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Die weisse Gämse

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Walsersage

Noch bis ins letzte Jahrhundert hinein war man sich im Wallis einig darüber, dass weisse Gämsen nicht geschossen werden dürfen. Man wusste, dass sie keine gewöhnlichen Tiere waren, und sah in ihnen Arme Seelen, die in Tiergestalt für ihre Vergehen büssen mussten. Natürlich gab es immer Jäger, die das besondere Tier holen wollten, koste es, was es wolle. Doch kaum einer, der es wagte, kam gesund von seinem Abenteuer zurück. Die weisse Gämse verführte viele, ihr auf den gefährlichsten Felspfaden zu folgen, und von dort aus stürzte mancher in den Abgrund, wo er zerschmettert liegen blieb.

In Ager, einer heute nicht mehr existierenden Walsersiedlung im Ossolatal, kannte man noch eine andere Geschichte: An einem Abend im Spätherbst stiegen zwei Jäger auf die Alp, wo sie sich in einer Höhle zum Übernachten einrichteten. Schon früh wollten sie am nächsten Morgen aufbrechen, um in die Schussweite der Gämsen zu gelangen, die sich in der aufgehenden Sonne die taufrischen Gräser schmecken liessen. Doch als sie am Morgen aufstanden, stand vor der Hütte ein Meter Schnee, und es hörte nicht auf zu schneien. Es war unmöglich, hinunter ins Tal zu gelangen, und so beschlossen die beiden Jäger, zu warten, während weiterhin grosse Flocken vom Himmel fielen. Als die wenigen Lebensmittel aufgebraucht waren und der sichere Tod sie erwartete, beschlossen sie, das Los bestimmen zu lassen, welcher von beiden überleben solle, damit er sich vom Fleisch des anderen ernähren könne. Doch völlig unerwartet – sie waren gerade dabei, auszulosen – sprang eine weisse Gämse in die Höhle. Ein Wunder! Sie hatten jetzt genügend Nahrung, und als das Wetter wieder besser wurde, kehrten sie nach Hause zurück.

Nach Waibel 2010, S. 94 und Guntern 1979, Nr. 462, 1738, 1739

Bergmütter, Quellfrauen, Spinnerinnen

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