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In Plattenbauten

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Nach der Scheidung meiner Eltern zog ich mit meiner Mutter in die Plattenbausiedlung der Stadt. Dort lebten viele ehemalige Bewohner der Altstadt, deren Bürgerhäuser schneller verfielen, als billige Plattenwohnungen gebaut werden konnten. Meine Mutter und ich wohnten in einer Wohnung der Albert-Hase-Straße. SS-Leute hatten am Ende des Zweiten Weltkriegs Albert Hases Vater aufhängen wollen, weil er Kommunist war und weil das Dritte Reich am Ende war. Alberts Vater hatte sich aber nicht aufhängen lassen, schon gar nicht wegen des Endes des Dritten Reichs, und hatte sich versteckt. Also hatte die SS anstatt des Vaters den Sohn erhängt. Wenigstens trug unsere Straße keinen der in Plattenbausiedlungen der DDR üblichen Namen wie Rosa-Luxemburg-Straße, Karl-Marx-Allee oder Juri-Gagarin-Ring. Nachts wankten grölende Betrunkene an unserem Plattenbau vorbei. Sie kamen aus der Altstadt, in der es neben verfallenden Bürgerhäusern Kneipen gab. Die Kneipen waren jeden Abend voll, denn Alkohol war billig in der DDR und Arbeit gesetzliche Pflicht, aus der niemand entlassen wurde. Vielmehr sollten Alkoholiker durch die sozialistischen Kollektive in den volkseigenen Betrieben erzogen werden – eine Aufgabe, an der viele sozialistische Kollektive scheiterten. Es war oft unerträglich warm in den Wohnungen der Plattenbausiedlung, denn deren Zentralheizung heizte unabhängig vom Wetter. Auch im Winter war es manchmal trotz offener Fenster unerträglich warm. Trotzdem mussten die Mieter keine hohen Heizkosten und überhaupt nur wenig Miete zahlen, weshalb Plattenbauwohnungen bei vielen begehrt waren. Die dünnen Wände zwischen den Wohnungen hingegen gehörten zu den Gründen, weshalb sie bei einigen nicht begehrt waren. Über uns wohnten die Sikorskys, eine Familie mit zwei kleinen Kindern. Herr und Frau Sikorsky begannen meistens gegen siebzehn Uhr zu streiten, wenn er von der Arbeit kam. Am Anfang stand immer die Behauptung, dass er wieder die »Schlampe«, eine Arbeitskollegin, »gevögelt« hätte. Herr Sikorsky kam manchmal nur vier oder fünf Minuten später als sonst nach Hause und seine Erklärungen für die Verspätungen hielt ich für glaubwürdig, aber sein Tonfall ließ mich um die Ehe der Sikorskys fürchten. Das Ehepaar Berndt wohnte unter uns. Frau Berndt erlaubte ihrem Mann das Zigarrenrauchen nur auf der Toilette, von wo der Rauch durch den Lüftungsschacht direkt in unsere Wohnung zog. Herr Berndt war der Hausvertrauensmann für die Mieter unseres Aufgangs. Er führte das Hausbuch, in das er den Namen jedes Fremden schrieb, der bei einem Mieter im Aufgang übernachtete. Er war auch dafür verantwortlich, dass die Mieter den Aufgang reinigten. Dass die Rentner von der Reinigung ausgenommen waren, stellte niemand infrage – bis ein Offizier mit seiner Familie in unseren Aufgang einzog. Der Major sagte, er müsse die Kapitalisten mit der Waffe in der Hand bekämpfen und habe keine Zeit, für die Alten den Besen zu schwingen.

An unserem Plattenbau entlang zog sich eine stark befahrene Straße, dahinter, keine fünfzig Meter von unserer Wohnung entfernt, lag der Güterbahnhof der Stadt. Bagger schütteten dort Kohle in Waggons, die beim Rangieren mit ohrenbetäubendem Lärm gegeneinander knallten. Kohlestaub wurde durch den Wind in die Wohnungen getragen, schwärzte die Wäsche und legte sich auf die Möbel, besonders dann, wenn die Zentralheizung der Plattenbausiedlung auf Höchststufe heizte: Dann mussten die Mieter alle Fenster ihrer Wohnungen öffnen, um die Hitze ertragen zu können. Viele Plattenbaubewohner waren davon überzeugt, dass der ständige Krach, der Kohlestaub und die Hitze die Ursachen für ihre Schlafstörungen und einige Krankheiten waren, was aber kein Arzt erkennen wollte oder konnte oder durfte. In dieser Umgebung wollte ich Schriftsteller werden. Im Lärm, im Dreck, in der Hitze.

Mit sechzehn sollte ich mich für eine Berufsausbildung entscheiden. Jeder Jugendliche musste eine Ausbildung machen. Ich aber konnte mich nicht entscheiden, weil Schriftsteller kein Lehrberuf war. Die anderen Schüler verschickten Bewerbungen, ich nicht. Meine Mutter wurde immer ungeduldiger und mein Vater wollte »etwas sehen« für das Geld, das er jeden Monat für mich bezahlte. Schließlich bewarb ich mich für eine Ausbildung als Pferdezüchter. In der Ablehnung wurde ich für meine Ehrlichkeit in der Bewerbung gelobt. Ich hatte erwähnt, dass ich noch nie auf einem Pferd geritten sei. Danach schrieb ich eine Bewerbung für die Ausbildung als Erdölarbeiter. Erdöl gab es im Norden der DDR. Ein wenig Erdöl. Einen Tropfen Erdöl, der sehr wertvoll für die kleine, arme DDR war. Diese Bewerbung lag lange auf meinem Schreibtisch, dann steckte ich sie in eine Schublade. Schließlich vergaß ich sie. Als alle anderen in der Klasse bereits einen Lehrvertrag hatten, behauptete meine Mutter, dass ich bald als arbeitsscheues Element irgendeiner Arbeit zugeführt würde. Schließlich bewarb ich mich für eine Lehrstelle als Baufacharbeiter in der vierzig Kilometer entfernten Bezirksstadt.

Wenn ich gewusst hätte, dass ich als Baufacharbeiterlehrling in der Bezirksstadt in einem identischen Plattenbau wie zu Hause wohnen würde: Ich hätte die Bewerbung als Erdölarbeiter abgeschickt! Hinter dem Lehrlingswohnheim lag der gleiche Spielplatz mit den gleichen Spielgeräten und Sandkästen wie zu Hause, davor die gleichen, grauen Gehwegplatten, die gleichen Straßenlampen und die gleichen grau-weißen Papierkörbe aus Stein mit schwarzem Plastikeinsatz. Die Eingänge des Wohnheims waren verriegelt bis auf einen, der von den Erziehern überwacht wurde. Ich wohnte mit sieben anderen Jugendlichen in einer Zweizimmerwohnung. Kein Lehrling durfte ohne Erlaubnis den Plattenbau verlassen. Herr Rogge, der Leiter, war ein stämmiger, untersetzter Mann, ein ehemaliger Maurer, der nach einem Arbeitsunfall Erzieher geworden war, sich aber immer noch als Maurer fühlte. Er stand oft am Eingang des Essenraums im Wohnheim und kontrollierte die Essenausgabe an uns Lehrlinge. Jeden Morgen gab es Marmelade, Butter und Brot und jeden Abend Wurst, Butter und Brot. Brot konnte jeder essen, so viel er wollte, aber nur im Essenraum. Niemand durfte auch nur eine Scheibe mitnehmen. »Wegen der Ratten«, sagte Herr Rogge. Morgens gab es dunkles heißes Wasser. Die Küchenfrau nannte es Kaffee. Das grüne heiße Wasser am Abend nannte sie Tee. Es roch muffig im Essenraum, weil die Fenster immer verschlossen und verriegelt waren. »Wegen der Ratten«, sagte die Küchenfrau; früher hatten Lehrlinge das Essen aus Protest aus dem Fenster geworfen. Wir mussten in Gruppen nach genau festgelegten Zeiten essen. Manchmal warteten wir auf der Treppe vor dem Essenraum, weil die Gruppe vor uns noch nicht fertig war. Herr Rogge stürzte uns die Treppe herunter, wenn es ihm zu laut wurde. Er brüllte uns von oben an, breitbeinig, die Hände auf den Oberschenkeln: »Muss ich euch Respekt vor der Küche beibringen?« Dann war er wieder ganz Maurer. Manche Lehrlinge provozierten das sogar. Im Keller des Lehrlingswohnheims, dem Freizeitbereich, war alles zerstört bis auf den blanken Beton und bis auf drei Tischtennisplatten. Die Platten waren verbogen, von Zigarettenbrandflecken übersät und wurden als Sitzplätze benutzt. Lehrlinge mit Zehnklassenabschluss durften immer darauf sitzen. Lehrlinge mit acht Klassen, von denen viele schlecht gestochene Tätowierungen auf Händen und Armen hatten, durften nur dann auf den Platten sitzen, wenn genug Platz für sie war. Teilfacharbeiterlehrlinge mit sechs oder sieben Klassen durften niemals auf den Platten sitzen. Sie standen an den Betonwänden des Kellers, rauchten ununterbrochen und sahen sehnsüchtig zu den sitzenden Lehrlingen hinüber.

Die meisten Erzieher im Lehrlingswohnheim waren ehemalige Maurer, die aus verschiedenen Gründen umgeschult hatten. Ein mürrischer Alkoholiker weckte uns jeden Morgen, indem er eine Eisenstange gegen die Metallgestänge unserer Betten schlug. In meiner Lehrbrigade waren wir zu neunt: acht Lehrlinge aus der Zweizimmerwohnung im Plattenbau und Kevin, der aus der Bezirksstadt selbst stammte. Am ersten Tag der praktischen Ausbildung warteten wir gemeinsam vor der Materialausgabe, einer kleinen Halle neben unserer Berufsschule, auf unseren Lehrmeister. Gesehen hatten wir ihn noch nie. Es war ein kalter Morgen. Wir warteten und froren und schimpften, denn der Lehrmeister war nicht pünktlich. Eine halbe Stunde nach dem Termin fuhr ein Mann auf einem Motorrad mit Beiwagen in unsere wartende, frierende, schimpfende Gruppe. Erschrocken sprangen wir auseinander. Der Fahrer, ein dicker, junger Mann in einer Tarnjacke der Gesellschaft für Sport und Technik, stieg gemächlich vom Motorrad. Wir hielten vorsichtig Abstand und betrachteten ihn. Er zog seine rutschende Hose hoch und sagte grimmig: »Ich bin Lehrmeister Günter Milch. Ich duze euch. Ihr siezt mich. Ich rede euch mit Vornamen an. Ihr nennt mich Lehrmeister. Klar?!«

Ein paar von uns nickten schüchtern. Unser Lehrmeister ging ohne ein weiteres Wort in die Halle, wir folgten ihm nach kurzem Zögern. Milch unterhielt sich lärmend mit dem Lagerverwalter, als der ihm Arbeitsgeräte und Berufsbekleidung aushändigte. Wir Lehrlinge brachten alles nach draußen und legten es auf einen Haufen. Als wir damit fertig waren, zeigte Milch darauf und sagte: »Worauf wartet ihr? Jeder nimmt sich was und ab zur Baustelle!«

Wir erklärten ihm, dass wir nicht wussten, wo die Baustelle war. Der Lehrmeister sagte ein paar unverständliche Worte, fuchtelte mit den Armen umher und fuhr mit dem Motorrad weg.

Ohne Kevin, den Ortskundigen, hätten wir uns auf dem Weg zur Baustelle sicher verlaufen. Schwer beladen fragte ich mich, ob das alles schon Teil der praktischen Ausbildung sein könnte. Auf der Baustelle fanden wir unseren Lehrmeister schließlich in der Kantine an einem Tisch mit Bauarbeitern. Er hatte uns anscheinend noch gar nicht erwartet. Milch führte uns auf der Baustelle in den Aufenthaltsraum der Lehrbrigade, einen Raum mit Tischen aus gepresstem Holz und Blechschränken an den Wänden. Er forderte uns auf, uns einzeln vorzustellen. Während die anderen Lehrlinge einer nach dem anderen redeten, entschied ich, dass ich mein Lebensziel, Schriftsteller zu werden, nicht erwähnen würde.

Am Ende der Vorstellungsrunde sah uns Lehrmeister Milch der Reihe nach an. »Der eine hat keine andere Lehrstelle gefunden. Der andere war zu faul gewesen, sich rechtzeitig woanders zu bewerben. Die meisten wollen mit Schwarzarbeit die dicke Marie verdienen. Idioten! Der Arsch wird euch noch auf Grundeis gehen.« Dann drohte er: »Wir werden ein Lehrlingskollektiv der sozialistischen Arbeit, denn dafür gibt es Geld. Wer ist dagegen?«

Grimmig sah er uns an. Keiner wagte, etwas dagegen zu sagen.

»Wer von euch macht den FDJ-Sekretär?«

Niemand meldete sich. Einige von uns duckten sich. Als ich den Lehrmeister im Befehlston sagen hörte: »Du bist der FDJ-Sekretär!«, hob ich den Kopf. Ludwig sah sehr unglücklich aus. Es hatte anscheinend ihn getroffen.

»Ich?«, fragte Ludwig erschrocken.

»Genau. Du«, schnarrte Milch.

»Ich bin so was noch nie gewesen.«

»Dann wird ’s Zeit. Wer von den anderen hat was dagegen?«

Spätestens jetzt wusste Ludwig, dass er verloren hatte.

»Einstimmig angenommen«, verkündete der Lehrmeister. »Wer wird sein Stellvertreter?«

Es war kindisch, aber ich senkte sofort wieder den Kopf in der Hoffnung, dass es mich so nicht treffen würde.

»Was ist mit dir!«, hörte ich den Lehrmeister.

Ich starrte auf die zerkratzte Tischplatte. Die Sekunden vergingen. Als ich Ingos Stimme hörte, atmete ich auf.

»Ich bin doch gar nicht in der FDJ!«, sagte Ingo triumphierend.

Nun sahen ihn alle an. Ich kannte bis dahin nur einen Jungen, der nicht Mitglied der Freien Deutschen Jugend der DDR war: Reinhold, dessen Eltern den Zeugen Jehovas angehörten. Er hatte nicht an den FDJ-Versammlungen teilnehmen müssen, worum er von allen anderen Schülern beneidet worden war.

»In meiner Truppe sind immer alle in der FDJ. Du darfst nach der Lehre wieder austreten«, sagte Milch.

»Wer ist dagegen, dass er unser Stellvertretender FDJ-Sekretär wird?«

Niemand sagte etwas.

»Wir brauchen einen Kassierer für die Mitgliederbeiträge der FDJ. Wer will es freiwillig machen?«

Ein Freiwilliger wurde gesucht. Das war neu. Ich wusste nicht, welche Posten er noch verteilen würde, aber der des Kassierers erschien mir erträglich. Dieser Lehrmeister würde dafür sorgen, dass alle den Beitrag bezahlten. Ich hob eine Hand. Milch war überrascht.

»Ein Freiwilliger. Das gab es ja noch nie. Du bist der Kassierer. Das war alles.«

Anschließend erklärte er uns die Zukunft: »Die Lehrer in der Berufsschule haben euch sicher gesagt, dass die meisten Maurer einen anderen Beruf erlernen müssen, wenn das Wohnungsbauprogramm im Jahr 1990 abgeschlossen ist. Haben sie das?«

Wir nickten.

»Könnt ihr alles vergessen. Es wird nie genug Wohnungen in der DDR geben. Maurer haben immer Arbeit. Mein Kumpel Georg ist zwei Meter groß, hat ein Kreuz wie ein Kleiderschrank und Hände wie Schaufeln. Den ganzen letzten Sommer hat er schwarzgearbeitet und sich von dem Geld einen Trabi aus dritter Hand gekauft!«

Der Lehrmeister ließ das auf uns wirken, bevor er wie beiläufig erklärte: »In Berlin gibt es für Schwarzarbeit bei Professoren oder Künstlern sogar Westgeld!«

Jetzt waren wir wirklich beeindruckt.

»Wir Maurer sind die Größten im Arbeiter- und Bauernstaat!«, stellte unser Lehrmeister fest.

In den ersten Wochen fegten wir Lehrlinge die Baustelle. Milch war selten bei uns, denn er baute für seine junge Familie ein Eigenheim. Ständig suchte er Rohre, Klebebänder, Dichtungsmasse, Zement, Dachpappe, Verbindungsstücke für Dachrinnen, Zuschlagstoffe und anderes, was man in der DDR nicht kaufen konnte, was aber auf der Baustelle vorhanden war. Die Maurer auf der Baustelle gaben ihm das Material, wofür er ihnen Bier und Schnaps in der Kantine spendierte. Wir Lehrlinge ärgerten uns, dass er als Nichtraucher uns das Rauchen auf der Baustelle verboten hatte. Sechzehnjährigen in der DDR war vieles verboten, aber nicht das Rauchen. »Alle anderen dürfen auf der Baustelle qualmen! Der Milch quält uns! Er unterdrückt uns!«, schimpften wir laut in seiner Abwesenheit. Wir rauchten heimlich, wenn Milch mit seinem Motorrad Material auf seine private Baustelle schaffte. Einer von uns passte auf, dass er uns bei der Rückkehr nicht beim Rauchen überraschte. Es war schwer, ihn zu täuschen: Als Nichtraucher hatte eine feine Nase für den Nikotingeruch. Oft fragte er grimmig: »Wer von euch hat geraucht?« Natürlich beteuerten wir immer, er würde sich irren. Ein Maurer mit Zigarette sei gerade vorbeigegangen, zwei Maurer, eine Brigade! Schließlich verbot er uns den Besitz von Zigaretten auf der Baustelle. Wir versteckten sie vor ihm, er suchte sie. Milch sah unter Eimer und Kübel, stocherte im Kies umher, riss Steinhaufen auseinander, bis er Zigaretten gefunden hatte. Mit seinen wulstigen Händen zog er vorsichtig eine Zigarette aus der Schachtel und betrachtete sie genau. Dann riss er behutsam das dünne weiße Papier auf und bröselte den Tabak auseinander. Hatte er die Zigarette zerstört, holte er die nächste aus der Schachtel. Hatte er ein dickeres Stück Tabak in einer Zigarette gefunden, zeigte er es uns freudestrahlend: »Ein Balken! Ein Balken! Ein Balken!«

Es war grausam, seine Freude ertragen zu müssen. Seine Trauer, wenn er alle Zigaretten zerstört hatte, ohne einen Balken gefunden zu haben. Bald nahmen wir nur zwei oder drei Zigaretten mit auf die Baustelle, um den Verlust erträglicher zu machen. Einmal stand Milch plötzlich zwischen uns, als wir rauchten. Wir drückten hastig die Zigaretten aus; Milch zerrieb Zigaretten. Plötzlich packte er Johann, einen starken Raucher, an der Jacke und tastete ihn ab. Das war noch nie geschehen. Johann ertrug es widerstandslos. Deshalb waren wir überrascht, als Milch eine Schachtel Zigaretten aus Johanns Jacke zog. Eine fast volle Schachtel! Filterzigaretten! Aus dem Westen! Wir konnten es kaum glauben. Der Lehrmeister auch nicht. »Meine ersten Westzigaretten!«, staunte er. Johann betrachtete mit seltsam abwesendem Blick die Schachtel Zigaretten in den Händen des Lehrmeisters. Plötzlich, wie aus einem Traum erwacht, rief er: »Das sind meine!«

»Sie werden es bleiben«, sagte der Lehrmeister sehr freundlich.

»Die habe ich von meinen Westverwandten gekriegt!«, rief Johann aufgeregt.

»Wir wollen sehen, ob die Westdeutschen Balken produzieren können«, sagte der Lehrmeister.

Alle wussten, dass der feine Tabak von Westzigaretten keine Balken enthielt. Johann starrte auf die wulstigen Finger, die langsam die erste Zigarette aus der Schachtel zogen. Plötzlich riss er die Schachtel aus der Hand des Lehrmeisters. Wir waren verblüfft, auch so etwas war noch nie geschehen. Johann versuchte zu fliehen. Er lief mit seiner Schachtel in der Hand um den Kübel mit Mörtelmischung, der zwischen ihm und Milch stand. Der Lehrmeister langte über den Kübel, packte den Lehrling am Kragen und riss ihn zu Boden. Johann lag auf dem Rücken und versuchte, die Schachtel mit ausgestreckten Armen von Milch fernzuhalten. Der schwere, massige Mann hockte auf dem kleinen, schmächtigen Jungen und drückte ein Knie auf dessen Brustbein. Johanns Gesicht lief rot an. Günter Milch schnaufte und drückte. Johann schrie und fuchtelte mit den Armen. Das Schreien wurde leiser. Bald röchelte Johann nur noch. Am Anfang waren wir übrigen Lehrlinge empört über das Verhalten des Lehrmeisters, voller Mitgefühl für unseren Kameraden gewesen. Als Johann dem Erstickungstod nahe war und dennoch weitergekämpfte, hatten ein paar von uns schon Tränen in den Augen. Die meisten mussten längst sitzen, so sehr lachten wir. Wie der Lehrmeister mit dem erstickenden Lehrling um eine Schachtel Zigaretten rang, war einfach zu komisch. Am Ende konnte Milch die Schachtel ergreifen. Er wälzte sich von Johann, der wie tot liegen blieb. Es war höchste Zeit, ich hatte schon Bauchschmerzen vor Lachen. Später versicherten wir Johann, dass er uns sehr leidgetan hätte. Natürlich fand Milch nicht einen Balken im feinen Tabak aus dem Westen.

Meine erste Mauer stieß unser Lehrmeister einfach mit dem Fuß um. Dabei hatte ich mir so viel Mühe mit ihr gegeben. Sorgfältig hatte ich die ersten Steine auf den Boden an einem gespannten Faden entlang gelegt. Hatte ein Stein nicht richtig auf meiner Mauer gelegen, hatte ich ihn erneut darauf platziert. So beschäftigt war ich mit meiner Mauer gewesen, dass ich kaum die der anderen Lehrlinge beachtet hatte. Am Ende hatte der Lehrmeister meine Mauer lange schweigend betrachtet, bis er sie mit dem Fuß umstieß. Dann behauptete er, er habe noch nie so eine missratene Mauer gesehen.

Aber ich wollte ja sowieso Schriftsteller werden.

Wir Lehrlinge diskutierten wochenlang miteinander, ob wir den Lehrmeister verprügeln konnten, aber den meisten war er zu stark, zu gefährlich. Aber eines Tages, als wir Schalungen für ein Fundament in einer Baugrube aufbauten, erschien der Milch nach stundenlanger Abwesenheit am Rand der Baugrube. Er beobachtete schweigend, wie wir arbeiteten. Schließlich stieg er zu uns herunter und zog schnaufend Luft in die Nase. Wir waren sicher, dass er kein Nikotin riechen würde, denn wir hatten ihn dieses Mal rechtzeitig gesehen.

»Wer hat geraucht?«, schnarrte er. Keiner von uns hielt eine Antwort für nötig, denn Milch war betrunken. Vor einem Kübel mit Mörtel blieb er stehen. »Was ist das? Pferdepisse?« Die Mörtelmischung war tatsächlich zu dünn. Der Lehrmeister kippte den Kübel samt Inhalt um, sodass sich die Mischung in die Baugrube ergoss. Plötzlich packten Ingo und Ludwig ihn an den Armen und warfen ihn zu Boden. Der Lehrmeister war überrascht, wehrte sich dann aber heftig gegen die beiden. Ludwig schrie Kevin an, er solle ihnen helfen, aber der rührte sich nicht. Wir beobachteten fasziniert Ingos und Ludwigs Kampf mit dem Lehrmeister. Milch hätte die beiden fast von sich geworfen, aber schließlich sprangen alle – außer Kevin – hinzu und drückten ihn auf den Boden, wo er wie ein fetter, großer Käfer zappelte. Wir wussten nicht, wie weiter. Der Lehrmeister wehrte sich schweigend. Einige Minuten vergingen. Dann ließen wir ihn wie auf Kommando los und sprangen zurück. Milch stand auf, rückte seine Jacke der Gesellschaft für Sport und Technik zurecht, schrie uns böse an: »Das werdet ihr büßen!« und verschwand. An dem Tag sahen wir ihn nicht mehr. Später erwähnte er den Vorfall nie. Aber offensichtlich hatten wir ihm Respekt abgerungen, er nahm sich ein wenig zusammen.

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