Читать книгу Psychologie der Eigensicherung - Uwe Füllgrabe - Страница 15
5. Unkenntnis von richtigem Verhalten in Gefahrensituationen
ОглавлениеNatürlich ist es wichtig und meist erfolgreich, Gewalt durch Kommunikation zu vermeiden – ich habe bereits 1981 auf die Bedeutung einer aggressionsvermeidenden Kommunikation hingewiesen (Füllgrabe, 1981).
Doch leider gibt es auch Menschen und Situationen, bei denen gutes Zureden nicht hilft, die einen übertölpeln wollen oder die einen angreifen. Und auf solche Personen und Situationen muss man vorbereitet sein. Da dies aber nicht ins Weltbild mancher Menschen passt, bereiten sie sich auch nicht darauf vor.
Am Kölner Hauptbahnhof kam es an Silvester 2015/2016 zu massenhafter sexueller Belästigung von jungen Frauen und zu Diebstählen, nach Augenzeugenberichten vorwiegend durch junge nordafrikanische Migranten. Diese Ereignisse lösten in der Öffentlichkeit großes Entsetzen aus. Auf einer Pressekonferenz danach erwähnte die Kölner Oberbürgermeisterin, Frau Reker, mehrere Verhaltensregeln für den Karneval, was erstaunlicherweise Unverständnis, Ablehnung und sogar Häme im Netz auslöste. Beispielsweise löste ihr Ratschlag, (fremde) Personen auf eine Armlänge Abstand zu halten, viele hämische Bemerkungen aus. Im Internet kursierten z. B. Bilder eines Maßbandes, um den Abstand genau zu messen, eine vielarmige indische Göttin usw. Ein Blogger ironisierte ihn mit dem Vorschlag, man könne ja auch den Islamischen Staat mit einer ausgestreckten Hand aufhalten, ein anderer schrieb, dass auch ein Verletzter, der am Boden liegt, einen Helfer auf Armlänge Abstand halten müsse.
All dies verrät a) eine erschreckende Unkenntnis vom Wesen von Gefahren und vom richtigen Verhalten in einer Gefahrensituation und b) ein völlig naives Weltbild. Und es zeigt, dass sich die Kritiker auf alle Interaktionen beziehen, nicht nur auf solche in der Karnevalszeit. Dort muß man selbst entscheiden, ob man in einer großen Menschenmenge das Risiko eingehen will, angegriffen oder Opfer eines Taschendiebstahls zu werden.
Um nicht Opfer eines Angriffs oder Taschendiebstahls zu werden, muss man auf eine Reaktionsdistanz (s. Kap 3. 6) achten. Thompson (1997, S. 116) spricht deshalb von einem psychologischen Zaun, den niemand verletzen darf. Er versteht darunter die selbstsichere/aggressive Ausstrahlung eines Menschen bzw. das entsprechende Verhalten. Man beobachtet den Gegner genau, sodass man erkennen kann, wann er sich bewegt oder böse Absichten hat. Wenn der Gegner sich vorwärts bewegt, kann man sich rückwärts bewegen oder ihn mit einer Kampftechnik stoppen.
Der psychologische Zaun ist die erste Verteidigungslinie. Dazu reicht bei einem potenziellen Angreifer oft schon aus, dem Gegenüber die offene Handfläche (oder beide) entgegenzustrecken und laut „Halt!!!“, „Stopp!!!“ usw. zu rufen. Dies signalisiert dem Gegenüber: Bis hierher und nicht weiter. So wird es auch in vielen Selbstverteidigungskursen gelehrt. Dies ist die erste Verteidigungslinie. Der psychologische Zaun verrät dem Gegenüber die eigene Stärke. Man beachte: Täter greifen vorwiegend nur Personen an, die sie als schwach einschätzen: unaufmerksame, hilflose, betrunkene u. ä. Personen (Füllgrabe 1997, 2016).
Dass dies nicht unbedingt hilft, wenn man von mehreren Personen eingekreist wird, zeigt, dass es eben Situationen gibt, in denen man weniger eigene Handlungsmöglichkeiten hat als in anderen. Hier hätte man nur zwei Optionen: sich passiv in sein Schicksal zu ergeben und vielleicht verletzt oder sogar getötet zu werden oder sich zu wehren: „treten, schlagen, kratzen, beißen“ usw., wie es Andreas Mayer empfiehlt, der Leiter der Polizeilichen Kriminalprävention der Länder und des Bundes (HNA, 6. 1. 2016).
Auch ein anderer Tipp von Frau Reker ist realitätsgerecht: sich in einer Gruppe aufzuhalten. Einer einzelnen Person wäre anzuraten, sich in der Nähe einer größeren Gruppe aufzuhalten, um in einem Notfall Hilfe zu bekommen. Um das Prinzip der geteilten Verantwortung zu durchbrechen, muss dann eine bestimmte Person angesprochen werden, z. B. „Sie, im blauen Pullover, bitte helfen Sie mir!“, usw.
Wichtig ist auch ein Gefahrenradar, d. h. genau die Örtlichkeit und die Menschen zu beobachten und auf Veränderungen ihres Verhaltens zu achten. Eine Schülerin berichtete von Köln: „Als wir die Menschenmassen sahen, sind wir schnell zum Hinterausgang. Deshalb ist uns wahrscheinlich nichts passiert“ (Schmaderer, 2016, S. 32).
Auch die Kritik, mit der Vermittlung von Verhaltenstipps würde den Frauen die Schuld zugewiesen, verrät ein realitätsfernes Weltbild. Die Kriminalpsychologin Anna Salter (2006, S. 247) betont nämlich: „Die Welt ist genau genommen ein ziemlich riskanter Ort. Jede Menge schlimmer Dinge können einem da draußen zustoßen, und oft tut sie das auch.“
Salter (2006, S. 263) schildert dazu folgenden Vorfall: „Mitten am Nachmittag gingen nach einem Theaterbesuch vier Erwachsene und drei Kinder über den vollen Gehweg hinunter, die Kinder ein paar Schritte vor den Erwachsenen. Es war keine verrufene Gegend und nicht einmal Abend. Verständlich, dass niemand über Sicherheit nachdachte.
Was dann geschah, ging so schnell, dass Jonathans Vater es nur mit viel Glück bemerkte. Der Vater sprach mit einem der anderen Erwachsenen, als er zufällig beobachtete, dass ein Mann, die Augen starr auf Jonathan gerichtet, aus der Menge geradewegs auf sie zukam. Sein Blick war so auffällig fixiert, dass es dem Vater seltsam vorkam, und er den sich nähernden Mann fest im Auge behielt, allerdings zunächst eher verwundert denn alarmiert. In dem Moment, als der Mann Jonathan erreichte, legte er dem Jungen die Hand auf die Schulter. Plötzlich packte er Jonathan am Arm und versuchte, mit ihm im Getümmel zu entschwinden.
Jonathans Vater machte einen Satz nach vorn, als er sah, wie sich die Hand des Mannes seinem Sohn näherte, und schaffte es gerade, als dieser in die Menge abtauchte, seinem Sohn den Arm um die Taille zu legen. Der Mann ließ von dem Jungen ab und verschwand.“
Der Vater hatte also einen guten Gefahrenradar. Starre fixierte Augen sind nämlich zumeist ein Hinweis auf einen Angriff.
Man muss also betonen: Jeder hat zunächst selbst die Verantwortung für sein eigenes Leben. Und zur Bewältigung gefährlicher Lagen ist Survivability wichtig. Darunter ist die Gesamtheit aller psychologischen Faktoren der Gefahrenwahrnehmung und Gefahrenvermeidung zu verstehen.
Zunächst ist dazu eine innere Haltung notwendig, die Hamlet (Shakespeare, o. J., S. 119) so formulierte: „Geschieht es jetzt, so geschieht es nicht in Zukunft; geschieht es nicht in Zukunft, so geschieht es jetzt; geschieht es jetzt nicht, so geschieht es doch einmal in Zukunft. In Bereitschaft sein ist alles.“ („If it be now, ’tis not to come; if it not come, it will be now; if it be not now, yet it will come. The readiness is all.“), Deshalb gilt das Prinzip: Erwarte das Unerwartete! Sei vorbereitet! Ripley (2010, S. 15) schrieb entsprechend: „.. bin ich heute, nachdem ich dieses Buch über Katastrophen geschrieben habe, weniger ängstlich. Ich kann Risiken sehr viel besser einschätzen.“ Und deshalb sind Verhaltenstipps überlebenswichtig.
Es gibt natürlich auch Situationen, in denen man weniger Überlebenschancen hat als in anderen. Gemäß Miller (2011, S. 122) haben aber Personen sogar Bärenangriffe überlebt, indem sie sich tot stellten. Er betont: Das ist keine hochprozentig erfolgreiche Strategie, aber wenn die Umstände wirklich schlecht sind, ist eine gering prozentige Strategie besser als nichts. Und, wie in diesem Buch gezeigt wird, kann eine selbstsichere Körpersprache Angreifer abschrecken, selbst wenn man den potenziellen Angreifer nicht bemerkt.