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Das Tal der Gräfin Anna

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Binntal

Vor vielen hundert Jahren wurde auch im oberen Rhonetal die Grosse Ahnfrau verehrt. Aus ihr kam alles Lebendige, sie nährte und beschützte es, und zu ihr kehrte es zurück. Das Volk erlebte sie an den Quellen, Bächen und Gletschern, in den Höhlen und Schluchten, in Felsbrocken, Hügeln und Bergen.

Im Goms wurde die Ahnfrau Gräfin Anna genannt. Ihr gehörten die schönsten Alpen von Ernen, Grengiols, dem Binn- und dem Lengtal. Diese sollen so fruchtbar gewesen sein, dass man die Kühe dreimal am Tag melken musste, und das Gras stand so hoch, dass ganze Büschel an den Spitzen zusammengeknüpft werden konnten, um auf den Wiesen Fussschlingen zu binden und einander zu necken. Ein tanzfreudiges Volk soll auf diesen Alpen gelebt haben – und keine Verordnung und keine Predigt konnte es von seinem lustvollen Tun abbringen. Auch Gräfin Anna liebte es, als Sennerin auf ihren Alpen zu verweilen, und wer ihr begegnete, kam verwandelt zurück.

So erging es auch Christine, einer Frau aus Schmidigehischere. Sie war eine der stärksten Käseträgerinnen im Binntal und fürchtete sich nicht davor, auch in den entlegensten Hütten Vergessenes zu holen oder schweren Ballast an den Ort zu schleppen, wo er benötigt wurde.

So war sie eines Tages spät im Herbst noch unterwegs im hinteren Binntal. An dem Ort, der Wyssbach heisst, dort, wo die junge Binna mit dem Turbewasser zusammenfliesst, setzte sich Christine auf eine Steinplatte, um ein wenig zu rasten. Sie beobachtete die Erdgeistlein in den weissen Sandhügeln und die lustigen Wasserwesen im milchig-weissen Bach, wie sie sich vor Freude über die Steine kugelten.

Da kam plötzlich eine Frau in alter Tracht daher und wies Christine an, ihr zu folgen. Sie stand auf und die beiden stiegen, ohne ein Wort zu wechseln, eilig die Kehren durch den weissen Sand hinauf, Richtung Albrunpass.

Auf einem Moränenhügel machte die geheimnisvolle Frau halt. Christine kannte den gewaltigen Felsbrocken, der hier vor langer Zeit zum Stillstand gekommen war. Eine Reihe von Bohrlöchern ziert seine Nordflanke, und auch der Stein, welcher den Felsbrocken stützt, weist kleine Schalen auf. Christine erinnerte sich an die Warnung des Pfarrers, sich von diesem Stein fernzuhalten.

Doch genau hierhin sollte sie sich setzen, so wies die seltsame Frau sie an und verschwand. Kaum hatte Christine sich in einer Ausbuchtung des Felsens niedergelassen, versank sie in einen wohligen Zustand völliger Leere. Die Nacht brach ein – Christine spürte weder die Kälte, noch machte sie sich Gedanken über ihr Fortbleiben von zu Hause. Sie fühlte sich behütet, und der mächtige Felsbrocken war wie ein Schiff, das sie sicher durch das Sternenmeer steuerte. Ein sanfter Sichelmond wachte über ihr.

Noch vor Sonnenaufgang stand Christine auf und blickte gegen Osten zum Ofenhorn. Es ragt wie mit zwei gewaltigen Brüsten zum Himmel. Weiss stürzen die Milchbäche von der Höhe herunter, sammeln sich in einem feuchten, sumpfigen Bauchkessel und schäumen dann zwischen gewaltigen Felsschenkeln hinunter ins Tal. Da lag sie: Gräfin Anna – die Bergmutter des Tals.

Eine wundersame Melodie schwoll an. Sie schien von weiter oben zu kommen, vom Ochsenfeld, einer baumlosen, verwilderten Trümmerwüste. Christine folgte dem Klang, und plötzlich waren da noch andere Frauen, alle in wunderschönen, alten Trachten. Sie tanzten zwischen den Felsblöcken und Steinen umher. Mit einem Bergkristall, den jede bei sich trug, klopften sie an das Gestein, weckten Töne und Melodien, die hier verborgen lagen. Und die Steine sangen ihre Lieder: von Sonne, Mond und Sternen, von Erde, Feuer, Wasser und Luft, von Entstehen und Vergehen, von Erstarrung und Verwandlung.

Inmitten dieses Klangteppichs erstrahlte der mächtige Felsbrocken auf dem Moränenhügel in einem ganz besonderen Glanz. In Farbkaskaden sichtbar, schien er die Kraft der Töne zu sammeln und sie gebündelt weit über Berge und Täler zu schicken. Die Alpen des Binntals erglühten, die Sonne ging auf. Und Christine war, als ob sie die Sprache der Steine, Kristalle und auch der Kräuter und Blumen verstünde.

Viel später, als die Sonne wieder am selben Ort unterging wie bei ihrer Ankunft, wusste Christine, dass ihre Zeit beim grossen Stein abgelaufen war. Am Morgen nahm sie freudig den Rückweg nach Schmidigehischere unter die Füsse. Doch als sie im Dorf ankam, sahen die Menschen sie erschrocken an. Ein ganzes Jahr war vergangen, seit Christine aufgebrochen war, und man hatte nicht mehr damit gerechnet, sie nochmals zu sehen. Christine versuchte zu erzählen, was sie erlebt hatte. Doch niemand wollte ihrer Geschichte Glauben schenken. Man fürchtete sich vor ihr, und die meisten Leute mieden sie. Sie war eine andere geworden und als Lastenträgerin nicht mehr zu gebrauchen.

Noch ein Jahr ging ins Tal und die Dorfbewohner konnten sich nicht länger der Tatsache verschliessen, dass die seltsame Christine den Menschen und Tieren mit Kräutern helfen konnte, auch mit Kristallen oder mit Tönen. Wer Rat bei ihr suchte, dem weitete sich der Blick, und das Vertrauen in die Hilfe unsichtbarer Kräfte wuchs.

Auch heute noch, wenn die Zeit günstig ist und wir bereit dazu sind, soll man im Binntal Wesen treffen, die uns teilhaben lassen am Schatz des alten Wissens um die Geheimnisse der Natur und des Lebens.

Nach Guntern 1979, Nr. 65, 66, 67, 2119

Bergmütter, Quellfrauen, Spinnerinnen

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