstein zu einer Nische, in der einige Strohsäcke lagen. Daneben stand eine schmale Bank mit einem rohen Tisch davor.
»Da, setzt euch. Ich bring euch was zu essen und zu trinken. Und dir eine schöne, warme Milch.«
Sie strich Sofie über die blonden Zöpfe. Seit sie die Burg betreten hatten, war das Kind verstummt, sah sich nur mit großen Augen staunend um. Geschäftig eilte die Magd davon, brachte Brot, Fleisch und Kuchen, bald darauf zwei schäumende Krüge und einen Becher warmer Milch.
»Hier, probiert das mal.«
Rüdger kostete vorsichtig. Sein Mund verzog sich zu einem breiten Lächeln. Der nächste Schluck fiel lang und gierig aus.
»Was ist das«, fragte er neugierig und wischte sich den Schaum aus dem ungepflegten Bart.
»Das ist Bier. Mönche in einem Kloster bei Passau brauen es, ich weiß nicht, wie.« Sie wies auf einen Stapel Fässer in einer zweiten Nische.
»Der Graf lässt sie extra herbringen. Viele Tage sind die Fuhrleute dafür unterwegs.«
Sie hätte gerne noch mehr erzählt, doch ein dunkelhäutiges Männchen mit schwarzem Haar rief mit sich überschlagender Stimme nach ihr. »Marrria!«, gellte es. Hoch aufgerichtet stand er in seiner blutigen Schürze da und schwang in der Rechten das große Fleischermesser. Die Magd zog ein wenig das Genick ein, sauste aber sofort los, um die ihr aufgetragenen Arbeiten zu erledigen.
Sorgfältig, wie kaum jemals zuvor, kleidete sich Tilia in ihr feinstes Hemd und den grünseidenen Bliaud. Gret schnürte ihn auf beiden Seiten besonders eng, schlang den goldbestickten Gürtel zweimal um die schmale Taille und nähte die weiten Ärmel aus goldbestickter, weißer Seide an.
»Halte still!«, schimpfte die Halbschwester ein paarmal, wenn Tilia wieder ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trat.
»Dann beeile dich. Ich will nicht zu spät kommen«, gab Tilia nervös zurück. Doch die anderen Damen, die sich von ihren Mägden oder Kammerfrauen für das große Festessen herrichten ließen, waren auch noch nicht weiter.
Das ganze Schlafgemach schimmerte im Schein der Fackeln in bunter Seide, Brokat und Barchent, feinen Stickereien und zarten Schleiertüchern. Gret drückte Tilia auf einen Hocker und begann, das lange Haar zu kämmen. Geschickt rollte und drehte sie einzelne Strähnen, steckte sie mit feinen, eisernen Nadeln fest, wickelte grüne Seidenbänder mit hinein und befestigte dann das perlenbestickte Schappel. Dann trat sie zurück und betrachtete zufrieden ihr Werk. Geheimnisvoll tanzte das flackernde Licht über Seide, Perlen und glänzendes Haar, in Rollen und Täler gelegt und dann, immer noch dicht, in leichten Wellen bis zur Taille fallend.
»So, du kannst gehen und allen Grafen und Rittern den Kopf verdrehen«, sagte sie mit ein wenig Wehmut in der Stimme.
Tilia legte sich ihren Tasselmantel um die Schultern und hauchte Gret einen Kuss auf die Wange. Die erstaunten Blicke der anderen Damen bemerkte sie nicht.
»Ich danke dir. Wirst du nach Dorothea sehen?«
»Ich kann sie mit in die Küche nehmen. Dort wird es sicher genauso lustig hergehen wie im großen Saal.«
Gret nahm das Mädchen an die Hand und verließ das Gemach der Edelfräulein, während Tilia den anderen Damen zum Festsaal folgte. Wie es sich gehörte, die rechte Hand an der Tasselschnur, mit der linken den Mantel gerafft, dass man das Innenfutter und den Bliaud sehen konnte, schritt Tilia vorsichtig die breiten Stufen hinunter. Sie kam sich plötzlich recht schäbig vor, waren die Stoffe der anderen Damen doch edler, die Farben bunter. Hier und dort blitzten Edelsteine. Doch sie hatte keine Zeit, lange darüber nachzudenken. Die Gräfin selbst zeigte Tilia ihren Platz.
Die Mägde hatten sich große Mühe gegeben. Die Tische waren bis zum Boden mit weißem Linnen bedeckt, Frühlingsblumen und frischgrüne Zweige umrankten die schweren, bronzenen Kerzenleuchter. An jedem Platz stand ein Zinnbecher, der des Grafen war mit winzigen Edelsteinen besetzt. Jeweils zwei Gäste mussten sich eine Fingerschale mit Essigwasser teilen. Messer und Löffel brachte jeder Gast wie üblich selbst mit. Nach französischer Sitte saßen die Damen mit den Rittern an der Tafel, die in Form eines lang gezogenen U aufgebaut worden war. An der schmalen Querseite saßen der Graf, seine Gemahlin, die Tochter Agnes aus erster Ehe und der älteste Sohn Albrecht. Dann folgten dem Rang nach des Grafen Bruder Burkhard, die jüngeren Kinder, die Ritter und Damen.
Tilia saß zwischen dem Ritter Peregrin von Salmedingen und einem Augustinermönch, der sich als Bruder Simon vorstellte. Der Ritter befasste sich hauptsächlich mit seiner Nachbarin, einer Dame, die, nach dem Gebende zu urteilen, Witwe sein musste. Sie hatte eine große Nase und zeigte beim Lachen schiefe Zähne, doch ließ sie sich bereitwillig an ihre großen Brüste fassen. Bruder Simon jedoch, ein Bär von einem Mann, den man sich auf jedem Schlachtfeld hätte vorstellen können, nahm Tilia bald ihre Befangenheit. Der Mönch aß und trank in einer solch atemberaubenden Geschwindigkeit Unmengen, dass es ein Wunder war, dass er zwischendurch genug Zeit fand, seine Tischnachbarin zu unterhalten.
»Ich wollte nie hinter Klostermauern eingesperrt mein Leben gelangweilt absitzen«, vertraute er der Wehrsteintochter an und griff nach einem knusprigen Hähnchen. »Ich wollte immer zu den Rittern gehören«, ergänzte er mit vollem Mund. »Aber was will man machen. Für den vierten Sohn in einem Rittergeschlecht reicht das Geld weder für eine anständige Rüstung noch für ein kräftiges Ross.«
»Ich könnte mir Euch gut als Ritter vorstellen. Ihr seht sehr kräftig aus, Bruder Simon«, bestätigte das Mädchen. »Kettenhemd, Schwert und Schild würden Euch prächtig anstehen – wenn Ihr mir diese Bemerkung nicht übelnehmt.«
Der Mönch trank seinen Becher mit einem Zug leer, rülpste geräuschvoll und lachte dann. Die Weintropfen, die sich in seinem Bart verfangen hatten, spritzten nach allen Seiten.
»Ja, ich kann gut mit dem Schwert umgehen, das könnt Ihr mir glauben, und habe nicht selten ein Kettenhemd unter der Kutte getragen.«
Obwohl er Tilia nicht aus den Augen ließ, gelang es ihm doch, gleichzeitig einem Diener den Becher hinzustrecken, dass dieser ihn wieder füllen konnte.
»Ich war dabei, als der junge Pfalzgraf von Tübingen-Böblingen seinen Vormund und Onkel, Graf Ulrich von Tübingen-Asperg, aus Böblingen hinausgeworfen hat. Das Bürschchen hat sich gegen den König gewandt und ist ein wenig übermütig geworden. Als Erstes mussten wir uns zurückziehen, doch glaubt mir, wir kamen wieder, und als Graf Ulrich den Neffen in die Finger bekam, da blieb kein Auge trocken. Vor seinen Männern hat der Graf ihn so verdroschen, dass er sicher eine Woche lang nicht mehr sitzen konnte. Mal sehen, ob er in Zukunft mehr Respekt vor dem Alter hat.«
Bruder Simon lachte dröhnend, griff in die Schüssel mit den saftigen Bratenstücken und holte sich eine fetttriefende Haxe heraus. Trotz der Fingerschalen putzte er sich die Hände am weißen Linnen ab und schnäuzte sich dann kräftig in seine Kutte.
Das Mahl schritt voran. Die Ritter und Damen wurden lustiger und lauter. Das Lachen und Scherzen übertönte den Klang von Fiedel und Rotte, Manichord und Tambur. Der Ritter drei Plätze neben Tilia erbrach sich in die frischen Binsen. Die Damen lachten.
»Na, wenigstens ging es dieses Mal nicht wieder über den ganzen Tisch«, wieherte eine Dame mit großer Nase.
Tilia sah zu Heinrich von Husen hinüber, der schräg gegenüber zwischen einer dürren Jungfrau und einem grauhaarigen Ritter saß, der ihn prächtig zu unterhalten schien. Der Jüngling hing an den Lippen des alten Haudegens, der, vielleicht nicht ganz der Wahrheit entsprechend, aber immerhin sehr eindrucksvoll von seinen unzähligen Heldentaten berichtete. Das blasse Mädchen nagte gelangweilt an einem Hühnerknochen.
Ein lauter Trommelwirbel ließ für einige Augenblicke das Stimmengewirr verstummen. Mit großer Geste, die Nase emporgereckt, trippelte der Koch in die Mitte und kündigte mit lauter Stimme die Überraschungspastete an.
Die beiden Knechte hatten Mühe, das riesenhafte, knusprig gebackene Teiggebirge hereinzuschleppen. Es drohte schon von seinem Brett zu kippen, da schafften sie es gerade noch, das Ungetüm vor dem Grafen auf den Tisch zu wuchten. Dass dabei einige Becher Wein umkippten und Tonschalen auf dem Boden zerschellten, kümmerte niemanden. Eine kunstvolle Landschaft aus Bergen und Tälern, sogar mit einer kleinen Burg aus braunem Teig. Die Gäste klopften mit der Rückseite ihres Messers auf den Tisch und sahen gespannt, wie der Graf seinen Dolch hob. Schwungvoll schnitt er den Gipfel des höchsten Berges ab. Bevor er noch einen zweiten Schnitt ansetzen konnte, sauste ein winziges Fellbündel wie ein Blitz aus der im oberen Teil hohlen Pastete heraus. Die Damen klatschten vor Begeisterung in die Hände, die Ritter sprangen von ihren Sitzen, die Messer in der Faust. Das völlig verängstigte Eichhörnchen blieb einen Augenblick vor der Gräfin auf dem Tisch sitzen. In wilder Verzweiflung huschten die schwarzen Knopfaugen umher. Da stürzte schon, wild grölend, die bewaffnete Meute heran. Mit Dolch und Messer herumfuchtelnd, versuchte jeder das Tier zu erwischen. In seiner Panik platschte das Eichhörnchen in eine Soßenschale, hinterließ braune Spuren auf der Gräfin Busen und rutschte dann zwischen Seidenrock und Tischtuch in die Binsen hinunter. Haken schlagend sauste es unter dem Tisch hindurch. Die Damen kreischten. Zwischen zutretenden Füßen und greifenden Händen wischte es geschickt hindurch, Messer zischten durch die Luft, ein paar Ritter und Damen wurden zu Boden gerissen. Blut floss, doch noch immer nicht das des flinken Tieres. Der Graf stand breitbeinig auf dem Tisch und brüllte in den Tumult:
»Ein Ring von meiner Hand für den, der es kriegt!«
Das Ergebnis war verheerend. Sie hetzten das winzige Wesen, das in Todesangst zwischen Beinen, Leibern und Händen hindurchflitzte, doch sie konnten es nicht erwischen. Wein und Bier hatten Gewandtheit und Blick der Ritter schon zu sehr getrübt. Als die Mägde mit neuen Krügen eintraten, nutzte das Tier die offene Tür erfolgreich und floh in die Nacht.
Als wieder Ruhe einkehrte, sah Tilia, dass drei der Ritter durch Messerstiche verletzt worden waren. Ein Jüngling mit zweifarbigen Beinlingen hatte einen bösen Schnitt am Auge, und auch eine der Damen blutete aus einer Wunde am Bein. Doch offensichtlich tat das dem Spaß keinen Abbruch. Geschirr war zu Bruch gegangen, und Kleider waren in Fetzen gerissen worden. Dass zwei üppige Damen nun mit entblößten Brüsten am Tisch saßen, hielt keiner für ein Versehen. Tilia war froh, dass ihr einziges Festgewand keinen Schaden genommen hatte.
Der Mönch, der sich mit Eifer an der Jagd beteiligt hatte, kam mit rotem Kopf zurück und ließ sich schwer atmend neben Tilia auf die Bank fallen.
»So ein Spaß«, keuchte er und stürzte drei Becher Wein hinunter.
Der Graf schickte alle zu ihren Plätzen zurück, bis auf den Jüngling, der sich von einer Magd verbinden ließ. Dann brachten Diener Süßspeisen, und endlich sprangen die kunterbunt gekleideten Gaukler herein. Sie jonglierten mit farbigen Bällen, kletterten aufeinander, so dass der Knabe die rußige Decke des Saals mit den Händen berühren konnte. Sie sprangen auf den Tisch, schlugen Räder und Salti, ohne auch nur einen Becher umzuwerfen. Tilia war hingerissen und konnte keinen Blick von diesen atemberaubenden Menschen lassen. Sie vergaß sogar die süßen Speisen, auf die sie sich so sehr gefreut hatte. Auch der Graf war zufrieden und warf dem Ältesten der Truppe am Ende der Vorführung einen Beutel mit klingenden Münzen zu. Erfreut zogen sich die Akrobaten zurück.
Der alte Spielmann, der bis dahin die Manichord geblasen hatte, legte diese zur Seite und begann mit tiefer Stimme eine Ballade zu singen. Er sang von Tristan, der auszog, für seinen Herrn Isolde zu freien und dann in heißer Liebe zu ihr entbrannte. Es kehrte Ruhe ein. Ritter und Damen lauschten ergriffen. Dann sang der Alte von König Artus und seinen Rittern. Vorbei seien die Zeiten wahrer Helden und süßester Minne, klagte er, und so manche der Damen nickte seufzend. Als der letzte Ton verklungen war, herrschte noch eine ganze Weile Stille. Da sprang Bruder Simon plötzlich auf, hob seinen Becher und rief:
»Graf Albert, ein Lied! Singt uns ein Lied!«
Die anderen klopften zustimmend mit den Bechern auf den Tisch. Der Graf erhob sich, ergriff die Rotte, die der Spielmann ihm bereitwillig übergab, und ließ die Finger über die Saiten gleiten. Dann erfüllte seine kräftige Baritonstimme den Saal.
Geht es jemand in der Welt besser
als einem, der sein eigen Lieb
mit Armen hält umschlossen?
Bewahrt sie ihm Treue ohne allen Hass,
ist er besser daran denn ein Minnedieb,
ihn haben die langen Nächte nie überdrüssig gemacht.
Er fürchtet weder die Angeber noch ihren Hass,
er liegt ganz ohne Sünde, Furcht und Schande.
Fände jemand unerlaubte Minne besser,
wobei niemand Treue erkannte,
der würde der Frauen Laster ihrer Ehre vorziehen.
Von dem wende ich mich ab, folge seinem Beispiel nicht.
Verbotene Wasser besser sind
als erlaubter Wein, das hör ich sagen
von den Leuten, die mit Sünde behaftet sind.
Auch haben davon mich Kinder überzeugt,
ich habe solches teilweise selbst gesehen,
der Welt Art ist, stets auf neuen Genuss zu sinnen:
Nur das mit Mühe Gewonnene dünkt gut, was man
ganz ohne Furcht besitzt, das entleidet sehr oft:
So geheime Minne machet größer die Luft
wenn’s Lieb in der Minne Netz
mit Armen im Geheimen umschlossen liegt,
so geht es niemand besser:
So spricht die Welt unleugbar.
Mit einer leichten Verbeugung vor seinem Publikum gab der Graf dem Spielmann die Rotte zurück. Die Gäste applaudierten und forderten ein weiteres Lied ein, doch da öffnete sich die Saaltür. Ein Mann und eine Frau, nach Alter und Ähnlichkeit Vater und Tochter, traten ein. Die Kleidung wies ihn als einen Bauern aus, wenn auch das teure Tuch deutlich machen sollte, dass er nicht zu den Armen gehörte. Das junge Mädchen, fünfzehn oder sechzehn Lenze alt, trug einen Brautkranz im offenen Haar. Forsch schritt der Bauer zwischen den beiden Tischreihen hindurch und blieb dann mit stolz erhobenem Haupt vor Graf Albert stehen.
»Ich bringe Euch meine Tochter Esther, Herr Graf. Wie Ihr wisst, ist heute ihr Hochzeitstag. Nehmt Euer Recht, ich werde draußen warten, damit ich sie dann ihrem Gatten zuführen kann.«
Nun endlich verbeugte sich der Bauer, der den Meierhof in Trillfingen für den Grafen führte. Vierzig Morgen hatte er zu Lehen, und dennoch war er wie die anderen dem Grafen hörig und musste sich den alten Sitten beugen.
Graf Albert erhob sich und streckte die Hand aus. »Komm her, mein Kind, und lass dich ansehen.«
Gemessenen Schrittes ging die Meierstochter um den Tisch herum. Alle Augen folgten ihr. Verstohlen ließ sie ihren Blick durch den Saal und über die versammelten Gäste schweifen und heftete ihn dann fest an den Grafen. Sie hielt dem seinen stand, lächelte sogar ein wenig herausfordernd und verbarg ihre Aufregung. Sie wusste, was sie erwartete. Ihr Bräutigam warb nun schon fast ein Jahr um sie. Er war jung und gesund und würde einen großen Hof erben. Also hatten die Eltern weggesehen, wenn sie sich nachts in der Scheune trafen. Ein paar Probenächte waren üblich. Viele junge Männer wollten sich erst auf ein Eheversprechen einlassen, wenn die Auserwählte gezeigt hatte, dass sie fruchtbar war.
Natürlich hatte die Meierstochter ihn nicht gleich in den ersten Nächten an sich rangelassen, das gehörte mit zum Spiel, und so war der Bursche bereit, dies einige Male zu dulden. Schließlich wusste sie, dass gleich nebenan der Bauer und seine Frau schliefen. Doch nun war sie schwanger, die Väter waren sich einig, und der Graf hatte zugestimmt – also konnte die Hochzeit stattfinden.
Es wäre dem Vater ein Leichtes gewesen, sie auszulösen, und auch in des Bräutigams Beutel waren Münzen genug, doch die Männer fanden es wichtiger, ein paar Ferkel anzuschaffen, denn die Braut aus des Grafen Bett freizukaufen. Nun schwankte das Mädchen zwischen Neugier und Furcht, als sie ihre Hand in die des Grafen legte.
»Einen Bastard für die Hohenberger!«, brüllte ein dicker, glatzköpfiger Ritter und lachte, denn den Zustand der Braut konnte man in diesen Gewändern noch nicht sehen.
»Ja, zeigt ihr, was ein richtiger Hengst ist«, rief ein blasses Bürschlein, sprang auf einen Schemel und begann, mit diesem unter lautem Geschrei den Tisch entlangzureiten. Zwei völlig betrunkene Ritter folgten seinem Beispiel.
Das Bauernmädchen errötete. Die schmale Hand umklammerte die des Grafen. Beruhigend legte er seine andere Hand über die ihre und führte die Braut die Treppe hinauf in sein Gemach.
Die Gräfin nahm dies zum Anlass, sich mit ihren Damen zurückzuziehen. Während die Gräfin in der Kemenate einen Kerzenleuchter entzündete und ihr Gebetsbüchlein aufschlug, waren die meisten Fräulein so betrunken, dass sie sich sogleich, ganz oder halb bekleidet, in ihre Betten sinken ließen.
Als der Graf dem Meier seine Tochter zurückbrachte, waren nur noch die Ritter im Saal – mit einigen Mägden und manch liederlichen Weibern aus der Stadt, die bei jedem Fest zur späten Stunde den Weg auf die Burg fanden und am Morgen um ein paar Münzen reicher den schmalen Pfad zurückstolperten.
Es war kurz nach Mitternacht, und die Tore waren seit Stunden schon geschlossen, als eine kleine Gruppe Männer und Weiber den Wächter am Südtor baten, sie hinauszulassen. Er wunderte sich darüber, dass jemand nachts die schützenden Mauern einer Stadt verlassen wollte, doch ein Beutel mit Münzen überzeugte ihn, nicht darüber nachzudenken und auch keine Fragen zu stellen. Vorsichtig sah der Bürgersmann sich um, ehe er die kleine Pforte entriegelte. Die Spielleute und Gaukler schlüpften schweigend hinaus und verschwanden in der Nacht.
Im Schatten verborgen stand ein junger Mann, der den ganzen Weg von der Burg herab den Spielleuten gefolgt war. Nun trat er unschlüssig von einem Fuß auf den anderen und starrte auf die geschlossene Pforte. Er sah den Wächter auf und ab gehen, beinahe eine Ewigkeit. Dann trat eine dunkle Gestalt zu dem Mann am Tor, der ihn beinahe um einen Kopf überragte. Endlich entfernten sich die beiden. Einen Augenblick verharrte der nächtliche Lauscher noch. Es war niemand zu sehen, also fasste er sich ein Herz, lief mit ein paar großen Sätzen zur Pforte und tastete suchend über Riegel und Schloss. Eine schwere Hand legte sich auf die Schulter des Jünglings. Erschrocken fuhr er zusammen, wollte sich umdrehen, doch ein eisenstarker Griff hielt ihn fest.
»Was hast du hier zu suchen?«, knurrte ihn der Hüne an.
»Ich wollte doch nur, ich –«
»Spar dir deine Lügen bis morgen auf. Dann kannst du sie dem Grafen auftischen.«
Es half kein Betteln und kein Flehen, der Wächter schleppte den Jüngling zum Turm und stieß ihn in eine stinkende, finstere Zelle. Krachend schloss sich die Tür hinter ihm.
Der Hauptmann räusperte sich zweimal, ehe der Graf aufsah. Das Gesicht gerötet, die Augen blutunterlaufen, sah er nicht gerade aus, als wolle er sich zu dieser Nachtzeit mit einem unverschämten Strolch befassen.
»Herr Graf, ich weiß nicht genau, wie wichtig es ist, aber ich glaube, es ist dringend, denn es war so –«, hilflos brach er ab.
Albert von Hohenberg stöhnte und rieb sich den Kopf, in dem sich alles zu drehen begann. Nur durch dichten Nebel erkannte er den Hauptmann der Stadtwachen, doch eines war ihm klar, dass das eine große Unverschämtheit von diesem war, ihn nach einem Fest noch vor dem Morgengrauen, in trunkenem Zustand und todmüde, wie er war, zu stören.
»Also, was gibt es«, seufzte der Graf und rutschte ein wenig tiefer in seinen Lehnstuhl.
»Da kam heute Abend einer aus den Wäldern und wollte eine wichtige Botschaft an Euch verkaufen. Er weigerte sich, sie mir zu geben. Euch persönlich wollte er sprechen. Nun, da wir Euch bei Eurem Fest nicht stören wollten, haben wir den Kerl eine Weile eingesperrt. So schnell konnten wir ihn aber nicht weich bekommen. Immerhin war es möglich, ihm einen versiegelten Brief abzunehmen. Als ich das Siegel sah, habe ich die Geschichte aus ihm herausgeprügelt.«
In kurzen Worten berichtete er von dem Boten und dem Überfall und reichte dem Grafen, der inzwischen kerzengerade in seinem Lehnstuhl saß, das Schreiben. Mit dem Zeigefinger strich er über das wohl bekannte Siegel, brach es und faltete das blutbefleckte Pergament auseinander. Seine Augen wanderten über die Zeilen, folgten den weit ausladenden Bögen und Schlingen über Unebenheiten und kleine Kleckse hinweg. Der Graf war mit einem Mal hellwach und nüchtern. Er sprang auf die Beine, knallte das Schreiben auf den Tisch, brüllte den Hauptmann an, er möge sich nicht vom Fleck rühren, und rannte hinaus. Sein vor wenigen Minuten noch schwankender Schritt war nun sicher und fest. Zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte er die Treppe zu den Frauengemächern hoch und riss die Tür zum Schlafraum der Edeldamen auf. Eine Fackel in der Hand, stürmte er an den Schlafnischen vorbei, in denen erschreckt und schlaftrunken die Frauen kreischend auffuhren. Ganz hinten entdeckte er die Wehrsteintochter mit dem dicken Edelfräulein von Weitingen in einem Bett. Wie ein Dämon aus tiefster Hölle stürmte er auf sie zu, griff nach ihrem Handgelenk und zerrte sie aus dem Bett.
»Folgt mir!«, fauchte er das verdutzte Mädchen an, das splitternackt vor ihm stand, das gelöste blonde Haar fiel ihr bis zu den Hüften.
»Kann ich mir erst etwas überziehen?«, fragte sie zitternd und griff nach ihrem Hemd.
Er gab ihre Hand frei und wartete ungeduldig, bis sie sich das Hemd über den Kopf gestreift und den Mantel um die Schultern gelegt hatte. Dann verließ er mit großen Schritten den Raum. Völlig eingeschüchtert und verwirrt, wagte Tilia nicht, auch noch Beinlinge und Schuhe anzuziehen, sondern tappte ihm barfuß durch die kalten Gänge hinterher. Der Boden war eisig. Sie zermarterte sich den Kopf, was dies zu bedeuten hatte, konnte jedoch nichts in ihrem Gedächtnis finden, das diesen nächtlichen Überfall ausgelöst haben könnte.
Er führte sie in sein Gemach, wo der Hauptmann immer noch wartete. Mit dem Finger tippte Albert auf das Pergament.
»Könnt Ihr lesen?«
Sie nickte, trat näher und begann, die einzelnen Worte zu entziffern. Tilia erbleichte. Ihre Hände begannen zu zittern. Wortlos starrte sie den Grafen mit großen Augen an. Seine kräftigen Hände legten sich um die Schultern des Mädchens und schüttelten sie, dass ihr die Zähne aufeinanderschlugen.
»Warum seid Ihr gekommen? Was habt Ihr vor? Antwortet!«, brüllte der Graf in höchstem Zorn.
»Ich weiß es nicht!«, jammerte die Wehrsteintochter verzweifelt. »Ich hatte davon keine Ahnung. Wir haben ohne meines Vaters Anweisung hier Quartier genommen. Er dachte sicher, wir reisen direkt bis in zollerisches Land.«
»Ich glaube Euch kein Wort«, schrie der Graf und schlug ihr ins Gesicht, dass sie taumelte. »Was haben die württembergischen Hunde geplant? Wann werden sie angreifen?«
Weinend sank sie auf den kalten Boden. In was für eine Situation hatte sie sich und die anderen gebracht! Wie würde sie da wieder herausfinden?
Der Graf griff nach Tilia, um sie wieder hochzuziehen, als draußen vom Hof her laute Stimmen und Schreie erklangen. Einer der Bürger, der heute Nacht Wachdienst hatte, kam mit einem Knecht des Grafen ins Zimmer gestürmt.
»Herr, die Stadt wird angegriffen. Die Württemberger liegen vor dem Nordtor, und von Süden her ist auch Geschrei zu hören.«
Mit einem Fauchen ließ der Hohenberger von Tilia ab. Er riss sein Kettenhemd aus der Truhe, band sich das Schwert um, griff nach dem Schild und schleuderte den Männern seine Befehle entgegen.
»Läutet die Sturmglocken, schickt den Männern an den Toren Verstärkung, alarmiert Graf Burkhard, schmeißt die Ritter aus ihren Betten und macht sie nüchtern. Gebt den Knechten Spieße aus und lasst alle Wehrgänge besetzen.«
Inzwischen hatten sie den Hof erreicht, auf dem ein wildes Durcheinander herrschte. Kaum einer hatte seine Sinne recht beisammen. Die meisten torkelten ziel- und planlos durcheinander. Graf Albert fluchte. Die Württemberger hatten sich eine verdammt gute Nacht ausgesucht.
Dumpf hallte der Donner durch die noch schlafende Stadt, als die Rammböcke gegen die Tore stießen. Von Norden und von Süden her versuchten die Württemberger und ihre Verbündeten, in die Stadt einzudringen. Nach und nach flammten in den Häusern Lichter auf. Die Männer griffen zu den Waffen. Nur spärlich bekleidet rannten sie zur Stadtmauer, jeder an seinen Platz. Als die Württemberger versuchten, die Mauern zu erklettern, stießen sie auf scharfe Schwerter und spitze Lanzen. Dennoch schafften es einige, in die Stadt zu gelangen. Ein furchtbares Durcheinander brach aus, denn nun waren in der finsteren Nacht Freund und Feind nicht zu unterscheiden. So mancher wurde von der eigenen Leute Hand niedergestreckt.
Die Württemberger merkten bald, dass die Tore nicht zu brechen waren. Sie hatten keine Sturmleitern dabei. Daher zogen sie sich aus dem Pfeilregen zurück, warteten, ob es einer schaffen würde, die Tore zu öffnen, doch die Zeit verstrich. Als der erste Silberstreif im Osten den Morgen verkündete und die Glocken der Klöster zur Laudes läuteten, zogen sich die Angreifer unverrichteter Dinge zurück.
Es war den beiden Grafen und den tapferen Bürgersleuten zu verdanken, dass die Stadt und ihre Bewohner noch einmal davonkamen. Die Ritter machten in diesem Spiel keine so gute Figur, und es gab einige, die aus diesem Rausch nicht mehr erwachten. Doch auch einige Knechte und Bürger lagen am anderen Morgen mit aufgeschlitzten Leibern oder abgetrennten Gliedern kalt in den Gassen.