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Die strickende Holzmiättärra

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Lötschental

Zuhinterst im Lötschental soll einst die Holzmiättärra gelebt haben. Sie war im hohen Alter und mancherorts wurde berichtet, sie sei unsterblich. Man war sich nicht einig, ob das Holzmütterlein zur Gattung der Zwerge oder der Riesinnen zu zählen sei. Auf jeden Fall galt sie als bärenstark, und vor allem Frauen wussten ihren verständnisvollen Rat und ihren Schutz zu schätzen. Wer sich ihr gegenüber respektvoll verhielt, konnte auf ihre Unterstützung zählen. Wer jedoch ihre Gesetze nicht einhielt, lebte gefährlich.

Die Menschen waren davon überzeugt, dass sich das Holzmütterlein in einen Baum verwandeln konnte oder in den ganzen Wald – vor allem dann, wenn es darum ging, den Lawinen zu trotzen und die Dörfer zu beschützen. Und sie konnte noch mehr. Ihre hohle Lärche im Riedholz beherbergte die Seelen der Ungeborenen. Dorthin gingen die Lötschentalerinnen, wenn sie ein Büblein empfangen wollten. Mädchen waren im Wasserhuis zu finden, einem bedachten Wassertrog oberhalb von Blatten. Auch in den Felsrücken der Fafler- oder der Guggialp warteten Kinderseelen darauf, wieder ins irdische Leben geholt zu werden. Die Zeit dazu war besonders günstig, wenn beim Kinderrufen die Holzmiättärra mit ihrer Lismeta, ihrer Strickarbeit, dabeisass und zur Feier des Tages den gewaltigen Tschuggen abgelegt hatte, den sie sonst wie einen Hut auf dem Kopf trug.

Im Verlauf der Jahrhunderte jedoch ging das Wissen um die Kraft und Macht der Holzmiättärra zunehmend verloren. Nur noch Kinder konnten sie wahrnehmen. So erschien sie eines Tages mit einem viele Zentner schweren Stein in der Tschifra im Geryndorf. Und trotz der enormen Last, die sie in ihrem Rückenkorb trug, strickte sie dabei. Darüber machten sich die Buben im Dorf lustig. Sie spotteten über die Holzmiättärra und lachten sie aus. Das war nun doch zu viel. Zornig schleuderte diese den Felsblock auf den Boden, mitten im Dorf, und zwar so, dass die schmalste Kante nach unten zu liegen kam. An dieser Stelle ist der Felsblock noch immer zu finden – mit dem Kreuz, das man ihm zu seiner Verchristlichung einverleibt hat.

Wer beim Gerynstein rastet und nachsinnt, kann heute noch erleben, dass dies ein Ort ist, an dem es leichter fällt als anderswo, die Verbindung mit der unsichtbaren Welt und den Segen zu spüren, der sich von hier aus über das ganze Tal ausbreitet.

Nach Guntern 1979, Nr. 412 und 1942

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