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4. Das falsche Weltbild
ОглавлениеAdams (2005) stellte Personen aus Ghana und San Francisco (USA) verschiedene Fragen zu den Themen Freundschaft und Feindschaft und stellte dabei erhebliche Unterschiede in der Deutung dieser Phänomene fest. Auf die Frage, ob man persönlich Feinde habe, antworteten z. B. 48 % der Westafrikaner (WE) und 26 % der Amerikaner (US) mit „Ja“. Auf die Frage, ob die Annahme von Feinden in seiner Nähe abnormal bzw. paranoid sei, entschieden 9 % WE und 45 % US mit „Ja“. Entsprechend beurteilten 50 % WE und 19 % US den Glauben, keine Feinde zu haben, als naiv.
Auf die Frage, wie sie reagieren würden, wenn sie persönlich einen Feind hätten, antworteten 30 % der Nordamerikaner mit „ignorieren“, während dies nur 54 % der Westafrikaner vorzögen. Sie würden im Gegensatz eher aktiv den Feind meiden oder sich Schutz vor diesem suchen (26 % WE vs. 11 % US).
Das Ignorieren von potenziellen Feinden kann sehr gefährlich sein. Derartige Gedankengänge gehen an der Tatsache vorbei, dass jeder grundsätzlich Opfer eines Verbrechens werden könnte, wenn er nicht vorsichtig ist.
Dazu ein beliebiger Zeitungsbericht (Hessisch/Niedersächsische Allgemeine HNA vom 11. 12. 2003) über einen Sänger der Popgruppe Die Prinzen, der von zwei Männern nachts überfallen, „aus Spaß“ verprügelt und dann verletzt und reglos am Boden liegend zurückgelassen wurde. Sie sollen gesagt haben: „Es ist doch alles nur Spaß. Wir wollen nur ein paar Euro, wir wollen nur ein paar Bier trinken.“ und bei der Vernehmung, dass sie „einfach nur Frust ablassen“ wollten.
Es wird häufig betont, dass Deutschland eines der sichersten Länder der Welt sei. Das mag zwar statistisch im Vergleich zu anderen Ländern richtig sein. Doch dem Opfer einer Straftat ist es herzlich egal, ob anderswo die Kriminalität höher oder geringer ist oder ob sie im eigenen Land sinkt. Diese statistische Betrachtung wirkt einlullend, suggeriert den Eindruck, dass man nichts tun müsse, und verstellt den Blick dafür, dass es jeden unerwartet treffen kann.
Dazu ein aktueller Fall aus der HNA vom 28. 12. 2016. Ende Oktober 2016 geht eine 26-jährige Frau nichtsahnend die Treppe zum Berliner U-Bahnhof Herrmannstraße hinab. Plötzlich tritt ihr ein Mann ohne Vorwarnung so heftig in den Rücken, dass sie die Treppe hinabstürzt und sich den Arm bricht. … Besonders die demonstrative Teilnahmslosigkeit des weiterschlendernden Tatverdächtigen und dreier Begleiter löste bundesweit Empörung aus.
Wie Adams (2005) feststellte, nehmen viele Amerikaner nicht an, persönlich das Ziel von Feinden zu sein. Diese Annahme hat sich auch nach den Anschlägen vom 11. September 2001 nicht grundlegend geändert; nur Minderheiten der Befragten nehmen an, dass Feindschaften aufgrund von Nationalitäten entstehen. Afrikaner sehen eher im Phänomen Feindschaft ein alltägliches Problem, vor dem sich jeder mit Aufmerksamkeit und Vorsicht schützen sollte. Diese Annahme erscheint dagegen vielen Amerikanern eher als paranoid. Entsprechend sehen sie sich erstaunlicherweise auch für eventuelle persönliche Feindschaften als mitverantwortlich an. So stellten sich die Studenten von Virginia Tech nach dem Amoklauf (2007) die Frage: „Was haben wir falsch gemacht?“, obwohl sie mehrfach vergeblich versucht hatten, den Täter in eine Interaktion einzubinden (Füllgrabe, 2016).
Derartige falsche Vorstellungen sind relativ weitverbreitet und gefährlich. So sieht Douglas (1996, S. 396) aus der Sicht des FBI-Praktikers den Sachverhalt, dass relativ viele „therapierte“ Mörder wieder rückfällig wurden, neben unangemessenen Methoden auch darin begründet, dass „oft junge Psychiater, Psychologen und Sozialarbeiter tätig sind, die idealistische Vorstellungen haben und denen man an der Universität beigebracht hat, dass sie wirklich etwas verändern können. … Oft verstehen sie nicht, dass sie Individuen vor sich sehen, die ihrerseits Experten in der Beurteilung anderer Leute sind! Nach kurzer Zeit wird der Insasse wissen, ob der Arzt seine Hausaufgaben gemacht hat, und wenn nicht, kann er sein Verbrechen und das, was er den Opfern angetan hat, in anderem Licht darstellen.“
Aber nicht nur als Gutachter kann man von manchen Tätern „über den Tisch gezogen werden“, sondern kann auch direkt angegriffen werden, wobei die Täter keine Dankbarkeit gegenüber demjenigen zeigen, der ihnen geholfen hat.
Dies musste auch die Psychologin Susanne Preusker erfahren, die bis 2009 Leiterin einer sozialtherapeutischen Abteilung für Sexualstraftäter in einem Hochsicherheitsgefängnis war und therapeutisch mit Gewalttätern arbeitete. Dabei wurde sie von einem ihrer Patienten als Geisel genommen und brutal vergewaltigt (Preusker, 2011a). Sie schrieb (2011b):
„Es ist ein kapitaler Fehler, unser akademisches, liberales, bildungsbürgerliches Wertesystem eins zu eins auf jeden Insassen hinter Gefängnismauern zu übertragen. Die Realität lässt sich weder durch feinsinnige juristische Abhandlungen noch durch akademische Diskussionen austricksen: Es gibt ihn wirklich, den nicht therapierbaren Kriminellen mit seinen eigenen Vorstellungen zu Werten, Normen, Menschenbildern oder Lebensentwürfen, die den unseren so gar nicht entsprechen wollen.
Einer von denen hat mich, seine Sozialtherapeutin, nach vierjähriger intensiver Therapie, die allen wissenschaftlichen Kriterien Genüge getan hat, als Geisel genommen und vergewaltigt.“
Es ist doch paradox, dass einerseits „Empathie“ (Einfühlung) so hoch bewertet und sogar trainiert wird, andererseits überhaupt nicht in Erwägung gezogen wird, dass eine andere Person ein völlig anderes Wertesystem haben und völlig unerwartetes Verhalten zeigen kann. So berichtete mir ein WingTsun-Experte (wo nicht das Sportliche, sondern eine realistische Selbstverteidigung im Vordergrund steht), dass die Mitglieder einer Gruppe, die Zivilcouragetraining betreibt, sehr überrascht waren, dass sie sich dabei auch selbst potenziell in Gefahr begeben.
Diese Überraschung ist verständlich, weil Personen aus der Mittelschicht in ihrer Jugend kaum Gewalt erlebt haben, zumeist gelernt haben, dass es wichtig und erfolgreich ist, sich mit jemand sprachlich auseinanderzusetzen, dass man Konflikte sprachlich lösen muss. Auf der anderen Seite der Gewalttäter, oft aus der Unterschicht stammend und eine der sechs von Miller (1958, 1970) dort ermittelten richtungweisenden Orientierungen/Handlungsmuster („focal concerns“) perfekt beherrschend: Smartness, also andere zu überlisten, zu übervorteilen („to outsmart“).
Ein weiteres der sechs Handlungsmuster ist die Suche nach einem „Thrill“/„Kick“, was leicht zu Gewalt führt. Täter stammen oft aus einem Milieu, in dem sie lernten: Wer Gewalt ausübt, hat die Macht, hat Erfolg. Und dazu setzt ein solcher Täter Strategien ein, die dem aus der Mittelschicht Stammenden wesensfremd sind.
So half z. B. Thompson (1997) einer Frau und ihrer Tochter, die von einem Mann bedrängt wurden. Er schlug den Mann nieder, und die Frau entkam mit ihrer Tochter. Der Angreifer schien nicht mehr kämpfen zu wollen, wollte Thompson die Hand schütteln und ihm einen Drink kaufen. Doch das lehnte Thompson ab. Warum? Gemäß den Mittelschichtnormen war das doch ein Zeichen der Versöhnung, das man nicht abschlagen konnte. Aber Thompson (1997) kannte die Tricks der Gewalttäter: Durch seine Worte wollte er vermutlich Thompson ablenken, und hätte er dem Mann, der sich bereits als gewalttätig und unberechenbar gezeigt hatte, die Hand gegeben, hätte er keinen Sicherheitsabstand zu diesem gehabt und hätte einen Angriff auf sich dadurch erleichtert.