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Notwendigkeit von Fallverstehen

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Das strukturelle Technologiedefizit kann nur durch einen fallspezifischen rekonstruktiven Zugang kompensiert werden. So umschreiben Dewe/Otto professionelles Handeln als personenbezogenes kommunikatives Handeln »auf der Basis und unter Anwendung eines relativ abstrakten, Laien nicht zugänglichen Sonderwissensbestandes sowie einer praktisch erworbenen hermeneutischen Fähigkeit der Rekonstruktion von Problemen defizitären Handlungssinns« (Dewe/Otto 2011:1139). Das Handeln sei typischerweise auf komplexe, prinzipiell als ganzheitlich zu betrachtende soziale Problemfälle bezogen, die sich wegen ihrer situativen Dichte, Kontextabhängigkeit und Spezifität nicht standardisieren lassen. Sie kennzeichnen dies als Strukturprinzip der ›Einheit von Wissensbasis und Fallverstehen‹ (vgl. ebd.). Aus der äußerst geringen Standardisierbarkeit des Handelns ergibt sich die Notwendigkeit für Professionelle, Theoriewissen und fallbezogenes Wissen aufeinander zu beziehen und Wissen in Handeln übersetzen zu können (vgl. u. a. Gildemeister 1992:313, Oevermann 1996:126, Gildemeister/Robert 1997:24). Diese ›widersprüchliche Einheit‹ von Orientierung an wissenschaftlichem Wissen und Erklären einerseits und Fallverstehen andererseits gilt als weiteres Strukturmerkmal der Sozialen Arbeit.

Die Problemlagen von Klientinnen der Sozialen Arbeit sind typischerweise komplex, Schwierigkeiten der Lebenssituation und -bewältigung zeigen sich individuell unterschiedlich. Sie können nur verstanden werden vor dem Hintergrund der Biografie und der Lebenslage eines Menschen bzw. einer Familie bzw. auch der Infrastruktur eines Stadtteils. Soziale Arbeit ist einem ganzheitlichen Zugang verpflichtet, der Menschen in ihren sozialen Bezügen und ihrer Lebenswelt sieht. Professionelles Handeln basiert darauf, dass diese komplexen Problemlagen und individuellen Schwierigkeiten erfasst, ›rekonstruiert‹ und ›verstanden‹ werden, damit fallbezogen eine hilfreiche, angemessene Unterstützung von Individuen, Gruppen oder auch Gemeinwesen möglich ist. Interventionen können sinnvollerweise also nur auf der Basis einer Diagnose konzipiert werden ( Kap. 10). Dennoch ist der Erfolg auch bei einem diagnosebasierten Vorgehen nicht garantiert. So verweist der Professionssoziologe Klatetzki auf die Tatsache, dass es auch keine eindeutige Koppelung zwischen Diagnose und Intervention gibt. Vielmehr müsse ein hypothetischer Zusammenhang zwischen Diagnose und Intervention hergestellt werden bzw. brauche es mehrere Interventionsschlaufen, wobei die Wirkung jeder Intervention beobachtet und überprüft werde und als Basis für die nächste Intervention diene (vgl. Klatetzki 2005:264 ff.). Auch auf der Basis von Fallverstehen ist es also nur eingeschränkt möglich, mit einer Intervention eine bestimmte Wirkung erzielen zu können.

Das Strukturmerkmal der sehr geringen Standardisierbarkeit begründet den Status der Sozialen Arbeit als Profession. So halten Dewe/Otto (2011:1147) fest, dass professionelles Handeln »hinfällig würde, wenn die Möglichkeit einer routinemäßigen Bewältigung der in der jeweiligen Handlungssituation liegenden Ungewissheit gegeben wäre«. Dass Sozialpädagoginnen in der Lage sein müssen, prinzipiell unter der Bedingung von Ungewissheit zu handeln und für die Problembestimmung und -bearbeitung keinerlei Rezeptwissen zur Verfügung haben, ist also nicht nur große Herausforderung, es macht sie zugleich zu ›Professionellen‹.

Im aktuellen Diskurs besteht weitgehend Einigkeit über die Rahmenbedingung des strukturellen Technologiedefizits und die Notwendigkeit von wissensbasiertem Fallverstehen als Basis der Konzeption fallbezogener professioneller Unterstützung. Der Sonderwissensbestand der Sozialen Arbeit beinhaltet ein breitgefächertes Theorie- und Methodenwissen. Professionskompetenz zeigt sich in der Fähigkeit zur Verschränkung von wissenschaftlichem und fallbezogenem Wissen, in der Nutzung von wissenschaftlichem Wissen zum Fallverstehen. Die äußert geringe Standardisierbarkeit des professionellen Handelns ist jenes Strukturmerkmal Sozialer Arbeit, das direkt zum Thema dieses Lehrbuchs führt und seinen Bedarf begründet. Ein fallbezogenes strukturiertes methodisches Vorgehen bei der professionellen Unterstützung von Klienten ist unabdingbar. Allerdings betont Galuske (2013:67) zu Recht: »Methodisches Handelns in der Sozialen Arbeit hilft die konstitutive Unsicherheit erzieherischer Prozesse zu reduzieren, beseitigt sie aber nicht. Insofern sind Methoden in der Sozialen Arbeit nicht nur darauf ausgerichtet, Unsicherheit zu reduzieren, sondern auch, sie ›erträglicher‹ zu machen.«

Kooperative Prozessgestaltung in der Sozialen Arbeit

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