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2. Traum: Der Ruf der Freiheit - 1

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Am Morgen in der Früh. Ich stehe beim Central und schaue den Leuten zu, wie sie aus den Strassenbahnen ein und aus steigen.

Die reinste Hektik um mich herum. Fast alle haben die gleiche Absicht, so schnell wie möglich an ihre Arbeitsplätze zu kommen. Keiner dieser Passanten ist gut anzusprechen, da sie die Zeit drängt. Denn Zeit ist ja bekanntlich Geld in unserer Gesellschaft und Geld verschenkt man nicht gerne…

Der Tag ist grau um diese Uhrzeit. Grau, wie der Asphalt auf dem ich stehe. So grau wie die Luft zum Atmen im morgendlichen Nebel, der nur zäh und mühsam mit den wärmenden Strahlen der Sonne um diese Jahreszeit entflieht. Grau auch die Gesichter und die Gemüter der Leute um mich...

-Grau-

Grau in tausend Formen.

Es ist mein sehnlichster Wunsch, aus dieser Tristesse zu entfliehen. Hinein in eine Welt voller Farben. In eine Welt ohne Zwänge. Ohne die Zwänge dieser Gesellschaft, die an diesem Morgen um mich herum herrschen und beherrschen.

Ich möchte aus dieser Welt entfliehen. Ich möchte in eine andere Welt. In eine Welt, in der ich meinen natürlichen Trieben nachgehen kann. Eine, in der ich an beliebige Ecken pinkeln kann, wenn es mir passt. Ich möchte eine offene, ehrliche Welt ohne Grenzen.

Ich möchte eine Welt, wo man die Dinge mit gegenseitiger Liebe und Respekt bezahlt. Eine Welt in der das Wort ‚einsam’ nicht mehr vorkommt und eine, in der man keine Mauern mehr aufbauen, sondern sie nur noch einreissen kann.

‚Verdammt, ich möchte Frei sein…‘

Ein junger Knabe mit Hut löst sich aus der grauen Masse. Skurrilerweise kommt er mit einem Fritzstock direkt über die Schienen der Strassenbahn auf mich zugelaufen.

Unter dem rechten Arm trägt der Dreikäsehoch ein dickes, schweres Buch, das als einziges in dieser grauen Welt rot leuchtet. Denn auch der kleine Junge ist grau angezogen. Kleines, graues Jackett mit ebenso grauem Hut, darunter ein helles Hemdchen mit schwarzer Krawatte und dunkelgrauer Flanellhose.

Schon von weitem habe ich das Gefühl, dass ich in einem ständigen Augenkontakt mit dem Jungen getreten bin. Als er mit Hut und Anzug jetzt vor mir steht und seine niedlich kleine, runde Nickelbrille richtet, kommt er mir wie ein kleinwüchsiger Erwachsener vor.

Da er ein paar Köpfe kleiner ist als ich, fragt er mich zu mir aufschauend mit der Stimme eines Kindes: „Glaubst du an Gott? Glaubst du dass Jesus Christus unser Erlöser ist?“

Verdutzt stehe ich da und schaue ihn an, als hätte ich ihn nicht verstanden. Er wiederholt seine einfache Frage mit einem kindlichen Lächeln im Gesicht. Da ich eine solche Frage von einem kleinen Jungen nicht erwartet habe, betrachte ich ihn von oben herab sehr skeptisch.

Ich will den Mund öffnen und ihm eine Antwort auf seine gestellte Frage geben. Er kommt mir aber zuvor und hebt schnell seinen kleinen rechten Zeigefinger an seine fein geschnittenen Lippen.

Ein sanftes Lächeln legt sich über seine jungen Gesichtszüge und er spricht zu mir weiter: „Still! Sag es mir nicht, denn ich bin ein Unwissender. Nimm dieses Buch, es ist das ‚Wort Gottes’ und trage es in deinem Herzen. Es verhilft dir zu deiner Freiheit und es zeigt dir, deinen Sinn für die Gerechtigkeit in dieser Welt zu finden.“

Er nimmt es unter seinem linken Arm, mit dem am Fritzgriff eingehängten, schwarzen Gehstock hervor und überreicht es mir in einer feierlichen Haltung.

Ich nehme es in meine Hände.

Das Buch fühlt sich schwer und geschmeidig in der ledernen Einfassung an. Es bringt wohl ein unglaubliches Gewicht auf die Waage. Ich schätze es auf mehrere Kilo, dieses ‚Wort Gottes’.

‚Wie soll ich dieses schwere Buch bloss in meinem Herzen tragen?‘ schiesst es mir durch den Kopf.

Von dem grossen, roten Buch aufschauend, will ihn fragen, ob ich es für mich lesen soll. Der Knabe mit grauem Hut und runder Brille hat sich aber schon wieder in die vorbeiströmende, graue Menschenmasse eingegliedert und ist für mich schon unerreichbar weit weg.

Von der grauen Masse mit dem verschlungenen Knaben wende ich mich ab. Mit dem schweren, roten Buch unter meinem linken Arm schlage den Weg Richtung Limmatquai ein.

Im weitergehen komme ich ins Stutzen. Das rote Buch, das ich trage, wiegt nur noch etwa die Hälfte, vom anfänglichen Gewicht. Bei jedem erneuten Schritt den ich mache, habe ich das Gefühl, das Buch verliere an Gewicht.

Das Gehen fällt mir immer leichter. Ich werde immer schneller und nehme dabei einen lockeren Trab ein.

Mit dem schneller werden, merke ich, wie sich auch die Umgebung verändert. Die Welt um mich wird zusehends farbiger und alles, wirklich alles verliert immer mehr an Gewicht.

Es scheint mir gar, dass der Gewichtsverlust auf meinen eigenen Körper übergreift.

Befreit trabe ich die Strasse entlang.

Mit harmonischen Gefühlen laufe ich den Limmatquai hinauf, am Ufer des Flusses, immer weiter. Den immer stärker werdenden ‚Ruf der Freiheit’ in meinem Herzen verspürend, folge ich mit zunehmend reinerem Herzen dem Fluss der Liebe…

‚Wer lieben kann, der kann sich auch lösen.

Denn wahre Liebe besteht im Herzen und nicht in der Zeit.’

Junger Wilder

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