Читать книгу Psychologie der Eigensicherung - Uwe Füllgrabe - Страница 9
2. Warum Kampfsportarten (alleine) nicht immer wirkungsvoll sind
ОглавлениеDer Begriff Survivability wird meist bezogen auf konkrete Techniken zum Überleben in der Wildnis oder in der kriegerischen Auseinandersetzung. Aber seltsamerweise wurde nie oder kaum die psychologische Seite des Überlebens betrachtet.
Wie wichtig aber die psychologische Komponente in gefährlichen Situationen ist, zeigen verschiedene Beispiele. So erweisen sich Kampfsportarten (gleichgültig ob mit japanischem, koreanischem, chinesischem o. ä. Hintergrund) in Gefahrensituationen nicht immer als wirkungsvoll. Kain (1996, S. 147) erwähnt z. B. einen 3. Dan Karate, der eines Tages zu einem von Kain veranstalteten Kurs erschien, mit einem Gesicht, das zerschlagen und voller Blutergüsse war. Er berichtete, dass er letzte Nacht überfallen wurde. Eine Amerikanerin (2. Dan Karate) und Gewinnerin mehrerer Kata- und Kumitemeisterschaften wurde abends überfallen und vergewaltigt (http://modelmugging.org/choosing-a-course-for-women/martial-science/evolution-of-martial-science/).
Diese Fälle mögen auf den ersten Blick erstaunlich sein, weil es sich nicht um Anfänger(innen) handelte und man ja im Kumite (Wettkampf) die körperliche Auseinandersetzung einübt. Bei einer Kata geht es nicht „Mann gegen Mann“, sondern der Einzelne führt – je nach Kata – jeweils bestimmte Bewegungen und Techniken aus, die genau vorgegeben sind. Ein Ziel der Katas ist auch, auf Angreifer vorbereitet zu sein. So gab z. B. die Japan Karate Association (JKA) Anfang der 1960er Jahre sechs Filme mit den Techniken des (Shotokan-) Karate heraus. In Film Nr. 3 werden u. a. mehrere Katas dargestellt, wobei in zwei Fällen die Katas zunächst nur durch den Einzelkämpfer dargestellt werden. Danach wird die Bedeutung und Anwendung der Techniken dadurch demonstriert, dass verschiedene Angreifer nacheinander angreifen. Dabei stellt sich natürlich die Frage, ob man von mehreren Angreifern immer in derartiger Form angegriffen wird.
Aber weder Kumite noch Kata helfen offensichtlich in jedem Falle gegen eine gewaltbereite Person, denn der sportliche Wettkampf bereitet einen zumeist nicht darauf vor, was sich an Gewalt auf der Straße abspielt. Abgesehen davon, dass man im Gegensatz zum Wettkampf oft völlig durch einen Angriff überrascht wird, besteht zumeist Unkenntnis über die Psychologie gewaltbereiter Personen.
Thompson (1997) stellte nämlich häufig folgendes Angriffsmuster fest: Ein Angreifer nähert sich einem potenziellen Opfer zunächst in einer nicht-bedrohlichen Weise und beginnt ein Gespräch. Er fragt nach der Uhrzeit, einem Streichholz, oder er will Geld gewechselt haben. Sein Ziel ist, dass man sich gedanklich mit seiner Frage beschäftigt, sodass man nicht die Waffe sieht, die er zieht, oder seinen Komplizen, der sich nähert. Diese Strategie ist sehr geschickt, denn durch die Frage werden die geistigen Kapazitäten des Opfers voll auf die Beantwortung dieser Frage gelenkt, sodass der Angreifer unbemerkt seinen Angriff starten kann, während das Opfer noch über die Frage nachdenkt. Besonders wirkungsvoll ist eine abstrakte Frage wie z. B.: „Wie war der Börsentag heute?“ Während der Angesprochene noch rätselt, was diese Frage überhaupt mit ihm zu tun hat, und darüber nachdenkt, kann der Täter leichter angreifen.
Ein Straßenkämpfer sagte potenziellen Opfern, dass er nicht kämpfen wolle, bevor er sie aber tatsächlich angriff. Diese „unterwürfige Ablenkung“ (Thompson, 1997): „Ich möchte keinen Ärger, können wir darüber reden?“ oder Ähnliches verringert das Aktivierungsniveau des potenziellen Opfers, weil diese Formulierung ihm (allerdings nur scheinbar) sagt, dass die Gefahr vorüber ist und es entspannt sein kann.
Thompson kennt viele erfahrene Kampfsportler, die von einem körperlich Schwächeren besiegt wurden, weil sie vor dem Angriff abgelenkt wurden.
Weitere der möglichen Gründe für ein derartiges Versagen des Erlernten in einer realen Gefahrensituation hat Kernspecht (2011) herausgearbeitet.
Die Kenntnis von Selbstverteidigungstechniken kann aber dennoch oft nützlich sein. Kain (1996) zeigt jedoch einen wichtigen psychologischen Faktor dafür auf:
Eine Gruppe von Männern näherte sich drei 18-jährigen Mädchen in der Absicht, sie zu vergewaltigen. „Das Element der Überraschung, kombiniert mit wilder Gewalt, kann bei der Konfrontation auf der Straße wirkungsvoll sein.[…] Eines der Mädchen konnte Karate und trat einem der Männer in die Genitalien, ein zweites Mädchen, das keine Kampfsportarten betrieb, schlug mit ihrer Tasche in die Genitalien eines anderen Mannes, und die Mädchen konnten unbeschadet entkommen. Selbst wenn man deutlich in der Unterzahl ist, kann schnelles Denken und explosives Handeln Sie retten“ (Kain, 1996, S. 164–165). Hier wirkt also das, was Kernspecht als das „Berserkerprinzip“ bezeichnet: dass jemand mir großer Entschlossenheit und reiner Gewalt einen anderen überwindet. Er zitiert dazu einen eher schmächtigen Mann, der nach einer Beleidigung seiner Ehefrau einen ehemaligen Boxchampion mit einem einzigen Schlag ausschaltete.
Welche Chancen hat aber ein 7-jähriges Kind, wenn ein 25-jähriger Mann, der wegen Totschlags verurteilt wurde, aber auf Bewährung frei ist, versucht, es zu entführen? Ein Video aus den USA zeigt dies (http://abcnews.go.com/blogs/headlines/2012/02/caught-on-tape-girl-fights-off-…):
Die 7-Jährige stand alleine in einem Einkaufszentrum, während ihre Mutter in einem anderen Teil des Ladens war. Der Täter griff nach ihr und versuchte, sie aus dem Laden zu führen, während er versuchte, sie zum Schweigen zu bringen. „Ich schrie, trat ihn und versuchte zu entkommen, und er legte seine Hand über meinen Mund.“, berichtete das Mädchen später. Ihr Kämpfen erwies sich als wirkungsvoll, denn der Täter ließ sie schnell los und rannte aus dem Laden. Er wurde später gefasst.
Man beachte: Das Mädchen erstarrte nicht vor Schreck oder begann zu weinen. Vielmehr wurde es aktiv. Und es weiß, was es tun würde, wenn dies wieder geschehen würde: „Immer schreien, versuche zu schreien, und tritt so hart wie Du kannst, und suche nach jemand, dem Du vertrauen kannst.“