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Die drei Schicksalsfrauen an der Rhonequelle

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Gletsch

Vor vielen tausend Jahren, als der Rhonegletscher seine gewaltige Zunge aus der Gegend der heutigen Stadt Lyon bis in den Talkessel der damals noch nicht existierenden Siedlung Gletsch zurückgezogen hatte, wanderten die drei Schicksalsfrauen über die Berge. Sie wollten nach dem Rechten sehen in dem Land, das durch Eis und Wasser in den Untergrund gegraben, gehobelt und geschliffen worden war. Es war das Urmuster eines Tales, das die Römer viel später Wallis nannten.5

Noch hatte sich hier niemand niedergelassen. So waren die Schicksalsfrauen unterwegs, um diese karge Gegend für Pflanzen, Tiere und Menschen vorzubereiten, die sich hier ansiedeln wollten. Sie wanderten entlang der gewaltigen Gletscherzunge mit ihren Rissen und Schründen. Wasser rauschte, und ein kalter Luftzug kam aus tiefen, bläulich schimmernden Spalten. Mit Leichtigkeit sprangen die drei Frauen über Bäche, die sich aus den vielen Rinnsalen des Gletschers an seinem Ende bildeten.

Jede Frau trug einen Stab in der Hand, der eine war mit einem Bergkristall, der zweite mit einer Muschel, der dritte mit einem Knöchelknochen verziert. Mit ihnen suchten die Schicksalsfrauen im Talgrund nach einem geeigneten Platz für ihr Wirken. Hinter einem gewaltigen Tschuggu, einem abgeschliffenen Felsen, den der Gletscher hier zurückgelassen hatte, schlugen sie die Stäbe in den Boden. Zischend trat heisser Dampf aus den Öffnungen, Erddünste breiteten sich aus und eine Mulde füllte sich mit warmem Wasser.

Alsbald lagen die drei Frauen in dieser wohligen Wärme, und in bester Schöpferinnenlaune begannen sie, das Netz des Lebens in diesem Tal zu erwecken. Die Kristallfrau hob ihren Stab und rief die Kraft und Schönheit der Blumen und Pflanzen, die Seelen der Tiere und Menschen. Die Muschelfrau beschwor ihre Verbindung zum Meer, wo alles Leben einst begonnen hatte und wohin das Quellwasser fliessen sollte. Sie versprach Nahrung, Schutz und Hilfe für alle Wesen. Die Knochenfrau wusste um Wandlungen und Verwandlungen, um Grenzen und Übergänge, um den Tod und die Zuversicht, dass das Leben weitergeht. Leise und sanft sangen die Schicksalsfrauen ihre Melodien. Und mit dem Wasser, das mittlerweile aus drei Quellen floss, ergoss sich ihr Segen in den Gletscherbach und durchs ganze Tal.

Die Menschen folgten dem Ruf der Schicksalsfrauen, sie kamen von weit her und schufen ihre Siedlungen. In ihrer hellhörigen Art konnten sie noch jahrhundertelang wahrnehmen, wie die Wünsche und das Lachen der drei Frauen in der Landschaft nachklangen. Hirtinnen, Jagdvolk, Säumer und Reisende rasteten bei dem warmen Wasser und wussten dessen Heilkraft zu nutzen.

Diese Quellen galten den einheimischen Menschen bis im 18. Jahrhundert als Ursprung der Rhone. Besonders verehrt hat man die Quelle, die einen rötlichen Niederschlag absonderte und deshalb die Rothe hiess.6 Sie gab ihren Namen wohl auch dem Gletscherbach Rhone, der bis in unsere Zeit hinein im oberen Wallis Rotten oder Rottu genannt wird.

Doch längst ist die rote Quelle gefasst; das Hotel Glacier du Rhône nutzt sie zu Heizzwecken. Der Gletscher, der heute vom Talgrund aus nicht mehr sichtbar ist, gilt nun offiziell als Quelle der Rhone. An schönen Sommertagen wälzt sich der Verkehr der Passstrassen von Grimsel und Furka durch die Siedlung Gletsch. Doch noch immer soll es vorkommen, dass Menschen, die sich auf den Moränenhügel bei der kleinen Kapelle und zu den Quelltümpeln zurückziehen, ganz unvermittelt die ursprüngliche Heiligkeit des Ortes erfahren.

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Bergmütter, Quellfrauen, Spinnerinnen

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