Читать книгу Gschwind - Урс Маннхарт - Страница 17

KAPITEL 9

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Dass er auch ohne Wecker kurz nach fünf erwacht, und zwar unabhängig davon, wann und in welchem Zustand er sich schlafen legt, ist für Rina, falls er sie richtig verstanden hat, nach wie vor unbegreiflich. Er könne es sich nicht leisten, mit dem Schlafen zu trödeln, hat er vor Jahren einmal scherzhaft eingeworfen, und diese stillen Randstunden am frühen Morgen und späten Abend, wenn alle anderen schlafen, zählen seit Studienzeiten zu seinen liebsten; er kann sich in diesen Stunden am besten konzentrieren. Gschwind versteht einfach nicht, wie Rina mit ihrer Tagesleistung zufrieden sein kann, wenn sie sich regelmäßig erlaubt, erst nach acht das Bett zu verlassen.

Nach drei Tassen Kaffee und 90 Minuten am Laptop verlässt Gschwind die Küche und geht die Treppe hoch in die erste Etage, wo er, bemüht, seine Rina nicht zu wecken, die hintersten Winkel seines begehbaren Kleiderschranks nach abgetragenen, landwirtschaftstauglichen Kleidern durchforstet. Kleider machen Leute, das hat er bereits während seines Studiums der Ökonomie begriffen; ein passendes Outfit gilt als wesentliche Voraussetzung des Erfolgs. Allerdings stößt er auf nichts als schicke Button-down-Hemden und dunkle Jacketts. Er fragt sich, ob es denn möglich sei, dass er inzwischen keine Klamotten mehr hat, in denen er sich halbwegs glaubhaft als Landwirt präsentieren könnte.

Die doch recht üble Situation mit Levin umwölkt seine Gedanken. Was Bernhard gestern alles von sich gegeben hat, ist Raubbau an seinen Nerven.

Gschwind ist sich sicher, es wäre richtig, diese Angelegenheit zu priorisieren. Er befürchtet, seine Rina werde ihn nicht dabei unterstützen, ihren aus der Reihe tanzenden Sohn zurück ans Gymnasium zu zwingen. Was er am Abend zuvor im Wintergarten von ihr vernommen hat, was sie über diese gewiss nur der Fantasie eines Journalisten entsprungenen 73 Prozent an durch Schweizer Konsum verursachter Umweltbelastung gesprochen hat, die angeblich im sogenannten Ausland anfallen, lässt ihn befürchten, sie könnte sich darauf einlassen, diesen idiotischen Brief zu unterschreiben, den die jazzverseuchten Nachbarn wahrscheinlich ökologisch korrekt ans Amt schicken wollen. Wie sehr ihn das stört, mag er sich lieber nicht eingestehen.

Ein Kleiderbügel gleitet ihm aus der Hand und fällt zu Boden; Gschwind befürchtet, seine Rina womöglich geweckt zu haben. Sie ist es gewohnt, ihn früh und lautlos aus dem Haus zu haben. Vor ein paar Monaten, als er ausnahmsweise mal bis kurz nach acht hinter seinem Laptop in der Küche gesessen hatte, machte sie ihm erstaunlich nachdrücklich klar, wie sehr sie das morgendliche Alleinsein schätze, um sanft vom Schlaf in die erste Meditation zu gleiten.

Pascal fühlt sich zu seiner Rina noch immer hingezogen, nur ihr zart und zärtlicher werdendes Vokabular befremdet ihn. Als er Rina vor wenigen Wochen während eines Telefonats mit einer Freundin von ihrem inneren Kind hat reden hören, musste er das Weite suchen.

Jetzt stellt er sich vor, wie ihn Rina, noch halb im Schlaf versunken, vom Schlafzimmer aus energisch bittet, doch leise zu sein. Spöttisch stellt sich Gschwind vor, sie könne ihm das nicht laut sagen, da jegliche Anstrengung sie energetisch aus der fragilen ayurvedischen Balance werfen würde.

Dass Pascal Rina gegenüber derzeit zu etwas bissigen Reaktionen neigt, hat auch damit zu tun, dass er das Gefühl hat, seine Frau schiebe bei ihrem Job als Denkmalpflegerin eine ruhige Kugel, während er selbst sich unter größter Anstrengung echten Herausforderungen stellt. Noch schwerer wiegt, dass sie ihn vor seiner Abreise nach Sambia gebeten hat, darauf zu achten, nicht zu viel zu arbeiten. Sie habe keine Lust, sagte sie mit entschieden ihre Aussage begleitender Handbewegung, ihn demnächst in einer Burnout-Klinik zu besuchen. Damit hat sie Pascal empfindlich verletzt, sodass er inzwischen manchmal denkt, sie glaube tatsächlich, eine Position, wie er sie erreicht hat, sei einfach zu halten.

Ein weiterer Grund seines Unmuts rührt aus der Irritation, dass Rina ihn nicht gefragt hat, was das am Beatenberg entdeckte Rapacitanium für Valnoya bedeutet. Sie hält sich einfach nicht auf dem Laufenden, liest keine Zeitung, hört kein Radio, hat keine News abonniert – wie sie derart informationslos durchs Leben gehen kann, ist Gschwind ein Rätsel. So spürt er auch keine Lust, ihr zu erzählen, dass er heute beweisen wird, Hillers’ Vertrauen auch tatsächlich zu verdienen.

Egal, in welcher Ecke er sucht: Gschwind findet keine Kleider, die sich eignen für einen Besuch bei einem Berglandwirt. Das Gartenhaus kommt ihm in den Sinn, der kleine Geräteschuppen und mit ihm der rostige Nagel, an dem für gewöhnlich eine karierte, verdreckte Jacke hängt.

Draußen empfängt ihn das Dämmerlicht eines Herbsttages, ein schwacher Wind bewegt sanft die alten Weiden, vom Ufer her dringt das Klatschen winziger Wellen an sein Ohr. Vom Innern des Bootshauses ist das ruhige Knarren der Taue zu hören, mit denen das alte Motorboot festgezurrt ist. Gschwind fragt sich, ob er bei der Renovierung des Bootshauses nicht auch gleich eine Heizung einbauen lassen sollte, da die Tropenhölzer, aus denen der Rum Runner gefertigt ist, empfindlich auf Temperaturschwankungen reagieren könnten.

Verträumt steht Gschwind vor seinem Bootshaus und stellt sich vor, wie Ruthenbeck neiderfüllt erblasst, wenn er mitansehen muss, wie sein Nachbar in einem umwerfenden Rum Runner über den See gleiten wird. Das Bild hält ihn für eine Weile gefangen, dann erinnert er sich, im Gartenhaus nach Klamotten suchen zu wollen. Er fragt sich, ob sie eigentlich noch immer einen Gärtner angestellt haben und wann er ihn zum letzten Mal gesehen hat. Dabei fällt ihm auf, dass er auch die Putzfrau schon lange nicht mehr gesehen hat. Er glaubt nicht, dass das an seinen Arbeitszeiten liegt. Allerdings machen Wohnräume und Garten immer einen tadellosen Eindruck auf ihn. Dass der Rasen vollkommen verdorrt ist, hat vielleicht nichts mit einem nachlässigen Gärtner, sondern mit dem landesweiten Verbot zu tun, Grünflächen zu bewässern.

Tatsächlich findet Pascal im Schuppen neben dem Bootshaus eine alte Gärtnerjacke und dunkelgrüne Gummistiefel. An Jacke und Stiefeln klebt trockene Erde; in der Jackentasche steckt eine rostige Gartenschere; Pascal findet das authentisch und zieht die Sachen an.

Er schließt den Reißverschluss der robusten Jacke, schaut an sich herab, findet, dass dies ziemlich gute Kleidung sei. Zu gut für einen Gärtner. Er wird Rina fragen, ob sie dem Gärtner nicht einen zu hohen Lohn bezahlen. Es ist ihr leider zuzutrauen, dass sie die Jacke extra für den Gärtner gekauft hat. Pascal hat nichts gegen Großzügigkeit, aber er findet, sie muss sich lohnen. Sie muss ein Investment sein, das irgendwann in einem Cashback resultiert.

Vor der Garage klopft er sich allen Dreck von der Jacke; er möchte den Tesla nicht schon wieder in die Innenraumreinigung geben müssen. An einem weißen, in der Garagenwand eingebauten Plastikkästchen tippt Pascal einen fünfstelligen Code ein, woraufhin sich surrend das breite Garagentor öffnet. Lieber wäre ihm, das Kästchen wäre in schlichtem Chromstahl gehalten, aber aus Gründen, die ihm jetzt fremd sind, hatte er es dem Handwerker damals durchgehen lassen, die Variante aus Plastik einzusetzen. Dennoch ist es ärgerlich: Statt die Sache vor Jahren mit einem einmaligen Aufpreis bezahlt zu haben, büßt er nun jedes Mal dafür mit der schmerzhaften Vorstellung, ein Kästchen aus Chromstahl wäre schöner.

Das Tor ist nun ganz geöffnet, in der Garage zeigt sich ansprechend indirekt beleuchtet sein Tesla QX mit der Obsidian-Black-Metallic-Lackierung und den schwarzen 22-Zoll-Onyx-Turbine-Felgen. Wenn Pascal den Wagen anschaut, kommt es vor, dass er sich fragt, ob das Fahrzeug vielleicht nicht doch ein Quäntchen zu klobig ausgefallen sei, ob er vielleicht doch das kleinere, schlankere Modell hätte wählen sollen. Der Eleganz wegen. Zu diesem kritischen Gedanken kann Pascal jeweils eine gesunde Distanz aufbauen, indem er sich daran erinnert, dass Autofahren mit Physik zu tun hat und bei einem Unfall ein schwererer Wagen deutlich sicherer ist. Zudem ruft er sich in Erinnerung, dass das kleinere Modell in der Regel von Leuten gefahren wird, die nicht halb so viel verdienen wie er.

Diesen auffallend schön lackierten Tesla hat sich Pascal in seinem letzten Jahr bei der Suissecom geleistet, im Januar, gleich nachdem der Vorjahresbonus auf seinem Konto eingetroffen war. Er bereut es nicht.

Seinen rechten Daumen hält Gschwind kurz ans Telefon, sein Fingerabdruck wird erkannt; die Fahrertür öffnet sich, die Lichter gehen an, Gschwind steigt ein. Zügig lässt er den schweren Wagen aus der Doppelgarage gleiten, schaltet die Klimaanlage ein, stellt das Radio an und reiht sich auf der kurvenreichen, dem Nordufer des Sees folgenden Straße in den dichten Morgenverkehr. Hin und wieder macht sich Pascal einen Spaß daraus, die Sensoren seines Hightechfahrzeuges zu testen, indem er den Wagen in den Kurven den zwischen Straßenrand und Uferböschung stehenden Leitplanken bedrohlich nahekommen lässt. Immer wieder erfüllt es ihn mit Genugtuung, wie flink der Wagen Alarm schlägt, wie schnell das 24-Zoll-Display auf eine Gefahr hinweist.

Auf der anderen Seite des Thunersees zeigt sich nun der Niesen majestätisch in den allerersten Sonnenstrahlen, der Gipfel des Berges ist noch ganz ohne Schnee. Gschwind muss an die ETH-Geologin Hollenstein denken, an deren Aussage, der wichtigste Rohstoff der Schweiz sei ihre intakte Natur. Gerne hätte er Hollenstein gefragt, auf wie viele Tausend Franken sie denn den Wert eines derart von der Sonne beleuchteten Niesens schätzt. Er weiß nicht, ob er das Radio ausschalten soll; er möchte sich nicht plötzlich anhören müssen, wie Hollenstein ihre dunkelgrünen Weisheiten verbreitet.

Für den Tesla hat er damals mit allen Extras und nach den über mehrere Tage sich hinziehenden Rabattverhandlungen 132.000 Franken hingeblättert. Das hält er für einen klar definierten Wert; insgesamt hat er dank seines Verhandlungsgeschicks 7990 Franken eingespart, eine Summe, die er so schnell nicht vergessen wird, und er hält es für ausgeschlossen, dass er woanders für so wenig Geld so viel Auto erhalten hätte.

Die Vorstellung aber, chinesische Touristen reisten nicht mehr in die Schweiz, wenn der Beatenberg durch eine größere Rapacitanium-Mine an Attraktion verliert, wie so mancher Verteidiger der unberührten Schweizer Natur es öffentlich verlauten lässt, ärgert ihn enorm. Der Beatenberg, denkt er, sei doch in China vollkommen unbekannt, und solange man das Jungfraujoch an seinem Platz und die Chinesen alles fotografieren ließe, was sie für sehenswert halten, erlitte der Tourismus keinerlei Beeinträchtigung. Wahrscheinlich ließe sich sogar aus einem Beatenberg, der sich einer Mine wegen von einem Berg in eine Mulde verwandelt, ein für Chinesen attraktives Urlaubsziel kreieren: Die Chinesen könnten sehen und fotografieren, wo und wie das berühmte helvetische Rapacitanium abgebaut wird. Und würden verblüfft feststellen, dass sich Rapacitanium gewinnen lässt, ohne ganze Talschaften zu zerstören.

Schon lange ärgert sich Gschwind über die raffinierte grüne Panikmache; jetzt ist mit ETH-Geologin Gabriela Hollenstein eine neue Wortführerin aufgetaucht. Er versteht nicht, weswegen sie Gehör findet; wer seinen Verstand gebraucht, müsste Gschwinds Meinung nach doch wissen, dass es in der Schweiz seit dem Mittelalter keine intakte Natur mehr gibt. Müsste wissen, dass Wilhelm Tell, um seine Armbrust zu bauen, einen Baum gefällt hat. Wissen, dass eine intakte Natur lediglich eine Frage des Marketings ist.

Das weiß, davon ist Gschwind überzeugt, auch Gabriela Hollenstein. Sie ist aber offenbar klug genug, vollkommen populistisch zu taktieren und aufzuheulen wie die militanten Tierschützer, sobald sie auch nur von weitem einen Jäger erspähen kann.

Je mehr Gschwind über all das nachdenkt, desto mehr reizt es ihn, mit dieser Gabriela Hollenstein ein öffentliches Streitgespräch zu führen. Wahrscheinlich hat diese Wortführerin der sogenannten intakten Natur China nie bereist und überhaupt keinen Begriff davon, was andere Nationen für das Wohl ihrer Wirtschaft herzugeben bereit sind.

Ungehalten über die steigende politische Macht seiner Widersacher, verliert Gschwind die Geduld mit dem Wagen vor ihm. Er sieht sehr wohl, dass die Mittellinie durchgezogen und der halbwegs gerade Abschnitt vor der nächsten Kurve sehr kurz ist, aber das führt nur dazu, dass er umso deutlicher meint, ein Überholmanöver stelle bei der Beschleunigung, die sein Tesla auf den Asphalt bringt, kein Problem dar.


Gschwind

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