Читать книгу Junger Wilder - Urb Sinclair - Страница 13
1. Traum: Der Blick im Hinterkopf
ОглавлениеIch liege in meinem Bett auf dem Rücken. Den Blick dabei starr auf die Decke gerichtet. So betrachte ich die weiss getünchte Decke über mir. Aber da ist neben der weissen Fläche an der Zimmerdecke noch etwas anderes das mir auffällt.
Neben dem Weiss sehe ich etwas Dunkles, nein, eigentlich ist es eher etwas abgrundtief Schwarzes, das ich sehe. Als wäre es direkt nebeneinander.
Es kommt mir vor, als wäre meine Sicht wie ein zweispuriger Filmstreifen, der zwei vollkommen verschiedene Filme auf derselben Leinwand zeigt. Ein unheimliches, ja beinahe beängstigendes Gefühl überkommt mich plötzlich. Ich richte mich auf.
Nun sitze ich mit der Bettdecke über den Knien aufrecht auf der Matratze. Am Fussende des Bettes sehe ich auf das Bild von Kurt Cobain, das vor mir an der Wand hängt. Es zeigt ihn mit der Gitarre in der Hand, in einer nachdenklichen Haltung.
Aber ich sehe nicht nur Kurt. Nein, da sehe ich auch meine Büchersammlung. Aneinander gereiht stehen sie in Reih und Glied auf dem Bücherregal das sich der Wand nach um das Bett zieht.
Ich sehe die Werke einiger meiner Lieblingsautoren wie Dürrenmatt, Frisch, Hesse sowie andere Bücher. Verwirrt hebe ich meine Beine aus dem Bett und sitze nun auf der Bettkante.
Ich stehe auf, gehe durch die Räume und trete vor die Wohnungstüre. Vor mir zeigen sich die knorrigen, abgetretenen Stufen der Treppe mit dem schön geschnitzten Handlauf des Holzgeländers.
Hinter mir sehe ich die weisse, schwere Türe ins Schloss fallen. Das zuschlagende Geräusch der Türe bleibt aus. Auch die sonst knarrenden Töne beim gehen auf der Holztreppe nehme ich nicht war.
Draussen auf der Gasse angekommen, sehe ich die Strasse entlang. Da meine Sicht ja auch nach hinten im Rücken ausgerichtet ist, reicht mir ein kurzer Blick in die eine Richtung.
Ich merke, dass ich fast nichts am Leibe trage. Den Leuten auf den Strassen scheint dies aber gar nicht erst aufzufallen. Ich gehe den Gehsteig entlang, in Richtung Limmatquai.
Da stehe ich plötzlich in Mitten von umherirrenden Menschen. Gesichter, die ausdruckslos an mir vorbei ziehen. Unbekannte. Um mich herum; auf allen Seiten. Der Mensch in der Masse. Kopflos, gedankenlos und mit den Sinnesreizen völlig überfordert. Hin und her gerissen. Die Masse, sie ist der Tod jedes Individuums. Ich sehe sie kumuliert vor und hinter mir.
Ich gehe weiter, immer in zwei Richtungen sehend. Vorbei am Hechtplatz, vorbei am Café Odeon.
Vorne am Bellevue kommt jemand aus einer Nebenstrasse auf mich zu. In den Händen hält er mein Skateboard. Von irgendwo kenne ich den Typen in meinem Alter. Kaum halte ich mein Street-Skate in den Händen, ist er auch schon wieder weg. Geschluckt von der Masse namenloser Seelen.
Vor dem Kino ‚Corso’ stehen junge Menschen in Gruppen die auf den Beginn eines Filmes warten. Ich gehe durch sie hindurch.
Wenn mein Bruder Ritschi jetzt bei mir wäre, würde er sagen: „Hey, schau dir mal diese jungen Gelackten an, die auf ihre gestylten Tussen warten...“ Ich lasse diese jungen Gelackten hinter mir und gehe weiter.
Am Kiosk will ich irgendetwas kaufen. Ich stehe an der Verkaufstheke. Vor mir die grosse Auswahl vieler kleiner, bunter Ware zum Verkauf auf der Standtheke. Hinter dieser Verkaufstheke die Standverkäuferin.
Ich stehe da, vor mir die Verkäuferin mit ihrer Verkaufsware, hinter mir die Strasse mit den glänzenden Fahrschienen der Strassenbahn und der anschliessenden, grossen Sechseläutenwiese gegen den See.
Wie aus dem Nichts fährt hinter mir über die breite Theaterstrasse ein blaue Strassenbahn mit offenen, schwarzen Bogengardinen in den Fenstern durch. An dessen hintersten Bahnwagen sehe ich ein Krankenbett auf Räder mit einem Seilstrick an der Kupplung festgebunden.
Auf dem Krankenbett sitzt in einen weissen Kittel gekleidet und in aufrechter Position meine arme, kleine Schwester Sarah. Hilflos und verzweifelt wird sie für die zahlreichen Menschen auf ihrem Krankenbett auf der Strasse zur Schau gestellt.
Sie lässt sich wie an das Bett gefesselt hinter dieser Strassenbahn mit den schönen, samtig schwarzen Bogengardinen in Richtung Bellevue mitziehen. Obwohl ich sie hinter mir gesehen habe, bleibe ich wie angewurzelt stehen.
Die Standverkäuferin streckt ihren Arm mit der offenen Hand aus, nach Geld verlangend. Ich greife, nach Geld suchend, mit beiden Händen tief in meine Hosentaschen. Ich ziehe beide Hände wieder aus den Taschen. Aber statt Geld, habe ich etwas anderes in den Händen.
Es ist Sand. Feiner, weisser Sand, der mir durch die Finger rinnt. Ich lasse den Sand in die Hände der Frau am Kiosk rieseln. War es die Zeit, die mir entfloh?
Meine kleine Schwester Sarah war mittlerweilen auf ihrem Krankenbett schon am Bellevueplatz vorbei gefahren.
Mit meinem Skateboard unter den Füssen gleite ich auf der breiten Strasse hinter ihr her. Plötzlich wird mir bewusst, dass alle Leute die mich vorher gar nicht wahrgenommen haben, sich nach mir umdrehen und mich anfeuern.
Ich skate auf der Strasse zwischen den Bahnschienen verzweifelt hinter meiner geliebten Schwester Sarah her. Die Menschenmasse feuert mich, so wie sie es an der Tour de Suisse bei den Radrennfahrern tun würden, wie verrückt von den Gehsteigen aus an.
Da die Strassenbahn schneller fährt als ich, verliere ich Sarah langsam aus den Augen. Verzweifelt versuche ich schneller zu fahren. Ich kämpfe mich an der johlenden und klatschenden Menschenmasse vorbei.
Plötzlich taucht hinter mir eine zweite Strassenbahn auf. Ich fahre noch schneller. Mit den Armen versuche ich in der Luft rudernd, das Gleichgewicht zu halten.
Das Skateboard verliert immer mehr an Stabilität. Ich habe das Gefühl, im nächsten Augenblick umzufallen. Aber statt umzufallen, nähert sich die Strassenbahn von hinten immer schneller an mich heran.
Der Bahnführer hat, in seiner Kabine sitzend, ein hämisches Lachen aufgesetzt. Auf einen Schlag erkenne ich Jeanettes Vater in der Führerkabine.
Von oben herab, schaut er, mit voller Verachtung und verzehrtem Lachen auf mich hernieder. Sein Gesicht und sein Lachen verzieht sich immer mehr zu einer wilden Fratze.
Nun hat auch die Bahn hinter mir die Form eines Ungeheuers angenommen.
Ich will schreien.
Ich kann es aber nicht. Auch die Strasse kann ich nicht verlassen.
Von der kleinen Sarah fehlt jede Spur.
Ich fuchtle verzweifelt wild mit den Armen um mich. Das Ungeheuer, dass die funkelnden Augen und das teuflische Lachen von Jeanettes Vater trägt, reisst den Rachen weit auf.
Ich spüre, wie mich diese schreckliche Kreatur verschlingen will. Ich spüre das schnaubende Verderben im Nacken. Ich kann förmlich den warmen, stinkenden Atem dieser wilden Bestie direkt im Nacken spüren. Diese mächtige Schwärze…
Erst jetzt falle ich. Ich falle rückwärts. Ich falle. Wie in einem unaufhörlichen Strudel drehend, falle ich in das Bodenlose... Mit weit aufgerissenen Augen und Mund in den schwarzen Schlund hinein.
‚Was ich ein Leben lang nicht begreifen werde,
ist die Rolle des Menschen auf dieser Erde.
Ist er da um zu zerstören oder... zum zerstören?!
Was ich nie im Leben begreifen werde,
ist die Rolle des Kindes auf dieser Erde.
Ist es da, um von den Erwachsenen zu lernen oder...
zu lernen?!
Was für ein Wahnsinn!?’