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c) Methoden der Anwendung

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Wissen ist dort ungenau, wo wir uns im Bereich des Veränderlichen bewegen. Für die Veränderlichkeit ist, wie Aristoteles es ausdrückt, die Materie verantwortlich. Formen und Strukturen ändern sich nicht, doch je mehr Materie oder Konkretheit, umso schwankender die Wahrscheinlichkeit und in der Folge auch unser Wissen. Mit der größten Konkretheit sind wir dort konfrontiert, wo wir in Einzelsituationen eine technē anwenden oder eine ethische aretē ausüben. Der Arzt, der überlegt, was diesem Kranken mit dieser individuellen Beschaffenheit unter diesen besonderen Umständen nützt, kann nicht mechanisch allgemeine Regeln anwenden. Er braucht vielmehr Erfahrung, die ihn zu einer richtigen Einschätzung des Einzelfalls führt. Ebenso wenig kann die Person, die überlegt, was in dieser bestimmten Situation zu tun gerecht ist, einfach aus der Regel, dass man gerecht handeln soll, die richtige Handlung ableiten. Wie Aristoteles betont, zielt auch die ethische Untersuchung nicht auf ein bloßes Erkennen praktischer Zusammenhänge ab, sondern auf das Handeln (1095a5f.).10 Da gutes Handeln für Aristoteles aus der aretē, dem charakterlichen Gutsein, hervorgeht, ist praktisches Wissen nicht ohne einen guten Charakter möglich. Daraus ergibt sich, dass sich als Hörer der ethischpolitischen Abhandlung nur eignet, wer nicht zu jung ist (1095a2ff., 1142a11ff.), vielmehr schon über einen festen Charakter und Erfahrung im ethischen Urteilen und Handeln verfügt. Wenn die Hörer all dies bereits haben, wozu, so könnte man sich fragen, brauchen sie dann überhaupt noch eine ethische Abhandlung?

Um die Antwort zu finden, müssen wir uns dem bisher noch übersprungenen Methodenabschnitt in I 2 zuwenden. Dort steht die Bemerkung, in der Ethik und Politik sei von dem „uns Bekannteren“ auszugehen (1095b22ff.), um dann das „der Sache nach Bekanntere“ zu suchen. Diese Unterscheidung zwischen dem uns Bekannteren und dem der Sache nach Bekannteren ist ein Topos in der aristotelischen Methodenlehre.11 Schon Platon hatte gefragt, wie es möglich ist, dass wir etwas Bestimmtes suchen, ohne es bereits zu kennen – denn offenbar müssen wir ja wissen, was wir suchen, um sicher zu sein, dass wir es gefunden haben. Die Lösung des Aristoteles liegt im Hinweis auf das uns Bekanntere als Ausgangspunkt. Dieses uns Bekanntere ist, wie wir heute sagen würden, das Vorwissen, das Vorverständnis. Im theoretischen Bereich und im Bereich der technē entsteht dieses Vorwissen durch Induktion, durch Verallgemeinerung aufgrund bekannter Fälle. Im praktischen Bereich entsteht es durch Übung, durch Gewöhnung (1098b4) an richtige Handlungen, die zur Ausbildung von Charaktergewohnheiten führt. Fragen wir nun nach dem der Sache nach Bekannteren, so wird dieses in den Wissenschaften durch Erklärung und Begründung erreicht, durch das, was Aristoteles das Aufzeigen des Warum nennt, welches ein Phänomen auf allgemeine Gesetze oder Prinzipien zurückführt. Wie wir aber im Zusammenhang der dialektischen Methode gesehen haben, ist dies nicht immer möglich; es ist nicht mehr möglich bezüglich der letzten Prinzipien selbst. In I 2 ebenso wie in I 7 erfahren wir, dass auch die ethische Untersuchung nicht in einer Erklärung des Warum bestehe, also einer Rückführung auf Gründe, dass es vielmehr genüge, das Dass aufzuzeigen (1098b1f.). Das Dass sind die schon vorhandenen Charaktergewohnheiten der Hörer. Diese enthalten, wie wir genauer erst in Buch II, III und VI sehen werden, implizite Vorstellungen vom guten Handeln in den wichtigsten Bereichen des Lebens. Die These ist dann, dass diese nicht begründet zu werden brauchen. Was stattdessen möglich ist, das Aufzeigen des Dass, könnte man so verstehen, dass die impliziten Vorstellungen explizit gemacht und reflektiert werden. Auf die Frage, wozu das nötig ist, erhalten wir die Antwort erst in Buch VI. Wer nur implizit Vorstellungen vom guten Handeln in seinen Charakter aufgenommen hat, könnte in der Handlungssituation eine falsche Entscheidung treffen, solange er nicht zusätzlich in der Lage ist, den Inhalt der guten Handlung in der Situation zu konkretisieren, solange nicht seine praktische Überlegungsfähigkeit (phronēsis) die konkreten Umstände richtig einschätzt. Die Hörer sollen also nicht von bestimmten ethischen Inhalten überzeugt, sondern dazu gebracht werden, die Anwendung dieser Inhalte selbständig zu reflektieren.

Es sind nicht zuletzt solche Passagen, auf die der Vorwurf zurückgeht, die Ethik des Aristoteles sei konservativ und expliziere nur die bestehenden Wertvorstellungen seiner Zeit und Gruppe. Ob Aristoteles grundsätzlich meint, ethische Untersuchungen würden sich auf eine Explikation des gelebten Standpunkts beschränken, ist jedoch schon angesichts der objektiven Bestimmung der eudaimonia in I 6 fraglich.12 Wie die Methodenpassagen in Buch I der EN zeigen, setzt Aristoteles hier einfach Hörer voraus, die seine, und das heißt die richtige, Vorstellung vom guten Leben und der guten Polis internalisiert haben. Dieses Publikum braucht keine Begründung, sondern eine Explikation oder Reflexion der geteilten Vorstellungen. Wie erwähnt, insistiert Aristoteles jedoch in der EE, die stärker in seine metaphysische Begrifflichkeit eingebettet ist, ganz im Gegenteil darauf, man müsse auch in der politischen Wissenschaft nach dem Warum, den Gründen (1216b38ff.) suchen. Das könnte dafür sprechen, dass Aristoteles eine Begründung ethischer Inhalte noch ein Stück weit über das in I 6 Gezeigte hinaus für denkbar hält (wobei am Ende immer nicht begründbare letzte Sätze oder Begriffe bleiben). Dann wäre hier auch der gesuchte Fall gefunden, in dem eine Ungenauigkeit im Vorgehen bereits in Bereichen empfehlenswert sein könnte, in denen der Gegenstand diese noch nicht erfordert.

1 Sie enthalten allerdings eine Reihe von Unstimmigkeiten, es kommen Wiederholungen und Unterbrechungen vor, weshalb Gauthier/Jolif einige Umstellungen im Text vornehmen.

2 Vgl. Barnes 1981, 510f.

3 Dazu Wolf 1996, Kap. III.

4 Zu den Unstimmigkeiten in den Methodenpassagen siehe auch Bostock 2000, Kap. X.

5 Allerdings wird in diesem Kontext in der EE auch eines der Motive deutlicher, aus denen Aristoteles für die Zwecke der Ethik eine weniger strenge Methode als die philosophische empfiehlt. Er weist dort nämlich darauf hin (1216b40ff.), jemand, der nicht in der Philosophie ausgebildet sei, könne leicht auf Scheinargumente hereinfallen, weshalb es besser sei, dass er sich gar nicht auf philosophische Argumentationen einlasse. Dem entspricht, dass Aristoteles in der EN (1094b22ff.) betont, auch der Hörer müsse, wenn er gebildet sei, wissen, welcher Genauigkeitsgrad dem jeweiligen Gegenstand angemessen ist. Das könnte heißen, dass Aristoteles in seinen ethischen Vorlesungen mit einem Publikum rechnet, das zwar gebildet, aber nicht philosophisch geschult ist. Dazu Tessitore 1996, 15ff.

6 Vgl. Ross 1995, 197.

7 Das naturwissenschaftliche Verfahren kommt in der EN selten vor, außer in I 6 auch in der Freundschaftsabhandlung, siehe unten S. 175.

8 Zum Vorkommen dieser beiden Methoden auch Hardie 1980, 40f.

9 Dazu Kraut 1998, 274.

10 Zur praktischen Zielsetzung siehe Höffe 1995a, 30ff.

11 Zu solchen Methodenaspekten, die für die Philosophie des Aristoteles allgemein charakteristisch sind, ist immer noch empfehlenswert Wieland 1970.

12 So auch Höffe 1995, 7f.

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