Читать книгу Psychologie der Eigensicherung - Uwe Füllgrabe - Страница 17
4. Wie kann man Survivability erwerben?
ОглавлениеManche Menschen haben bereits auf der Grundlage ihrer Persönlichkeit eine hohe Survivability. So berichtet mir eine Ärztin, wie sie einen Handtaschenraub vermeidet:
• Sie meidet Menschenmengen. Taschendiebe haben nämlich ein großes Geschick, zu Personen Körperkontakt aufzunehmen, um sie auszurauben. Sie umarmen z. B. die Person und begrüßen sie als alten Freund.
• Sie hat die Handtasche fest am Körper, sodass man sie ihr nicht entreißen kann.
• Sie hat einen selbstsicheren Gang. Grayson und Stein (1981) stellten durch die Befragung von Gewalttätern genau fest, welche subtilen Merkmale des Ganges einer Frau sie als leichtes Opfer oder als Nichtopfer – das man besser nicht angreift – kennzeichneten (s. a. Füllgrabe, 1997, S. 172; 2016).
• Sie ist wachsam, aber nicht ängstlich = gelassene Wachsamkeit.
• Sie ist neugierig, ist also offen für neue Informationen, was nach Siebert (1996) typisch für Überlebenspersönlichkeiten ist.
Sie bezeichnet sich also treffend als „Nichtopfer“. Das bewies sie direkt bei einem Ereignis mit potenziell gefährlichem Ausgang:
„Bei einem Waldlauf in der Dämmerung traf ich auf einen Mann, der mit einem alten Damenfahrrad neben dem breiten Waldweg stand. Er erwiderte meinen Gruß nicht und schaute weg. Beim Weiterlaufen merkte ich, dass er das Fahrrad auf den Weg stellte und hinter mir herfuhr. Beunruhigt überlegte ich, wie ich aus dieser Situation entkommen konnte, während ich, um nicht ängstlich zu erscheinen, den Weg weiter bergauf lief. Der nahegelegene Autobahnparkplatz schied aus, weil ich nicht sicher war, dort auf Menschen zu treffen. Also bog ich nach einer Kurve auf einen kleineren Waldweg ein, von dem aus ich, falls mich der Mann verfolgt hätte, querfeldein gelaufen wäre, um als geübte Läuferin zu entkommen. Kurz nach der Kurve traf ich auf einen Bekannten mit großem Hund.“
Die Ärztin besitzt also das, was Siebert (1996, S. 185) als Überlebensstil bezeichnet: „Der Überlebensstil ist, die Realität schnell zu erfassen und gleichzeitig nach der besten Aktion oder Reaktion aus dem eigenen Reservoir paradoxer Ressourcen zu schöpfen.“ Wo andere das demonstrative Wegsehen nicht beachtet oder als Schüchternheit oder als Unhöflichkeit gedeutet hätten, deutete sie es richtig: als ein mögliches Gefahrensignal („No-look Rule“, s. Kapitel 5, S. 80). Die Ärztin besitzt also einen guten Gefahrenradar. Tatsächlich stellte sie, als sie dann weiterlief, fest, dass der Mann sie verfolgte. Wichtig ist auch der Hinweis, dass sie nicht ängstlich erscheinen wollte. Denn: Wer Angst oder Unsicherheit zeigt, wird eher angegriffen (s. z. B. Grayson & Stein, 1981, Füllgrabe, 1997, 2016). Sie geriet aber nicht in panische Angst, sondern überlegte detailliert, wohin sie laufen sollte. Dabei entwickelte sie alternative Fluchtmöglichkeiten, eine hohe kognitive (geistige) Leistung angesichts einer potenziellen Gefahr.
Man sieht hier gut, dass ein guter Gefahrenradar, planvolles Überlegen statt Angst und Hilflosigkeit typische Merkmale einer Überlebenspersönlichkeit (Siebert, 1996) sind.
Wie entwickelt sich aber ein solcher Überlebensstil? Obwohl es darüber wenige verlässliche Informationen gibt, liefert das Beispiel der Ärztin doch erste Hinweise darauf. Sie wurde zur Selbstständigkeit erzogen und dass sie auf sich aufpasst. „Ich musste immer für mich selber sorgen.“ Und es wurde ihr das Gefühl vermittelt, alles selber schaffen zu können (= Gefühl der Selbstwirksamkeit).
Nishiyama und Brown (1960) meinen, dass durch das Karatetraining (und natürlich auch durch andere Kampfsportarten/Kampftechniken) die von ihnen genannten psychologischen Faktoren gefördert werden können. Tatsächlich haben Kampfsportarten und -systeme verschiedene positive psychologische Auswirkungen. Eine Untersuchung von Bodin und Martinsen (2004) mit klinisch Depressiven zeigte z. B., dass schon ein kurzzeitiges Üben von Kampfsport (im Gegensatz zum Fahren eines stationären Fahrrades) bei Ungeübten eine Reihe positiver Wirkungen haben kann: eine positivere Stimmung, eine Verringerung negativer Gefühle und von Angst und vor allem eine erhöhte Selbstwirksamkeitserwartung, d. h. die eigene Erwartung, aufgrund eigener Kompetenzen gewünschte Handlungen erfolgreich selbst ausführen zu können.
Eine Angehörige der IHSDO, einer Verteidigungssportart, berichtete mir, dass sie eine größere Wahrnehmungsgenauigkeit, ein höheres Selbstbewusstsein, bessere Reflexe und eine verbesserte Fitness entwickelt habe. Die Verbesserung der Fitness ist auch deshalb wichtig, um sich schneller aus einer Gefahrensituation entfernen zu können.
Untersuchungen mit einem Eyetracker, der der Analyse der Blickbewegungen dient, zeigten deutliche Unterschiede zwischen Kampfsportexperten und Personen ohne Training. Diese achten nicht auf Details, streifen vorhandene Personen nur kurz mit einem Blick und sind womöglich noch durch Telefonieren abgelenkt.
Kampfsportexperten nehmen dagegen ihre Umgebung genauer war, sehen auch Details, die gefährlich sein könnten, z. B. Ausbuchtungen in der Kleidung, wo Waffen versteckt sein könnten. (http://www.n24.den24/Mediathek/Dokumentationen/d/2660106/selbstverteidigung-extrem.html). Kampfsportexperten haben also einen besseren Gefahrenradar.
Allerdings lassen die eingangs erwähnten beiden Beispiele aus dem Karate – Ähnliche kann man wohl auch bei anderen Kampfsportarten finden – Zweifel daran aufkommen, ob die von Nishiyama und Brown (1960) genannten Prinzipien automatisch nur durch sportliches Training bewirkt werden können. Man beachte: Sie bezogen sich auf die Erfahrungen der alten Meister, die in realen Gefahrensituationen kämpften. Der Kampfsport läuft dagegen nach bestimmten Regeln ab (z. B. war früher im Karate-Wettkampf „Durchschlagen“, also Körperkontakt, sogar verboten und führte zur Disqualifikation!). In der Realität weiß man auch oft nicht, wer ein potenzieller Gegner sein könnte, worin eine Gefahr überhaupt bestehen könnte usw.
Das Beispiel der Ärztin zeigt aber auch, wie wichtig es ist, dass die von ihr gezeigte Geisteshaltung durch das Training und die Beherrschung von Kampftechniken unterstützt wird:
Eine 19-jährige Schülerin aus Ottweiler befand sich gerade auf einem Feldweg beim Joggen, als drei junge Männer versuchten, sie zu vergewaltigen. Die Judoka schlug die drei mit einem Messer bewaffneten Männer mit Schlägen und Tritten in die Flucht (HNA vom 15. 5. 1986). In Kopenhagen drohte ein junger Mann, ein elfjähriges Mädchen zu töten, wenn es sich weigerte, mit ihm in eine Lagerhalle zu gehen. Er setzte ihm ein Messer an die Kehle. Da versetzte ihm das Mädchen, das den gelben Gürtel im Taekwondo besaß, einen Schlag auf den Solar Plexus, worauf der Mann sein Messer fallen ließ. Als er es wieder aufheben wollte, stampfte sie mit ihrem Fuß auf seine Hand und flüchtete erfolgreich (HNA vom 7. 10. 1984).
Um sich in Gefahrensituationen relativ gefahrlos bewegen zu können, braucht man zunächst Strukturwissen. D. h., man muss die Gegebenheiten der Situation kennen, z. B. derjenige, der sich in eine Wildnis begibt oder ein Stadtmensch die Regeln des Ritualkampfes (Kernspecht, 2011). Man muss für zwischenmenschliche Begegnungen eine wichtige Grundregel kennen. Wenn man nicht die offenen Handflächen einer Person sehen kann, sollte man vorsichtig sein: Sie könnte z. B. ein Messer darin verborgen haben, s. z. B. die Abbildungen in Thompson (1997, S. 54–55).
Man muss einen Gefahrenradar entwickeln, um sich mit gelassener Wachsamkeit bewegen zu können. Dazu muss man lernen, in einer Situation Gefährliches von Ungefährlichem unterscheiden zu können. Hilfreich dabei ist z. B. ein wichtiges Prinzip: Ich muss immer darauf achten, was der andere mit den Händen macht. Ich war selbst dabei, als ein Polizist bei einer Verkehrskontrolle (Rollenspiel)„erschossen“ wurde, weil er überhaupt nicht registrierte, dass der kontrollierte Fahrer unter den Fahrersitz griff und einen Revolver hervorholte. Es handelte sich zwar nur um Farbmunition, aber im Ernstfall wäre es für den Polizisten gefährlich ausgegangen.
Um Gefahren der Realität begegnen zu können, benötigt man auch ein größeres Verhaltensrepertoire, d. h. auch Techniken für spezifische Situationen. Dies ergibt sich z. B. auch aus dem, was Matt Thomas – der Biologie und Psychologie in Harvard studierte – über die eingangs erwähnte Karate-Danträgerin berichtete: Sie war abends auf dem Weg zu ihrem Wagen, als sie angegriffen wurde. Ihre Stöße erwiesen sich gegen den Angreifer als wirkungslos. Dieser ergriff sie, warf sie auf den Boden, schlug sie schwer und vergewaltigte sie dann. Als sie dies dann in ihrem Dojo berichtete, erwartete man, dass ihr Meister erklärte, wie es möglich war, dass eine seiner besten Schülerinnen so unvorbereitet auf einen lebensechten Kampf war. Doch dieser betonte, dass dies ihr Fehler sei, dass sie alle beschämt hätte und dass sie härter trainieren müsse. Dies veranlasste Thomas, eine realitätsorientierte Selbstverteidigungsmethode zu entwickeln.
Dazu analysierte er 300 Angriffe gegen Frauen und stellte fest, dass Männer gegen Männer anders Gewalt ausüben als gegen Frauen. Männer kämpfen gegen Männer im Stand. Männer, die Gewalt gegen Frauen ausüben, werfen sie zumeist zu Boden, um sie zu vergewaltigen. Der Übergang auf den Boden ist für den Ungeübten wie der Fall eines Nichtschwimmers ins Wasser. Er fühlt sich hilflos und wird leicht zum Opfer. Der Geübte kennt dagegen verschiedene Möglichkeiten, sich zu wehren. Thomas betonte, dass aus körperlichen Gründen Frauen beim Bodenkampf gegen Männer eine größere Chance hätten als im Stand. Und selbst wenn man in der Unterlage ist, hat man große Erfolgschancen, wenn man die Techniken des Judo-Bodenkampfes beherrscht. Man beachte: Valin (1953) hatte im ersten seiner beiden Bücher über Bodenkampf ausschließlich und umfangreich die vielen Techniken für diese Situation geschildert, also Tori (japanisch für den die Technik Ausführenden) am Boden, Uke (an dem die Technik ausgeführt wird) über ihm. Er berichtet auch von japanischen Judomeistern, die trotz ihres hohen Alters und geringem Körpergewicht am Boden kaum bezwingbar waren. Auch eine Fernsehdokumentation, in der aufwändig Selbstverteidigungstechniken biomechanisch und medizinisch untersucht wurden, zeigte: Frauen können auch in der Unterlage mit der richtigen Technik einen stärkeren Mann besiegen (http://www.n24.de/n24/Mediathek/Dokumentationen/d/2660106/selbstverteidigung-extrem.html).
Es ist wie beim Schwimmen: Man kann auch, ohne schwimmen zu können, gut durchs Leben gehen. Wenn man aber ins Wasser fällt, ist es sehr nützlich, schwimmen zu können. Und genauso gibt es – auch für Polizeibeamte – Situationen, wo es nützlich und lebensrettend ist, (zumindest einige der) Techniken des Bodenkampfes zu beherrschen, s. z. B. S. 119.
Thomas zeigt aber auch auf, dass es unerlässlich ist, die Techniken in realen Situationen nachempfundenen Rollenspielen zu üben. Bei derartigen Realitätstrainings (Fahrzeugkontrolle, Amoklage u. Ä. bei der Polizei) werden hier z. T. erhebliche Fehler technischer und psychologischer Art deutlich, die dann abgestellt werden können. Schmalzl (2008) wies empirisch nach, dass solche Realitätstrainings nicht nur die Einsatzkompetenz der Polizeibeamten verbessern, sondern auch eine Stressimpfung bewirken und deshalb gut auf potenzielle Gefahren vorbereiten.
Auch in Gefahrenszenarien eingeübte Kampfsporttechniken (gleichgültig, um welches System es sich dabei handelt) können dann sachgerecht in realen Situationen nicht nur helfen, Gefahren zu bewältigen, sondern sie bereits im Vorfeld gewaltfrei zu lösen. Dazu exemplarisch für viele Beispiele der Bericht einer 17-Jährigen.
„Seit ca. acht Monaten trainiere ich (17) in der WingTsun-Kampfkunstschule von Frauen für Frauen und Mädchen. … Im Training lerne ich durch sicheres Auftreten und durch das Setzen von Grenzen, nicht zum Opfer zu werden. Dadurch war es mir möglich, einer anderen Person bzw. mir selbst zu helfen.
Vor einiger Zeit ging ich um 17.00 Uhr zur Straßenbahnhaltestelle in Kassel, um nach Hause zu fahren. Schon von Weitem sah und hörte ich einen wütenden und aggressiven älteren Mann (ca. 40 Jahre), der auf ein Mädchen (ca. 15 Jahre) lautstark einredete. … Auf jeden Fall schien das Mädchen eingeschüchtert und ein wenig verängstigt zu sein. Plötzlich packte der Mann das Mädchen mit beiden Händen im Gesicht und schrie sie weiter an. Ihre Freundinnen konnten nichts ausrichten. Da dachte ich mir: Ich muss jetzt einfach handeln, wer weiß, was sonst noch alles passiert. Ich stellte mich in die BlitzDefence Position und sagte laut und bestimmt „Lassen Sie das Mädchen in Ruhe“. Er entgegnete mir nur mit „Halt die Fresse“. Ich wiederholte meinen Satz und wurde dabei etwas lauter. Der Mann ließ das Mädchen los, kam wütend auf mich zu und schrie mich an: „Misch dich nicht in meine Angelegenheiten ein“. Erst war ich etwas geschockt, aber da wir im WT-Training solche Bedrohungssituationen im Rollenspielen geübt hatten, wusste ich trotz des Adrenalins, wie ich mich richtig verhalte. Ich schrie ihn laut und entschlossen an: „Stopp“, er blieb stehen und ich fuhr fort: „Gehen Sie weg“. Er schrie mich weiter an. Ich wiederholte mich dreimal: „Gehen Sie weg!“ und war fest entschlossen, wenn er jetzt nicht geht, dann schlag ich zu. Er ging dann jedoch von selbst. Das Mädchen bedankte sich bei mir und ging ihren Weg. Ich bin froh, dass ich ihr durch mein im WingTsun-Training eingeübtes Verhalten helfen konnte“
(http://www.wingtsun-kassel.de/erfolgsgeschichten_zivilcourage.html).