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Die Bergmutter und ihr Hornkind

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Zermatt

Wohl schon vor Tausenden von Jahren, als die ersten Wildbeuter und Hirtinnen vom Süden her in die alpine Gegend des heutigen Zermatt kamen, wird das markante, freistehende Matterhorn auf sie einen ganz besonderen Eindruck gemacht haben. In ihrer magisch-mythischen Sehweise nahmen sie wahr, was wir heute kaum noch auf diese Weise verstehen können: die heilige Landschaft und mittendrin die Bergmutter – sichtbar geworden in ihrer wundersamen Fels- und Eisgestalt voller Schönheit und Magie.

Ihr Anblick ist atemberaubend. Fest steht sie da, die Berggöttin, verankert im Talkessel, und ihr Wirkungsbereich erstreckt sich weit in den Himmel hinein. Am Morgen empfängt ihr Haupt die Strahlen der Sonne und glüht rot auf. Und es scheint, als ob sie ihre Bergzacken wie Arme verlangend ausstreckt, um das Licht zu begrüssen, es in orangen, goldenen, gelben und weissen Tönen an ihrem hohen Leib hinunter und ins ganze Tal fliessen zu lassen. Abends, wenn die Sonne untergeht, lässt sie sich noch einmal von ihr küssen, um dann in einem Meer von Farben zu baden, bis die ersten Sterne ihr Haupt umkränzen und sie nun auch die gesammelte Kraft der Gestirne ins Land gleiten lässt. Und wenn der volle Mond im Osten aufkommt, streckt sie ihre Arme ebenso dem silbernen Licht entgegen.

Und mit ihr tut dasselbe das Hörnli, das kleine Horn – ein Bergkind, das neben ihr auf dem waagrechten Felspodest sitzt. Es zeigt in kindlicher, kurzer Form eine ähnliche Gestalt wie seine Mutter, und ebenso wie diese streckt es sich dem aufgehenden Licht zu.

Die frühen Menschen erkannten die Bergmutter noch in einer weiteren Erscheinung. Wenn sommers der Schnee auf ihrer Ostseite dünn ist, kann man in der Mitte ihres Oberkörpers, zwischen den ausgebreiteten Armen, kleine Brüste sehen. Es sind drei an der Zahl, für eine Göttin nicht ungewöhnlich – umso grösser ist ihre Macht und Kraft, im Tal einen Paradiesgarten zu schaffen. Und die Menschen wussten denn auch während eines langen, goldenen Zeitalters die Gaben der Bergmutter zu schätzen und ihre Gesetze zu befolgen. Noch immer sind Kultplätze bekannt, wo man sie verehrt und ihre umsorgende Kraft gewürdigt hat.

Die Mütterlichkeit der Berggöttin umfasste nicht nur die Welt der Lebenden. Auch die Seelen der Verstorbenen waren bei ihr gut aufgehoben. Sie gingen ein in ihren Schoss unter dem Eismantel, der von ihren ausladenden Hüften herabfliesst. Dort wohnten die Seelen, bis die Bergmutter sie mit der Gletschermilch wieder ins irdische Leben entliess. So erfuhren es die Menschen der frühen Zeit, und das Hörnli war Garant für dieses Geschehen. Die künftigen Menschenmütter konnten die Seelen ihrer Kinder am Schwarzsee abholen. Auch heute gehen Frauen mit Kinderwunsch dorthin, zur «Maria zum Schnee», zur Bergmutter, die nun in einer Kapelle verehrt wird.

Immer noch ist der Anblick des Matterhorns atemberaubend, obwohl der Berg heute kaum als Göttin wahrgenommen wird. Aus aller Welt pilgern Menschen millionenfach hierher, vielleicht auch, um dieser Landschaftsahnin unwissentlich und unbewusst zu huldigen – so stark ist ihre Anziehungskraft.

Nach Göttner-Abendroth 2016, S. 323

Bergmütter, Quellfrauen, Spinnerinnen

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