Читать книгу Die Herrin der Burg / Das Siegel des Templers - Zwei Romane in einem Band - Ulrike Schweikert - Страница 22

KAPITEL 11

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Die zollerischen Mannen ritten schweigend durch den nicht enden wollenden Wald nach Osten. Sie hatten einen langen Ritt hinter sich und eine schlaflose Nacht, hatten sich dem Pfeilhagel der Haigerlocher ausgesetzt und nicht einen Gegner in Stücke hauen, geschweige denn einen Heller Beute in die Beutel schieben können. Dafür mussten sich einige der Ritter nun mit schmerzhaften Pfeilwunden quälen. Auch Eitelfriedrich, der älteste Grafensohn, blutete von einem Streifschuss an Wange und Hals. Sein jüngerer Bruder war der Einzige, der ab und zu den gleichmäßigen Hufschlag durchbrach, um laut und lästerlich zu fluchen. Sein jugendlicher Übermut war nicht für Niederlagen dieser Art geschaffen. Hart stieß er dem Ross im Zorn die Sporendorne in die Seite, dass dieses überrascht und voll Schmerz vorn aufstieg.

»Beherrsche dich«, fauchte ihn nun sein Bruder an und wischte sich mit einer ungeduldigen Bewegung das Blut aus dem Gesicht. »Und reite das Pferd nicht zuschanden!«

Die Augen des Jüngeren blitzten. Das war der willkommene Anlass, dem angestauten Ärger Luft zu machen. Er schimpfte und keifte, bis sich der Wald lichtete und die Burg Zollern auf ihrem kahlen Hügel vor ihnen aufragte.

Der alte Graf schritt unterdessen unruhig in seinem Gemach auf und ab. Immer wieder sah er zum Fenster hinaus, ob die Ritter nicht schon zu sehen seien.

»Heinrich ist nirgends zu finden.« Gret hob resignierend die Hände. »Es hat ihn heute Morgen auch noch niemand gesehen.«

Tilia schritt ungeduldig auf dem Hof auf und ab. Rüdger sattelte die Pferde und lud dem Esel die Kisten auf, doch nach wie vor fehlte von dem jungen Edelmann jede Spur. Die Kinder suchten sich ein sonniges Plätzchen und spielten mit des Hohenbergers jüngster Tochter Murmeln.

»Was kann nur mit ihm geschehen sein?«, jammerte Tilia. »Meinst du, er ist zu den Kämpfen in die Stadt runter und dort verletzt oder gar getötet worden?«

»Vielleicht liegt er noch irgendwo völlig betrunken und schläft«, schlug Gret vor. »Im Saal und in der Küche ist er jedenfalls nicht – und in den Ställen auch nicht, die hat Rüdger schon durchsucht.«

»Dann muss ich wohl den Grafen fragen«, seufzte Tilia entmutigt. Sie hatte gehofft, unauffällig abreisen zu können, denn nach ihrem nächtlichen Zusammentreffen mit dem erzürnten Hausherrn war ihr nicht nach einem weiteren intimen Gespräch zumute.

Unvermittelt trat des Grafen Sohn Albrecht zu ihnen und forderte das Edelfräulein von Wehrstein auf, ihm zu des Vaters Gemach zu folgen. Tilias Hände verkrampften sich. Sie brachte kein Wort heraus, nickte nur und folgte dem jungen Edelmann.

Gret verschränkte kopfschüttelnd die Arme. »Ich glaube, du kannst die Pferde noch einmal anbinden und die Kisten abladen«, sagte sie zu ihrem Gatten. »Das wird dauern!«

Graf Burkhard von Hohenberg hatte in dieser Nacht sein Lager nicht einmal von fern gesehen. Auch nachdem die Angreifer abgerückt waren, lief er unermüdlich von der neuen zur oberen Burg, zum Nordtor und dann zum Südtor, um zu erfahren, wie viele Tote und wie viele Verletzte der Angriff gefordert hatte. Außerdem sah er sich die in der Stadt gefallenen Männer des Württembergers an.

»Vier unserer Männer wurden von Pfeilen verletzt. Bei dem Hänslin vom Stadtmüller sieht’s übel aus, der Pfeil ist ihm ins Auge gedrungen, doch die anderen kommen wieder auf die Beine«, meldete Walger, der diese Nacht die Verantwortung für das Südtor gehabt hatte. »Bei uns jedenfalls ist keiner dieser zollerischen Hunde über die Mauer gekommen!«, fügte der Hüne stolz hinzu und trat einer Leiche, die vor dem Tor zurückgeblieben war, in die Seite. Graf Burkhard bückte sich und nahm dem Toten den Helm ab.

»Obwohl er dessen Farben trägt, ist er keiner der Ritter des alten Friedrich. Die kenne ich alle.« Er ließ den Blick über Waffen und Rüstung gleiten. »Eher einer der Edelknechte aus dem Süden der Grafschaft. Nehmt Euch, was Ihr haben wollt, und begrabt ihn dann mit den anderen. Ein christlicher Streiter hat auch ein christliches Begräbnis verdient.«

Sie schritten zum Tor zurück. Graf Burkhard untersuchte die Schäden, die der provisorische Rammbock angerichtet hatte. Grübelnd betrachtete er den vom Sturm abgeknickten Baumstamm, dann die mit Eisen beschlagenen Eichenbalken der Torflügel.

»Sie können nicht allen Ernstes vorgehabt haben, damit das Tor zu brechen. Ich halte nicht viel von den Zollern und von den Württembergern noch weniger, doch dumm sind sie nicht. Das sieht mir eher so aus, als hätten sie das noch halbherzig versucht, als ihr Plan fehlschlug. Doch was war ihr Plan? Hatten sie vor, die Mauern zu erklimmen und dann die Tore zu öffnen? Wurden sie zu früh entdeckt? Hatten sie Komplizen in der Stadt?«

In dem Durcheinander des Angriffs hatte der Wachmann den Jüngling ganz vergessen, der noch im Turm steckte. Doch nun fiel er ihm wieder ein. »Da war einer, den ich an der kleinen Pforte erwischt habe. Ich denke, er hat versucht, sie zu öffnen, um die Zollern einzulassen«, berichtete der Hüne im Plauderton.

»Bei allen Heiligen, und das meldet Ihr mir erst jetzt?«, brauste der Graf auf. »Wo ist der Kerl?«

»Hier im Turm. Ich führe ihn Euch sogleich vor, wenn Ihr wünscht.«

»Und ob ich das wünsche«, rief der Graf und schritt dem Wächter nach.

Heinrich von Husen hatte eine sehr unbequeme Nacht hinter sich. Nicht nur, dass das Verlies kalt und modrig, voller Ratten und sonstigem Ungeziefer war, die Ungewissheit, was draußen vorging, ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Gedämpft drangen die Geräusche eines Kampfes zu ihm. Er hörte das Geschrei von Verletzten und Sterbenden, doch wie es um die Stadt stand, konnte er nicht einmal erahnen. Furcht und Selbstvorwürfe, Scham und Reue wechselten sich ab. Wenn er an Tilia dachte, wurde ihm ganz jämmerlich zumute. Doch auch der Gedanke an seinen Vater, dem er Schande bereitet hatte, an den Wehrsteiner, dessen Auftrag er nun nicht mehr erfüllen konnte, und auch an das, was die Hohenberger nun mit ihm machen würden, ließen ihm die Knie weich werden. Am liebsten hätte er geweint, doch so tief wollte er nicht sinken. In einer Ecke, auf schimmeligem Stroh kauernd, biss er die Zähne zusammen und trat immer mal wieder nach den grauen Fellbündeln, wenn die Nager ihm zu nahe kamen.

Wie viele Stunden wohl vergangen waren? Ob es schon Tag war? Der Kampfeslärm war bereits vor langer Zeit verstummt. Hatten sie ihn vergessen? Wollten sie ihn hier drin einfach verschmachten lassen? Die Fragen drehten sich immer schneller in seinem Kopf, bis ihm ganz schwindelig davon wurde.

Schließlich musste er doch eingenickt sein, denn als er, von einem knarzenden Geräusch geweckt, verwirrt hochfuhr, waren plötzlich Schritte neben ihm, eine Hand packte ihn hart und schleifte ihn ins grelle Tageslicht. Heinrich musste eine Weile blinzeln, ehe er Graf Burkhard erkannte, der ihn ungläubig musterte.

»Heinrich von Husen, wenn ich mich recht erinnere.«

Der Jüngling nickte und verbeugte sich linkisch.

»Das war also der Zollern Plan. Ihr schleicht Euch mit der Wehrsteintochter hier ein und öffnet dann den Zollern die Pforte.« Fassungslos schüttelte er den Kopf.

»Lässt sich ein solcher Verrat mit der Ritterwürde verbinden? Aber Ihr seid ja noch kein Ritter, wie ich sehe!«

Diese verächtlichen Worte trafen den jungen Mann stärker als der unglaubliche Vorwurf.

»Ich wollte niemanden hereinlassen. Ich wusste nichts von dem geplanten Überfall. Ich bin nur den Spielleuten gefolgt, weil – nun ja, erst gefiel mir das junge Weib, und dann fand ich es verdächtig, dass sie mitten in der Nacht aufbrachen und jemand ihnen die Pforte öffnete –«

Der Graf gab dem Wächter einen Wink. Der Hüne ballte die Fäuste und schlug Heinrich kräftig in den Magen, so dass dieser mit einem Stöhnen zusammenbrach. An seinem Haarschopf zog er ihn wieder hoch und sorgte dann noch für eine geplatzte Lippe.

»Spart Euch Eure Lügen und erzählt mir die Wahrheit.« Der Graf zog sich einen Schemel heran.

»Es ist die Wahrheit. Als die Spielleute ihre Instrumente einpackten und hinausgingen, bin ich ihnen gefolgt. Ich wollte das schwarzhaarige Mädchen ansprechen, doch da merkte ich, dass sie all ihre Habe zusammenpackten und durch das Tor zur Stadt hinuntergingen. Ich wunderte mich, dass sie sich nicht in der Burg zum Schlafen legten, doch wie erstaunt war ich erst, als sie zum Stadttor gingen. Der Wächter öffnete ihnen die schmale Pforte und ließ sie hinaus.«

»Das ist eine Lüge!«, polterte Walger. »Dies war heute Nacht mein Tor, und niemand ist dort hinausgegangen!« Krachend traf die Faust Heinrichs Nase, die mit einem hässlichen Knirschen brach.

»Wir werden die Wahrheit schon aus dir herausprügeln«, drohte der Graf.

Walger nahm eine Peitsche von der Wand. Mit einem Ruck riss er Rock und Hemd des Jünglings entzwei, dann war nur noch das Klatschen des Peitschenriemens auf dem nackten Rücken und das Wimmern des Geschundenen zu hören. Ab und zu hielt der Wachmann inne, und der Graf wiederholte seine Frage, doch es war nichts Neues aus dem jungen von Husen herauszubekommen. Nach einer Weile gab es der Graf seufzend auf.

»Wir nehmen ihn mit zur Burg hoch. Ich muss mit Albert sprechen.«

Walger band dem Gefangenen die Hände und stieß noch allerlei Drohungen aus, was er ihm bei einem Fluchtversuch alles antun würde, doch Heinrich war zu sehr damit beschäftigt, einen Fuß vor den anderen zu setzen und dabei nicht vor Schmerzen zu schreien, um an Flucht überhaupt nur zu denken.

Der Grafensohn führte Tilia in das Gemach des Vaters, der hier mit seinem Bruder Burkhard, dem Wachmann Walger und dem jungen von Husen wartete. Das Mädchen ließ ängstlich den Blick über die Ritter schweifen, bis er an dem geschundenen Heinrich hängen blieb. Sie stieß einen Schrei aus und eilte zu ihm.

»Bei der Jungfrau Maria, wie ist das geschehen? In welchem Kampf wurdet Ihr so zugerichtet?«

Als sie seinen blutigen Rücken bemerkte, drehte sie sich mit einem Ruck zu den beiden Grafen um. Es war nicht das erste Mal, dass sie Peitschenstriemen zu Gesicht bekam. Sie war so erzürnt, dass sie die demütigende Szene der Nacht vergaß. Die Hände in die Hüften gestemmt, trat sie forsch auf Graf Albert zu.

»Was geht hier vor? Ich erwarte eine Erklärung!« Sie zeigte vorwurfsvoll auf den Wehrsteiner Gefolgsmann. »Ist das die Art, wie Ihr Eure Gäste behandelt, Graf Albert?« Ihr Ton ließ jede Höflichkeit vermissen.

»Das Gastrecht ist uns heilig, Jungfrau Tilia, es sei denn, es wird mit Verrat gedankt. Oder wie würdet Ihr das nennen, wenn jemand versucht, die Tore zu öffnen, um Angreifer in die Stadt zu lassen?« In des Grafen Stimme schwang eine ungeahnte Schärfe.

Stöhnend sank Tilia auf die Holzbank an der Wand und barg für einige Momente ihr Gesicht in den Händen, doch dann erhob sie sich wieder, straffte das Rückgrat und fragte Heinrich mit ruhiger, fester Stimme:

»Ist das wahr? Ist irgendetwas davon wahr?«

»Ich schwöre Euch, Jungfrau Tilia, ich habe keinen Verrat begangen. Ich habe ihnen erzählt, wie es sich zugetragen hat, aber sie glauben mir nicht. Und der Wachmann dort lügt, wenn er sagt, die Pforte sei vorher nicht geöffnet worden.«

Verständnislos runzelte Tilia die Stirn und sah den Grafen fragend an. Noch einmal erzählten Heinrich von Husen und der Wachmann Walger ihre Versionen der nächtlichen Ereignisse.

Graf Albert kaute nachdenklich auf seiner Lippe. »Nun, wenn man die Botschaft an den Wehrsteiner dazunimmt, dann sieht das schon nach einer Verschwörung aus, meint Ihr nicht, Fräulein Tilia?«

»Wenn der Vater die Botschaft bekommen hätte, vielleicht, doch der Bote wurde ja ermordet. Wie könnt Ihr einen ehrenwerten Ritter des Verrats bezichtigen, nur weil jemand versucht hat, ihn dazu aufzufordern?«

»Hütet Eure Zunge, Mädchen!«, rief Graf Burkhard und schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Nun, ganz Unrecht hat sie da nicht, doch wer sagt mir, dass dies das erste Schreiben dieser Art war?«

Tilia dachte an den schwarzen Ritter und an das, was der Vater vor ihrer Abreise mit ihr besprochen hatte. Sie errötete.

»Dann lasst die Spielleute suchen.«

»Pah«, wischte Burkhard von Hohenberg den Vorschlag beiseite. »Wer glaubt schon diesem ehrlosen Gesindel. Außerdem sind sie wer weiß wohin gezogen. Gib mir ein wenig Zeit, und ich werde die Wahrheit schon aus ihm herausprügeln.«

Heinrich schrie gequält auf: »Aber ich habe doch die Wahrheit gesagt!«

Graf Albert brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Lieber Bruder, ich glaube dir gern, dass du deine Methoden hast, Geständnisse zu erlangen, doch mich würde interessieren, wie es in der letzten Nacht zugegangen ist.«

Wenn Graf Burkhard gekränkt war, dann ließ er es sich zumindest nicht anmerken. »Und was schlägst du vor?«

»Dass der junge Herr von Husen noch eine Weile hier in einer der Kerkerzellen Quartier bezieht, und das Fräulein mit seinen Begleitern die Burg nicht verlässt, bis ich mehr erfahren habe.«

Damit war für ihn die Zusammenkunft beendet. Unter vier Augen besprach er sich mit seinem Vertrauten, Ritter Volkhard von Ow, der sich sogleich in die Stadt aufmachte, um Erkundigungen einzuziehen.

Quälend langsam wanderte die Sonne über den blauen Frühlingshimmel. Während die beiden Mädchen ihre Freundschaft mit der Hohenbergtochter vertieften, schritt Tilia wie ein gefangenes Tier ungeduldig im Hof auf und ab.

Gret flickte schweigend eines von Dorotheas Hemden. Rüdger war nirgends zu sehen.

»Kannst du endlich mit der Herumrennerei aufhören und dich zu mir setzen?«, fragte Gret nach einer Weile, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen.

»Kann ich nicht. Ich bin aufgeregt. Du weißt wohl nicht, was auf dem Spiel steht, nicht nur für Heinrich!«

Nun ließ Gret das Flickzeug doch sinken. »Ich bin unfrei, aber nicht hirnlos! Und ich bin auch nicht in einer von der Welt abgeschlossenen Klause aufgewachsen. Diese kleine Dummheit kann nicht nur dein Leben oder das des von Husen zerstören«, anklagend zeigte sie auf die beiden spielenden Mädchen. »Wenn der Graf bei seiner Überzeugung bleibt, dass es Verrat war, dann ist auch ihr Leben verwirkt.«

Nun blieb Tilia doch stehen. »Du sagst das so, als würde ich Schuld daran tragen.« Die beiden Frauen sahen einander in die Augen. Trotzig hielt Gret dem Blick stand.

»Antworte mir!«, fauchte Tilia.

»Wenn wir nicht nach Haigerloch gekommen wären, dann hätte das nicht passieren können«, sagte Gret schlicht und begann wieder zu nähen.

»Ich bin dir keine Rechenschaft darüber schuldig, wo wir wann auf unserer Reise eine Rast einlegen«, schmollte die Ritterstochter und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Nein, mir nicht, denn ich bin nur eine unfreie Magd.« Gret sah Tilia an. »Aber deiner Familie gegenüber bist du es schon. Was hast du dir dabei gedacht, nachdem der Zoller mit deinem Vater irgendwelche Abmachungen getroffen hat? Willst du gegen ihn spielen? Wie willst du Graf Friedrich erklären, dass du dem Hohenberger auf dem Weg zu ihm noch einen Besuch abgestattet hast?«

»Seit wann verstehst du etwas von Politik!«, schnappte Tilia, ziemlich in die Enge gedrängt.

»Ich habe nicht gesagt, dass ich etwas davon verstehe. Ich beobachte nur, was geschieht, und ich bezweifle, dass du Bescheid weißt, was hier eigentlich vor sich geht.«

»Mein Vater hat mit mir darüber gesprochen!«

Gret seufzte tief. »Dennoch bin ich mir sicher, er wollte nicht, dass du nach Haigerloch kommst. Egal, ob er nun von dem geplanten Überfall wusste oder nicht.«

In ihrem Zorn hob Tilia drohend die Hand. »Hüte deine Zunge! Du vergisst dich.« Zitternd, mit glühend roten Flecken auf den Wangen, drehte sich die Wehrsteinerin um und stürmte davon. »Nein, ich vergesse mich nicht«, murmelte Gret wehmütig. »Wie sollte ich je Gelegenheit finden, zu vergessen, was ich bin.«

»Es gibt da ein Weib, das behauptet, in der Nacht noch vor dem Überfall bei Walger gelegen zu haben, oben im Stübchen des unteren Turms.«

Graf Albert von Hohenberg sah den Ritter von Ow an. »Was für ein Weib? Sagt sie die Wahrheit?«

»Es ist die Witwe des Schneiders Langnas. Ich glaube schon, dass das stimmt. Ein Nachbar bestätigt, dass sie, als die Sturmglocken läuteten – die Kleider in arger Unordnung –, nach Hause eilte.«

Graf Albert schüttelte langsam den Kopf. »Ich möchte nicht wissen, wie Ihr an diese Nachricht kommt. Freiwillig ist sie sicher nicht zu Euch gelaufen, doch wenn das wahr ist, dann hätte sehr wohl jemand das Türlein öffnen können. Jemand, der einen Schlüssel hat …«

»… oder der während des Schäferstündchens Walgers Schlüssel entwendet hat. Vielleicht hat jemand die Witwe zu ihm geschickt?«, gab der von Ow zu bedenken.

»Ihr meint, der von Husen hat die Witwe geschickt, den Schlüssel gestohlen und wollte dann das Tor öffnen, um die Zoller einzulassen?« Graf Albert war noch nicht so recht überzeugt. Er war inzwischen auch nicht müßig gewesen und hatte einige Dinge erfahren, die ihn sehr nachdenklich stimmten.

»Nein, ich fürchte, wir müssen den Verräter in unseren eigenen Reihen suchen, denn eines steht fest: Die Spielleute wurden von niemandem während oder nach dem Überfall gesehen, und der von Husen hatte, nach Walgers Worten, keinen Schlüssel vom Tor, als er ihn ergriff.«

Unruhig begann der Graf auf und ab zu laufen. »Nehmen wir an, die Pforte wurde heute Nacht wirklich geöffnet. Dann bleibt noch die Frage, von wem und wie viel wusste er. Vielleicht hat jemand für Walger die Wache übernommen und dann für ein paar Münzen die Spielleute hinausgelassen. Der Zoller, der darauf hätte warten sollen, muss sich verspätet haben …«

»Dann müssen aber die Gaukler von dem Überfall gewusst haben«, warf der Ritter von Ow ein.

»Ja, davon gehe ich aus«, nickte der Graf. »Warum sonst hätten sie in tiefster Nacht die Stadt verlassen sollen?«

Schweigend kaute er eine Weile auf seiner Unterlippe. »Bringt mir den jungen von Husen her, ich möchte mich allein mit ihm unterhalten.«

Als er den skeptischen Blick seines Vertrauten sah, lächelte er. »Ihr könnt ja vor der Tür warten und auf mein Leben Acht geben.«

Trude nutzte die Zeit, die die Grafentochter mit ihren Damen in der zollerischen Hauskapelle betete. Verstohlen sah sich die Kinderfrau um und erklomm dann die Treppe zu den Frauengemächern. Wie erwartet war niemand zu sehen. Flinker, als man es ihr in ihrem Alter zugetraut hätte, schlüpfte sie in die Kemenate. Einige Augenblicke blieb sie stehen, stützte die Hände in die Hüften und sah sich in dem prachtvollen Gemach um, als sehe sie dieses zum ersten Mal. Nach was sollte sie suchen? Was könnte ihr einen Hinweis, eine Antwort auf die seit Wochen drängende Frage geben? Ihre Hände begannen die Truhen zu durchwühlen, tasteten unter den Kissen, unter der Matratze, drehten die Krüge auf dem Wandbord um – nichts. Enttäuscht schob sie die Unterlippe vor. Was hatte sie zu finden gehofft? So genau wusste sie das selbst nicht. Irgendetwas, das die seltsame Veränderung erklären konnte, die in den letzten Wochen mit der Grafentochter vor sich gegangen war.

Wann hatte es angefangen? Die alte Kinderfrau grübelte. Als die Gräfin sich ins Kloster zurückzog? Nein, erst einige Zeit später. Der Abschied von der Mutter konnte nicht der Grund sein. Am Anfang hatte sich Williburgis zwar allein und mit der Führung der Burg überfordert gefühlt, doch die enge Vertrautheit zu ihrer Kinderfrau war erst später geschwunden. Es war, als habe sie eine hohe Mauer um ihr Herz gezogen, damit niemand hineinsehen konnte. Noch immer fühlte sich die alte Kinderfrau gekränkt, dass sie nachts aus der Kemenate gewiesen wurde. Hatte sie nicht fast ihr ganzes Leben lang bei einer der gräflichen Damen geschlafen? Erst zu Füßen ihrer Herrin Udelhild von Dillingen, selbst als diese schon lange den Grafen geehelicht hatte, und dann später bei deren Töchtern. Die Gräfin hatte sie nie hinausgewiesen, selbst dann nicht, wenn der Graf sie nachts besuchte. Was war nur mit der jüngsten Tochter geschehen? Alle Fragen wies sie stets kühl zurück.

Die Kinderfrau ließ sich auf die weiche Matratze sinken. Es muss ein Mann dahinterstecken, dachte sie. Ich habe in meinem Leben schon viele verliebte Mädchen gesehen, doch Williburgis scheint mir’s nicht zu sein. Sie wirkt zerrissen und niedergedrückt. Geht ständig in die Kapelle, um zu beten. Drückt sie die Sünde, einem Mann nachgegeben zu haben, so sehr? Hat ihr gar einer der Ritter Gewalt angetan?

Die Kinderfrau legte die Stirn in Falten. Aber warum durfte sie dann nicht in der Kemenate bleiben? Wäre das nicht ein Schutz gegen ungewollte Eindringlinge? Also geschah es doch nach Williburgis’ Willen.

Die Kinderfrau konnte nicht umhin, sie musste den Mut des Ritters bewundern, der es wagte, den Frauentrakt zu betreten, selbst wenn die Grafentochter den nächtlichen Besucher ermunterte. Würde er vom Grafen oder einem seiner Söhne entdeckt, hätte er ein weitaus schlimmeres Schicksal denn den Tod durch ein Schwert zu erwarten.

Die alten, faltigen Hände tasteten etwas Hartes unter der Bettdecke. Neugierig zog es die Kinderfrau hervor und starrte dann erstaunt auf eine verschlissene, schmuddelige Puppe. Die Farben des geschnitzten Kopfes waren verblasst, die Nähte des mit Stroh gefüllten Körpers platzten bereits an einigen Stellen auf. Verwirrt schüttelte die Alte den Kopf. Wo sie das alte Ding wohl ausgegraben hat? Sie seufzte.

Ach, ich erinnere mich noch genau. Der Oheim hat damals den Puppenkopf geschnitzt, ich den Körper genäht und ein feines Kleid mit bunt bestickten Ärmeln dazu.

Sie bemerkte nicht die Schritte im Gang, nicht das Öffnen der Tür. Erst die kalte Stimme der Grafentochter riss sie aus ihrer Träumerei.

»Statt hier in der Kemenate meine Sachen zu durchwühlen, solltest du lieber in die Kapelle gehen und um Vergebung für deine Sünden beten!«

Die Kinderfrau fuhr hoch und ließ die Puppe wieder unter der Bettdecke verschwinden.

»Ich wollte nicht, ich meine, es war nur, dass ich nach dem Feuer sehen wollte und …«

Die Grafentochter unterbrach sie. »Ich habe es ernst gemeint. Du gehst jetzt hinunter in die Kapelle und wirst auf Knien um Vergebung für deine Sünden bitten. Dann wirst du für das Heil unserer Familie beten, bis die Sonne untergeht. Ich werde ab und zu nach dir sehen!«

Der Gedanke, ihre rheumageplagten Knie stundenlang auf dem kalten Stein zu beugen, entlockte der Alten ein Stöhnen, doch sie wagte nicht zu widersprechen und schlurfte, ohne ein Wort zu sagen, hinaus.

»Trade«, folgte ihr die Stimme der Grafentochter. »Wenn so etwas noch einmal vorkommt, dann lasse ich dich im Hof vor all den Rittern auspeitschen!«

Die rohe Drohung schmerzte die alte Frau mehr, als ein Peitschenriemen auf nackter Haut es je könnte.

»Habe ich dich nicht jahrein, jahraus auf meinen Knien gewiegt? Dich getröstet und mit dir gelacht? Mit dir gesungen und gespielt?«, murmelte sie vor sich hin, als sie zur Kapelle hinüberhinkte. »Was ist nur mit dir geschehen, Williburgis?«

Unter Schmerzen ließ sie sich schwerfällig auf die Knie sinken, erhob die Hände zum Gebet, doch ihre Gedanken schweiften immer wieder ab.

Vielleicht trifft sie sich ja woanders mit ihm? Dann will sie nicht, dass ich merke, wie sie nachts den Palas verlässt. Doch wer konnte der Mann sein, dem die Grafentochter ihre Gunst gewährte? In Gedanken ließ die Kinderfrau alle Ritter der Burg vor ihrem Auge passieren, doch keinen schien die Grafentochter den anderen vorzuziehen.

Ich werde es herausbekommen, schwor sie sich. Und dann muss ich mit ihr ein ernstes Wort reden. Sie dachte lieber nicht darüber nach, wie groß die Chance war, dass die Grafentochter auf die Ratschläge ihrer alten Kinderfrau hören würde.

Die Herrin der Burg / Das Siegel des Templers - Zwei Romane in einem Band

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