Читать книгу In deutschen Zeiten - Uwe Heit - Страница 10
Abendschule
ОглавлениеIch hatte mich entschlossen, neben der Arbeit im Wald das Abitur zu machen. An der Abendschule. Einer meiner Mitschüler war Kurt, ein junger, sehr korrekter Mann mit altmodischer Brille. Er wollte nach dem Abitur Koch in der Nationalen Volksarmee werden. Keiner in unserer Klasse verstand seinen Wunsch: Wir waren der Meinung, dass eine Karriere als Koch in der NVA keine Karriere war. Kurt arbeitete als Koch in einer heruntergekommenen Gaststätte der Altstadt, deren Hilfskoch auch während der Arbeit trank. Ihn im Sinne des sozialistischen Kollektivs zu erziehen, war keine einfache Aufgabe für Kurt. Vielleicht wollte er deshalb einen Arbeitsplatz mit klaren Strukturen und eindeutiger Befehlsgewalt. Unser Mitschüler Olaf war ein schlaksiger, gutmütiger junger Mann. Er war Tischler und Mitglied einer kleinen kirchlichen Gemeinde. Olaf erzählte uns gern, wie Mitglieder seiner Gemeinde zum christlichen Glauben gefunden hätten. Mit leuchtenden Augen berichtete er von einer jungen Frau, die täglich achtzig Zigaretten geraucht und hemmungslosen Sex gehabt hätte, bis sie durch ihn zum christlichen Glauben und zur Enthaltsamkeit bekehrt worden sei. Olaf war seit Jahren auf der Suche nach einer Frau für die Ehe. Natürlich sollte sie Mitglied seiner Glaubensgemeinschaft sein, was seine Wahl erheblich einschränkte. In unserer Stadt kamen für ihn nur zwei Mädchen infrage. Er charakterisierte beide in einer Weise, die es klar an christlicher Nächstenliebe fehlen ließ, und blieb auch nach den Protesten der Mädchen unserer Abendklasse dabei. Notgedrungen suchte er ein heiratswilliges Mädchen in anderen Gemeinden der DDR. Er fuhr mit seinem Motorrad in den Süden, in den Norden, nach Osten und Westen, ans Meer und in die Berge. Überall wurde er enttäuscht. Olaf schimpfte wochenlang über das Treffen mit einer verdorbenen, sündigen Glaubensgenossin, bei deren Anblick er nach einer Fahrt von dreihundert Kilometern sofort das Motorrad gewendet und wieder nach Hause gefahren sei. Das Mädchen habe sich die Lippen geschminkt! Seine künftige Ehefrau sollte unbedingt noch eine weitere Leidenschaft mit ihm teilen: die Liebe zum Seeadler in Mecklenburg. Durch die Schädlingsbekämpfungsmittel der Landwirtschaft, deren Gift durch Beutetiere auch in den Körper des Adlers gelangte, war der Vogel fast ausgestorben. Olaf widmete sich in seiner freien Zeit den letzten mecklenburgischen Adlern. Tagelang beobachtete er mit einem Fernrohr den letzten bewohnten Adlerhorst in unserem Landkreis. Nie, nie, niemals würde er dessen Platz verraten, versicherte er uns. Uta war eine muntere Rothaarige. Sie stellte sich der Klasse mit dem Satz vor: »Ich bin die Müllerin!« Sofort sah ich Uta vor mir, wie sie mehlüberstäupt und keuchend riesige Mehlsäcke durch eine Mühle schleppte. Tatsächlich arbeitete sie als Buchhalterin in einer Getreidemühle. Uta fragte mich am ersten Tag, ob wir nicht zusammen Schularbeiten machen wollten. Wir standen auf dem Flur der Abendschule und sie presste ihre Hüfte gegen meine. Uta verließ die Klasse nach einem Streit mit Herrn Schulz, dem Direktor der Abendschule, der auch unser Russischlehrer war. Wir Schüler waren bestürzt von der Nachricht, dass wir auch das Fach Russisch haben würden. Alle waren der Meinung, dass wir schon genug sinnlosen Russischunterricht gehabt hätten. Sogar Kurt äußerte diese Meinung, wenn auch nur leise. Immerhin wollte er fünfundzwanzig Jahre in der Armee dienen. Herr Schulz war ein sehr großer, sehr schlanker Mann mit spiegelblanker Glatze; ein Mann mit sehr aufrechter Haltung: Herr Schulz behauptete, Russisch sei die künftige Weltsprache auf allen Kontinenten. Wir hielten dagegen, dass wir Russisch in unserem Alltag nicht anwenden konnten, dass wir als Ausländer den größten Teil der Sowjetunion nicht bereisen durften und die Sprache in den anderen sozialistischen Ländern sehr unbeliebt war. Der Direktor sagte sehr vorwurfsvoll, Russisch sei die Sprache von Puschkin und Tolstoi. Es war schon erstaunlich, dass wir es überhaupt wagten, mit ihm über den Sinn dieses Unterrichtsfachs zu diskutieren. Wir unterlagen dem Irrtum, dass berufstätige Erwachsene eine eigene Meinung vertreten durften. Der Direktor befreite uns davon, indem er knapp erklärte, dass wir die Sprache der Sowjetunion beherrschen müssten, wenn wir das Abitur absolvieren wollten. Kurt, der zukünftige Offizier, hatte zu diesem Zeitpunkt längst nichts mehr gesagt. Olaf, als Mitglied einer geduldeten kirchlichen Gemeinde in der DDR, hatte gar nicht erst mit dem Direktor diskutiert. Uta war die einzige Schülerin, die den Sieg der russischen Sprache in der Welt nicht akzeptierte. Sie diskutierte gern und wusste nicht, wann man aufhören musste. Herr Schulz interpretierte das Schweigen der anderen als Zustimmung und sagte etwas zu ihr, was die meisten von uns so oder ähnlich längst von ihm erwartet hatten. »Es drängt sich mir die Frage auf, ob Sie an diesem Ort richtig aufgehoben sind.«
Unser Deutschlehrer war Herr Backhaus, ein kleiner, gütiger Mann mit rundem, rotwangigem Gesicht, ein Pädagoge, wie geschaffen für den Beruf. Er war Direktor an meiner Grundschule gewesen, bevor er viele Jahre als Hilfsarbeiter in einer Fabrik zur Herstellung von Briketts gearbeitet hatte. Ein ehemaliger Mitschüler von mir, Detlef Pieckowna, war nicht unschuldig daran gewesen, dass Herr Backhaus Hilfsarbeiter geworden war. Detlef war zunächst so unauffällig gewesen, dass andere Kinder in der Klasse nicht einmal über sein Aussehen spotteten. Lehrer wurden erst auf ihn aufmerksam, wenn wieder einmal feststand, dass Detlef der beste Schüler der Klasse war. Dann wurde er dreizehn Jahre alt und Hormone veränderten seinen Körper. Detlef entdeckte die Liebe. Viele verlieben sich mit dreizehn, die meisten in andere junge Menschen. Detlef verliebte sich in Waffen. Soldaten hatten viele Waffen in den Wäldern, den Seen, in den Flüssen und Teichen unserer Gegend zurückgelassen, besonders am Ende des letzten Weltkriegs. Detlefs Vater, ein Lehrer, verbot seinem Sohn das Spielen mit Waffen, aber was kann ein Vater machen gegen die erste große Liebe eines Dreizehnjährigen? Detlef sammelte Waffen, kaufte sie sogar, von Sowjetsoldaten, die Bilder von nackten Frauen haben wollten. Eines Tages fragte ich ihn, ob er den alten Revolver kaufen wolle, den ich beim Ausschachten einer Sickergrube gefunden hatte. Er antwortete mir: »Ich kaufe nur noch Waffen der Wehrmacht.«
Detlef hatte sich in kurzer Zeit sehr verändert. Die Liebe hatte ihn verändert. Seine Leistungen in der Schule hatten sich verschlechtert. Und Detlef hatte endlich Freunde gefunden. Schüler, die ihn früher verprügelt hatten. Seine Haare waren kurz, raspelkurz. Schließlich kam er an einem warmen Tag in einer Tarnjacke der SS mit einem Hakenkreuz in weißer Farbe auf dem Rücken in die Schule. Detlef wurde in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen. Seine Freunde behaupteten, Detlef sei der Führer gewesen. Ihr Verführer. Er habe sie verführt zu Schießübungen im Wald und Heil-Hitler-Geschrei im Kinderzimmer. Unser Klassenlehrer wurde deswegen entlassen. Auch der Staatsbürgerkundelehrer der Schule. Herr Backhaus als Direktor. Detlefs Vater, der Lehrer, ebenso. Einige Lehrer der Schule, die beweisen konnten, dass sie Detlef nie beachtet hatten, durften an Schulen in fernen Dörfern weiter lehren. Nach einigen Jahren wurde Detlef aus der Klinik entlassen. Jetzt ging er mit schnellen Schritten, unnahbarem Gesicht und zackigen Kommandos für seinen Deutschen Schäferhund durch die Stadt. Manchmal erlaubte sich jemand, der ihn von früher gut kannte, einen Spaß und fragte ihn, wie viel Sprengstoff man benötige, um dieses oder jenes Gebäude der Stadt zu sprengen. Detlef rechnete dann sofort die Menge im Kopf aus. Nach der Vereinigung beider deutscher Staaten würde er als ein Opfer der SED-Diktatur eine kleine Rente erhalten.
Herr Tuarek, unser Mathematiklehrer, war ein alter Mann mit einem feinen blassen Gesicht. Im Unterricht trug er immer einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und eine Fliege. Er war ein so guter Lehrer, dass sogar ich Interesse für Mathematik entwickelte. Herr Tuarek erzählte uns beiläufig, wie unabsichtlich aus seinem Leben. Als er erzählte, wie die Deutschen aus seiner Heimatstadt in der Tschechoslowakei in einem Zug nach Westen transportiert wurden, spürte ich seine Zufriedenheit, dass in seinem Waggon kein Mensch gestorben war. Menschen wie ihn, Sudetendeutsche, existierten für die Staatsmedien der DDR nur in Westdeutschland und wurden von ihnen »Revanchisten« und »Kriegstreiber« genannt. Herr Tuarek aber lebte in der DDR. Obwohl die DDR-Medien ständig über Drogen, Kriminalität und Prostitution in der BRD berichteten, behauptete Herr Tuarek, dass seine Geschwister, seine Neffen und Nichten ohne Heroin, Schlägereien und Prostitution in Westdeutschland lebten. Natürlich konnte er von ihrem Leben nur aus Briefen, Telefongesprächen und beim jährlichen Treffen der Familie in Prag erfahren. Ein Besuch bei ihnen in Westdeutschland war für ihn verboten: sicher wegen der Drogen, der Kriminalität und der Prostitution. Unsere Klassenlehrerin war Frau Leis, eine kleine, rundliche, schwatzhafte Person. Sie mochte mich nicht, seitdem wir Schüler ihr hatten erzählen sollen, was wir im Leben erreichen wollten. Kurt hatte von seinem fünfundzwanzigjährigen Dienst in der Nationalen Volksarmee erzählt, was sie mit einem wohlwollenden Kopfnicken kommentierte. Ich hatte gesagt, dass ich ein erfolgreicher und berühmter Schriftsteller werden würde. Mit einer solchen Antwort hatte Frau Leis nicht gerechnet. Sie hatte mich betrachtet, als hätte ich etwas Unanständiges gesagt. Einen Schüler wie mich hatte sie sicher noch nie gehabt. Wahrscheinlich hatte sie auch Angst vor mir. Mein Anblick erinnerte sie ständig an ihre eigene kümmerliche Existenz. Nach sieben Monaten hatte ich das Interesse am Abitur verloren und besuchte die Abendschule nicht mehr. Schließlich hatte ich ein wichtigeres Ziel im Leben.
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich längst erkannt, dass der Wald nicht romantisch war, wenn man dort jeden Tag Bäume sehen musste. Es war langweilig. Sterbenslangweilig. Ich blieb bei der Arbeit auf dem Weg von Baum zu Baum oft stehen und träumte mit offenen Augen. Besonders an schönen Tagen. Manchmal stundenlang. Tagträume des Waldes. Herr Deutsch, mein Brigadier, behauptete vorwurfsvoll, ich sei der schlechteste Harzer, der je in seiner Brigade gewesen sei. Er habe ohnehin nie viel von mir erwartet, weshalb er mir gleich ein schlechtes Waldstück zugeteilt habe. Ich brachte es nicht fertig, ihm zu sagen, dass ich bald ein berühmter, erfolgreicher Schriftsteller sein würde und er eigentlich Glück mit mir gehabt habe. Schließlich hatte er schon einige Alkoholiker und Kriminelle in seiner Brigade aufnehmen müssen, damit sie durch das sozialistische Kollektiv des Waldes gesund und gebessert würden. Der Mann wurde immer lästiger durch seine Forderung, dass ich arbeiten solle. Er wollte immer das Gleiche. So durfte es nicht weitergehen. Am Ende traf ich mich mit unserm Chef, dem Förster, im VEB Forstbetrieb. Sicher hatte er durch meinen Brigadier ein schlechtes Bild von mir, weshalb ich schonungslos meine Schwächen offenbarte. Herrn Deutsch aber lobte ich. Er kämpfe für das sozialistische Kollektiv. Des Försters strenger Blick auf mich wurde allmählich nachdenklich. Er brauche jemanden zum Bäumepflanzen in einer anderen Forstbrigade. Ob ich arbeiten könne, wenn ich jeden Tag mit dem Auto von der Haustür abgeholt und an den Arbeitsplatz gebracht würde. »Wir können es versuchen,« sagte ich.
Johann und Viktor, dreißigjährige Zwillinge, waren meine Kollegen in der neuen Brigade. Wir pflanzten Kiefern, Lärchen und Fichten. Ich pflanzte gern Bäume. Es war ein schönes Gefühl, als ich zehntausend gepflanzt hatte. Oft stellte ich mir vor, wie die Bäume, die das Waldsterben überlebten, in hundert Jahren aussehen würden. Schulklassen würden sie ehrfürchtig betrachten, weil der große Schriftsteller Frank Grunwald sie eigenhändig gepflanzt hatte.
Als einmal ein Sturm Thüringens Wälder verwüstet hatte, erhielten wir Arbeiter das Angebot, für den doppelten Lohn, kostenlose Verpflegung und Unterkunft den Windbruch zu beseitigen. Ich wollte in den Süden: Goethe war nach Italien gereist und ich würde den Süden der DDR kennenlernen. Weil ich keinen Sägeschein hatte, sollte ich mit einer Axt die Äste gestürzter Bäume abschlagen und so den Transport erleichtern. Ich reiste mit fremden Forstarbeitern in einem Auto in den Süden. Die Verachtung der Männer für mich als Arbeiter ohne Sägeschein wurde noch größer, als sie erfuhren, dass ich keine Flasche Schnaps im Gepäck hatte. Ich spürte eine feindliche Stimmung zwischen uns. Die ersten Flaschen kreisten nur unter den anderen im Auto herum. In Brandenburg jedoch schlug mir ein Forstarbeiter, durch den Alkohol gutmütig gemacht, auf die Schulter: »Sollst nicht leben wie ein Schwein, du Arsch!«, bevor er mir die Flasche an den Mund hielt.
In Thüringen schliefen wir zu zwanzigst in Klassenzimmern einer ausgeräumten Schule. Unsere Betten stammten aus Armeebeständen. Dicke, gemütliche Frauen kochten für uns Essen mit Kümmel. Ein Mecklenburger regte sich über den Kümmel an allen Gerichten dermaßen auf, dass er einen Herzinfarkt erlitt. Meine Axt hätte ich zu Hause lassen können. Ich wurde Gehilfe von Max, einem Forstarbeiter, der mit einer großen, schweren Maschine riesige, umgestürzte Bäume im Dutzend zum nächsten Waldweg zog, wo sie von anderen Forstarbeitern zersägt wurden. Ich befestigte die Drahtseile der Zugmaschine an den umgestürzten Bäumen, bevor Max sie geschickt über große Steine und kleine Felsen in dem bergigen Gelände zog. Eines Tages schlief Max in der Zugmaschine seinen Rausch aus, weil er am Vorabend zu viel Kümmelschnaps getrunken hatte. Ich kletterte derweil auf den größten Baum des höchsten Bergs der Gegend. Viele Kilometer weit sah ich sterbende Bäume auf Bergen und in Tälern. Schwarze, nadellose, skelettartige Bäume ragten in den Himmel. Vergiftet von Schadstoffen der großen volkseigenen Betriebe der DDR und der Tschechoslowakei. Überall sah ich sterbende Bäume. In der tödlichen Stille des Waldes, auf dem Gipfel des Berges, erinnerte ich mich an Goethes Gedicht »Über allen Wipfeln ist Ruh«.
Damals begann ich, meinen ersten Roman zu schreiben. Mein Held war ein junger Bauarbeiter, dem ein Mauerstein auf den Kopf gefallen war, wodurch ihm die Sinnlosigkeit seines Lebens bewusst wurde. Die ersten zwei Seiten des Romans schrieben sich fast wie von selbst. Ich träumte schon von riesigen Sälen voller begeisterter Zuhörer, aber auf der dritten Seite erlitt ich eine Schreibblockade. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich geriet in eine echte Identitätskrise. Um sie zu überwinden, benötigte ich eine andere Umgebung. Einen Ortswechsel. Ich wollte in die Fremde; in die Ferne. Ein Mann sollte drei Sachen in seinem Leben erledigen: ein Buch schreiben, ein Kind zeugen und einen Baum pflanzen. Ich würde etliche Kinder zeugen, wahrscheinlich mit verschiedenen Frauen. Bäume hatte ich viele gepflanzt: mehr als Goethe, Schiller und Büchner zusammen. Für die Bücher aber brauchte ich eine Veränderung. Es war Zeit für Erfahrungen. Raue Erfahrungen. Wichtige Erfahrungen.
Ich musste in die große, weite Welt.