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Doppeltes bzw. Triple-Mandat
ОглавлениеEng verknüpft mit diesem strukturellen Widerspruch hinsichtlich Handlungslogik aufgrund der Einbindung in bürokratische Organisationen ist die Problematik der Loyalitätsverpflichtung der Professionellen der Sozialen Arbeit. Insbesondere in den 1970er Jahren wird die Funktion der Sozialen Arbeit und die Ambivalenz öffentlich organisierte Hilfe kritisch diskutiert: Diese kann demnach nicht nur als Hilfe verstanden, sondern muss zugleich auch als Kontrollmechanismus gegenüber den Hilfesuchenden begriffen werden. Die Professionellen der Sozialen Arbeit werden als Träger eines sog. ›doppelten Mandates‹ gesehen: Sie sind einerseits den Anliegen und Interessen der Hilfesuchenden verpflichtet, andererseits ihrem Auftraggeber, dem Staat bzw. der Kommune (vgl. u. a. Gängler 2011:609). Nun erwartet die Gesellschaft, welche definiert, welche Hilfe Soziale Arbeit leisten soll, zusammen mit dieser Hilfe auch eine Anpassung der Hilfeempfänger an die herrschenden Normen (z. B. Bereitschaft zur eigenen Existenzsicherung), und von den Professionellen der Sozialen Arbeit eine Kontrolle dieser Anpassung und gegebenenfalls eine Disziplinierung der Klientinnen. So sind die Professionellen der Sozialen Arbeit angehalten, »ein stets gefährdetes Gleichgewicht zwischen den Rechtsansprüchen, Bedürfnissen und Interessen der Klienten einerseits und den jeweils verfolgten sozialen Kontrollinteressen seitens öffentlicher Steuerungsagenturen andererseits aufrecht zu erhalten« (Böhnisch/Lösch 1973:368). Professionelle der Sozialen Arbeit sind beiden Seiten verpflichtet: der Gesellschaft als Auftraggeber und den Klientinnen und ihrer Lebenswelt. Diese Loyalitätsbindung einerseits dem hilfesuchenden Individuum und andererseits der Gesellschaft gegenüber wird als widersprüchlich angesehen – Thiersch hat sie einmal als »kontrollierte Schizophrenie« bezeichnet (Thiersch 1986 zit. in Gängler 2011:620). Müller verweist auf die Notwendigkeit, dass Sozialarbeiterinnen ihre Kontroll- und Sanktionsfunktionen dem Klienten gegenüber transparent machen und die dadurch entstehende Begrenztheit des Hilfeangebots offenlegen (vgl. 1991:119). Einzig Oevermann sieht in dieser doppelten Loyalitätsbindung ein grundsätzliches Professionalisierungshindernis: Wenn die beiden unterschiedlichen und sich widersprechenden Funktionsfokusse gleichzeitig wahrgenommen werden müssen – Widerherstellung der Integrität der Klienten einerseits, Herstellung von Gerechtigkeit im Rahmen der Rechtspflege andererseits –, dann folge daraus ein »schier unlösbares Grundproblem für eine kohärente Professionalisierung« (vgl. Oevermann 2009:118 f.). Die meisten Autoren hingegen begreifen den aus der Doppelaufgabe von Hilfe und Kontrolle und aus der doppelten Loyalitätsbindung entstehenden Widerspruch als konstitutives Strukturmerkmal der Sozialen Arbeit, sie postulieren einen reflexiven Umgang damit in der alltäglichen Handlungspraxis sowie eine Integration der doppelten Orientierung in das professionelle Selbstverständnis (vgl. u. a. von Spiegel 2011:595; Heiner 2004b:38 f.; Gildemeister 1997:217; Bommes/Scherr 2000:44 ff.). Demnach müssen Sozialarbeiterinnen stets im Schnittfeld dieser konfligierenden Erwartungen arbeiten und damit kreativ umgehen können, indem sie den eigenen Handlungsspielraum ausloten und Handlungsmöglichkeiten inszenieren.
Studien zum beruflichen Selbstverständnis zeigen allerdings, dass viele Professionelle ihre Aufgabe als Hilfe, als Unterstützung und anwaltschaftliche Vertretung verstehen und Mühe bekunden mit dem disziplinierenden Aspekt der Kontrolle, dass sie den Kontrollauftrag tendenziell ablehnen (vgl. Kähler 2005:73 ff.) und das eigene Kontrollhandeln verdrängen. So stellt beispielsweise Urban (2004:205) fest, dass die von ihr befragten Sozialarbeiterinnen des Allgemeinen Sozialdienstes das eigene Tun auch dann als Hilfe bezeichnen, wenn offensichtliches Kontrollhandeln stattfindet. Eingriffe in Elternrechte beispielsweise werden nicht als Kontrolle der Eltern, sondern als Hilfe für die Kinder bezeichnet.
Auch in der theoretischen Debatte wird der Kontrollaspekt teilweise negiert oder aber positiv umgedeutet. In dem seit den 1990er Jahren diskutierten Dienstleistungstheorem, in dem Klientinnen als Kundinnen aufgefasst werden, die eine Dienstleistung der Sozialen Arbeit in Anspruch nehmen, werde der Kontrollaspekt negiert und der strukturelle Widerspruch tendenziell überdeckt, führt Urban aus (ebd.:206). Becker-Lenz/Müller (vgl. 2009:98 ff.) relativieren diesen potentiellen Widerspruch zwischen gesellschaftlichem Auftrag und individueller Hilfe, da die Inanspruchnahme von Hilfe immer nur auf Freiwilligkeit basieren könne, und die hilfeimmanenten Kontrollaspekte letztlich auch als Hilfe zu verstehen seien. Heiner (vgl. 2004b:32) plädiert demgegenüber für eine kreative intermediäre Funktion der Sozialen Arbeit: Die Wiederherstellung der autonomen Lebenspraxis der Klienten verlange nach einer Vermittlung zwischen System und Lebenswelt, Individuum und Gesellschaft ( Kap. 2.2.2). Die Bestimmung Sozialer Arbeit als intermediäre Instanz zwischen Individuum und Gesellschaft lasse eine positive Bewertung des gesellschaftlichen Mandates zu, so Heiner weiter. Möglicherweise werde dadurch allerdings das Verhältnis (zwischen Individuum und Gesellschaft) harmonisiert und die Widersprüchlichkeit der doppelten Loyalitätsbindung tendenziell überdeckt (vgl. ebd.:33).
Die Doppelfunktion von Hilfe und Kontrolle kann als unaufhebbare, der organisierten Hilfe der Sozialen Arbeit immanente Paradoxie professionellen Handelns gesehen werden. Das Spannungsfeld verschiedener Anforderungen und Loyalitätsverpflichtungen lässt sich ebenso wenig aufheben wie das handlungslogische Dilemma zwischen bürokratischem Rechtshandeln und individuell ausgerichtetem, lebensweltorientiertem und autonomieförderndem Unterstützungshandeln. Diese Widersprüche immer wieder fallbezogen neu zu reflektieren ist eine Anforderung an Professionelle der Sozialen Arbeit und zugleich ein Qualitätsmerkmal von Professionalität. So sind in jedem Fall die unterschiedlichen Erwartungen zu erfassen und kritisch zu beurteilen: ›Fallverstehen‹ ist die Basis für den Umgang mit dem Strukturproblem doppelter Loyalitätsbindung. Auf der Handlungsebene ist es unabdingbar, gegenüber Klienten den Kontrollauftrag transparent zu machen.
Die bisherigen Ausführungen machen deutlich, dass die Bezugnahme auf das professionelle Selbstverständnis und auf wissenschaftliches Wissen eine wichtige Orientierungshilfe ist für den Umgang mit der Doppelfunktion von Hilfe und Kontrolle. Staub-Bernasconi hat dies unter dem Begriff ›drittes Mandat‹ in den Diskurs eingebracht (vgl. 2007:12 f.). Das dritte Mandat ist dasjenige seitens der Profession. Es besteht aus zwei Komponenten: aus der wissenschaftlichen Fundierung ihre Methoden und den Handlungsleitlinien, die sich aus wissenschaftlichem Wissen ableiten lassen, sowie aus dem Ethikkodex, den sich die Profession unabhängig von externen Einflüssen selbst gibt ( Kap. 4.1.6.). Dieser »Weg vom beruflichen Doppel- zum professionellen Triplemandat« (ebd.:12) ist zugleich ein wichtiger Beitrag zur Professionalisierung der Sozialen Arbeit, ist doch die Bezugnahme auf wissenschaftliches Wissen ein wesentliches Merkmal eines professionellen Selbstverständnisses ( Kap. 2.2.3.).