Читать книгу Bergmütter, Quellfrauen, Spinnerinnen - Ursula Walser-Biffiger - Страница 6

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«Die Sage vermag die Klugheit des Herzens zu wecken,

bringt im Menschen das Innere zum Schwingen, erlaubt ihm, anzuknüpfen bei urzeitlichen Ahnungen, die tief unter jedem Wissen vergraben sind.»1

Wieder sitze ich auf meinem Tschuggu, einem runden, vom Gletscher geschliffenen Felsblock. Er war der Lieblingsplatz in meiner Kindheit und zugleich ein gefährlicher Ort: Schlangen krochen oft durchs nahe Geröll, und ein Abhang lockte in die Tiefe. Doch nichts hielt uns Kinder davon ab, auf diesem Felsen herumzukraxeln, Ängste zu überwinden und die eigenen, wachsenden Kräfte zu spüren. Hier konnte ich träumen und Pläne schmieden, mich auf den warmen Stein legen und den Wolkendrachen bei ihrem Spiel zuschauen. Oder eintauchen in das Reich der Flechten, Moose, Blumen und Käfer, die den Felsen bewohnten, und sehen, wie sich in dieser kleinen Welt die grosse widerspiegelt.

Die Liebe zu den mächtigen Steinen hat mich nicht wieder losgelassen. Ich habe besondere Felsformationen an vielen Stätten der Welt besucht, ihrer Melodie gelauscht, ihre Geschichte erforscht und Geschichten gesammelt, die sich um sie ranken. Sagen und Mythen erzählen von ihnen und von den Menschen, denen sie mehr bedeuteten als totes Gestein. Es enthüllte sich mir eine Mensch-Natur-Beziehung, in der alles als belebt und verbunden erfahren wird – durchdrungen von einer mächtigen Urkraft, einem schöpferischen Prinzip, das sich den Menschen in frühen Zeiten oft in weiblicher Gestalt zeigte.

Spuren dieses ursprünglichen Weltverständnisses, in der die Natur als beseelt erkannt und in ihren weiblichen Qualitäten respektiert und verehrt wird, wollte ich nachgehen. Ich entdeckte sie weltweit in Mythen, in archäologischen Funden und Forschungen, im Brauchtum und im sogenannten Aberglauben, in der Volksfrömmigkeit und in der Kunst, in Namensbezeichnungen und auf Kultplätzen – und nicht zuletzt in den Sagen des Alpenraums und den geheimnisvollen Gestalten, die diese Geschichten bevölkern: listige Alte, mächtige Feen, weise Spinnerinnen, wilde Tänzerinnen, Kräuterfrauen, Schatzhüterinnen, Seelenbegleiterinnen, Heilige, Huren, Hexen und Holzmuetterli, die in ihrer Tschifra (Rückentragkorb) grosse Steinblöcke versetzen und dazu noch stricken.

Allen diesen Wildfrauen ist eine tiefe Verbundenheit und ein wirkmächtiger Umgang mit den Kräften des Naturreichs gemein, das sich in den Sagen bis in die unsichtbare Anderswelt hinein ausdehnt. In diesen Gefilden befindet sich auch der Aufenthaltsort der verstorbenen Ahnen, die von hier aus die Menschen unterweisen, unterstützen, ihren Segen übers Land senden und zur gegebenen Zeit wieder zurückkehren in den Kreis der Irdischen.

In der gelebten Tradition des Wallis haben die Verstorbenen noch immer einen grossen Stellenwert – auch wenn sie bisweilen als sogenannte Arme Seelen daherkommen, die im Gletscher für ihre Sünden büssen müssen. Hier hat sich offensichtlich über das alte Wissen um die Verbundenheit verschiedener Weltensphären eine christliche Korrektur gestülpt, und der Gletscher musste die Funktion des Fegefeuers übernehmen. Die erste Sammlung von Walliser Sagen – von zwei Pfarrherren um 1872 erfasst – zementierte dann gleichsam schriftlich, dass aus dem ursprünglichen andersweltlichen Aufenthaltsort der Toten im Gletscher ein qualvolles Leiden im kalten Sündenreinigungsfeuer wurde.

Sollen die alten Erzählungen nicht einfach zu Gruselgeschichten verkommen, die man touristisch aufbereitet und inszeniert, oder in einem Kontext erstarren, den niemand mehr versteht, tun wir gut daran, sie aufmerksam zu lesen und neu zu gestalten. Das Sich-Sagen-Erzählen war immer schon ein lebendiger Prozess, zu vergleichen mit einem alten, wertvollen Tuch, das von Menschen verschiedener Generationen gesponnen, gefärbt, gewebt, geflickt, aufgetrennt und neu vernäht wird. In der oralen Tradition werden die Sagen immer wieder frisch kundgetan – einer neuen Zeit, Umwelt und Zuhörerschaft angepasst. Sie beweisen sich damit als wandelbares, mündlich weitergetragenes Kulturgut.

So gilt es, viele dieser Geschichten von christlichen, patriarchalen, rationalen und moralischen «Zurechtbiegungen» zu befreien. Tatsächlich lassen sich Überformungen, Dämonisierungen oder Verniedlichungen wie Schichten einer Zwiebel lösen. Freigelegt und entdeckt wird ein Kern, der Kraft und Sinn vermittelt – bis in unsere Gegenwart hinein. Seltsam farblos wirkende Sagen können auf diese Weise wieder lebendig werden, und mit ihnen ändert sich auch der Blick auf die Natur, die spätestens mit der rational-technischen Weltsicht der Aufklärung zum leblosen Objekt erklärt wurde, das es zu vermessen, zu analysieren und auszubeuten galt.

Doch heute entdecken viele die Schönheit und Kraft des Naturreichs neu: Wir können sie als uralte Form von Bewusstsein erleben und in ihr und in uns selbst etwas Ewiges erahnen, das sich kaum benennen lässt. Solchen Erfahrungen versuchen auch viele Sagen Ausdruck zu geben. Sie erzählen vom grossen Geheimnis des Werdens und Vergehens. Und davon, dass wir draussen in der wilden Natur mit ihren starken Wandlungs- und Schöpfungskräften in Berührung kommen. Dies stärkt unsere Fähigkeit, das Leben aus einer nicht alltäglichen Perspektive zu betrachten und unseren eigenen Weg immer wieder neu zu gestalten.

So sass ich denn in den letzten Jahren oft auf meinem Tschuggu und habe die alten Sagen gegen den Strich gelesen. Widersprüche zeigten sich, Risse taten sich auf, und manchmal hat sich in die Leerstellen hinein die Geschichte neu ergossen. Dann gibt es starke Orte, die mir eine Sage frisch enthüllt haben oder gar eine neue entstehen liessen. Bisweilen vereinten sich auch Bruchstücke von Walliser Sagen mit Weisheitsgeschichten aus aller Welt.

Ein Stück verdrängte Frauengeschichte ist bei dieser Arbeit sichtbar geworden. Eigenartig entleerte oder erschreckend böse Frauengestalten haben sich zu kraftvollen Figuren gewandelt. Und das Schönste: Ihre Geschichten brachten im Nu neue Geschichten hervor. So haben sich mir neue Denkweisen eröffnet und meine Vorstellungen davon erweitert, woher wir kommen, wer wir sind und wohin wir gehen.

Die Geschichte hinter den Geschichten entdecken, der magisch-mythischen Betrachtungsweise trauen, einengende Denkstrukturen lösen, dem Fluss der Lebensenergie durch die Generationen folgen. Altes Wissen aus einer Tiefe holen, die nicht den Zeitströmungen unterworfen ist, und sie mit den Erfahrungen des Heute wieder aufnehmen – dies scheint mir ein stärkender Weg zu sein. Er bringt viel Wurzelkraft für die Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, und für die Gestaltung einer lebenswerten Zukunft. Marie Métrailler, die weise Weberin und Bergbäuerin aus dem Val d’Hérens, hat dies so formuliert:

«Es ist eine Wiederentdeckung wahren Reichtums, grundlegender Werte, und jedes Mal, wenn man ihrer habhaft wird, kann man das Leben neu erschaffen.»2

Bergmütter, Quellfrauen, Spinnerinnen

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