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Der Zirkel Schreibender Arbeiter

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Es hatte lange gedauert, bis ich die unsachliche Kritik der ersten Leserin meiner Kurzgeschichten halbwegs verkraftet hatte. Frau Böhm vom Schriftstellerverband der DDR des Bezirks Schwerin hatte mir den Besuch eines Zirkels Schreibender Arbeiter empfohlen, was ich als Beleidigung empfunden hatte. Schließlich waren weder Tolstoi noch Goethe oder Thomas Mann Mitglied eines solchen Zirkels gewesen. Zudem war ich davon überzeugt, dass ein Talent wie ich so etwas nicht nötig hatte. Andererseits wollte ich aber mit jemandem übers Schreiben reden. Und ich wollte Zustimmung, Begeisterung, Ekstase für meine Kurzgeschichten erfahren. Ich hatte von Frau Böhm die Telefonnummer der Leiterin des Zirkels Schreibender Arbeiter in der Stadt erhalten. Sie musste eine bedeutende Persönlichkeit sein, denn sie besaß ein Telefon. Ich rief sie aus einer Telefonzelle an.

»Annemarie Meier-Benoit, Künstlerin, Leiterin des Zirkels Schreibender Arbeiter«, meldete sich eine breite sächsische Stimme.

»Ich würde gern zu Ihrem Zirkel Schreibender Arbeiter kommen.«

»Sind Sie etwa Arbeiter?«

»Ich arbeite jetzt im Wald.«

»Endlich ein Arbeiter!«, freute sich Frau Meier-Benoit.

Ich hatte dennoch lange gezögert, den Zirkel Schreibender Arbeiter im Kulturhaus zu besuchen, aber dann war es so weit: Wir saßen zu sechst an einem Tisch im Raum: ein Rentner, eine Hausfrau, ein Lehrer, ein Buchhalter, die Künstlerin und ich, der Arbeiter. Frau Meier-Benoit war eine ältere Frau mit blutrot geschminkten Lippen, gefärbtem Haar und einem um die Schultern gelegten Tuch in schillernden Farben. Der Rentner war der ehemalige Leiter einer LPG, weit über siebzig. Er behielt seinen Krückstock am Tisch fest in der Hand. Der Lehrer war etwa Mitte vierzig. Er trug einen guten Anzug, eine Weste und ein weißes Hemd. Die Hausfrau war seine Ehefrau. Der junge Buchhalter bewegte sich sanft und lächelte mädchenhaft. Ich erfuhr, dass alle schon seit Jahren Mitglied im Zirkel waren. Am Anfang redeten sie über ein Gedicht des jungen Buchhalters, das in der Regionalzeitung abgedruckt worden war. Die Zirkelleiterin hatte es ausgeschnitten und mitgebracht, der Buchhalter hatte gleich die ganze Zeitung dabei. Das Gedicht war die Beschreibung eines Sonnenaufgangs an einem frostigen Wintertag über dem Löschteich der freiwilligen Feuerwehr im Heimatdorf des Buchhalters. Der Buchhalter hörte verträumt lächelnd, wie Frau Meier-Benoit behauptete, wahre große Literatur schaffe es immer ans Licht der Öffentlichkeit. Der Rentner wartete ungeduldig auf irgendetwas, der Lehrer war eindeutig gelangweilt, seine Ehefrau lächelte jeden von uns mütterlich an, während Frau Meier-Benoit über den literarischen Erfolg des jungen Buchhalters redete, bis der Lehrer sie unterbrach: »Wir haben lange genug von dem Gedicht unseres verehrten Mitglieds gehört, aber ich bin länger als er im Zirkel und mein Manuskript ist immer noch nicht veröffentlicht worden!« Er stand auf, schob seine Daumen unter die Ärmelausschnitte seiner Weste und ging schimpfend auf und ab. Die anderen machten nicht den Eindruck, als würde sie sein Auftritt überraschen. Er zählte Namen von Schriftstellern auf, die nicht schreiben könnten, aber deren Bücher trotzdem veröffentlichen würden, und zog bei jedem Namen die rechte Hand aus der Weste und schnipste laut mit Daumen und Mittelfinger. Endlich setzte er sich wieder. Er schlug die Schöße seiner Anzugjacke zusammen, als hätte er ein endgültiges Urteil über die Welt gefasst, und sah mich an, ohne mich wahrzunehmen. Der Rentner hob seinen Krückstock hoch und fragte die Zirkelleiterin freudig erregt, ob er jetzt seine neue Geschichte lesen dürfe. Frau Meier-Benoit sagte, sie wolle nicht schon wieder einen schweinischen Text hören. Die Ehefrau des Lehrers nickte bekümmert. Der Alte stieß den Krückstock auf den Boden und forderte Freiheit für die Kunst. »Beim nächsten Mal«, versprach die Zirkelleiterin.

In der Pause erzählte mir die Hausfrau, dass Frau Meier-Benoit mit dem Geld als Zirkelleiterin und ein paar Stunden Musikunterricht nebenbei sehr gut leben könne. Sie besitze sogar ein Telefon. Anschließend sollte ich eine Kurzgeschichte vortragen. Ich hätte eine alte Kurzgeschichte als der Lehrzeit lesen können, aber ich wollte es mir nicht zu einfach machen.

Die Idee für die neue Kurzgeschichte war mir während eines Urlaubs mit meinem Freund Bernd in Bulgarien gekommen. Wir hatten im Urlaubsort drei Kilometer entfernt vom Strand in einem großen Plattenbau mit anderen Bürgern der DDR gewohnt – mit Aussicht auf einen anderen großen Plattenbau mit weiteren Bürgern der DDR. Bernd und ich hatten schon auf dem Hinflug überlegt, wie wir die hübschen Mädchen unserer Reisegruppe in Bulgarien ins Bett bekommen würden. Nach der Ankunft erlebten wir die erste Enttäuschung: Die Mädchen, Blondinen aus Ostberlin, wurden von Männern mit Mercedes erwartet, von Männern mit einer goldenen Uhr am Handgelenk, goldenen Ringen an den Fingern und einer Goldkette im schwarzen gekräuselten Brusthaar des weit offenen Hemdausschnitts. Von Türken aus Westberlin. Bernd und ich waren blass, blond, aus der DDR, ohne Westgeld und ohne Auto. Jeden Abend versuchten wir, in den Diskotheken der beiden großen Plattenbauten andere Mädchen kennenzulernen. Die meisten fragten uns gleich: »Bist du auch aus der DDR?« Bernd und ich waren so verzweifelt, dass wir zwei Mädchen unserer Reisegruppe für Sex in Betracht zogen, die wir vorher komplett ausgeschlossen hatten. Das eine hatte einen schwarzen Oberlippenbart, das andere ein Clownsgesicht. Die beiden nannten die Blondinen aus Ostberlin verächtlich »billige Nutten für Ausländer mit Westgeld«. Bernd und ich waren keine Ausländer mit Westgeld. Wir vier unterhielten uns vor dem Plattenbauhotel, als eine Frau aus einer anderen DDR-Reisegruppe mich ansprach. Sie war mir sympathisch und so war ich mit ihrem Vorschlag, uns am Abend zu zweit am Grillplatz hinter dem Plattenbauhotel zu treffen, einverstanden. Die Frau hieß Astrid und war etwa dreißig Jahre alt. Als sie gegangen war, fragte das eine Mädchen das andere: »Hast du die Brust gesehen?«

»Klar!«

»Die linke!«, sagte das Clownsgesicht.

»Die war künstlich!«, behauptete der Oberlippenbart.

»Auf jeden Fall.«

Ich hatte natürlich auch die Brüste der Frau gesehen und war verwirrt: »Wie kommt ihr darauf?«

»Die meisten Frauen haben in dem Alter Brustkrebs. Das ist völlig normal«, stellte der Oberlippenbart fest.

»Die linke war eindeutig künstlich!«, sagte das Clownsgesicht.

Ich traf mich nicht mit Astrid am Grillplatz, ich habe sie nie wieder gesehen. Aber ich kam mit einer Idee für eine Kurzgeschichte über eine Frau mit einer künstlichen Brust zurück aus Bulgarien: »Die Frau mit der amputierten Brust«

Ich fing an zu lesen. Frau Meier-Benoit unterbrach mich. Ich solle langsamer lesen und Satzzeichen wie Punkt und Komma beachten. »Vielleicht bin ich tatsächlich zu schnell für diese Leute«, dachte ich und las langsamer. Bald wurde ich wieder unterbrochen.

»Lesen Sie bitte viel langsamer. Sonst können wir den Text nicht verstehen.«

»Strengt euch an, Pack!«, hätte ich am liebsten gesagt. Es war nicht einfach, Rücksicht auf die geistige Trägheit des Publikums zu nehmen. Als ich meine Kurzgeschichte gelesen hatte, war es still im Raum. Ich spürte, wie sich mein Magen zusammenzog, so nervös war ich. Niemand sagte etwas, alle waren völlig beeindruckt von meinem Text. Es hatte ihnen die Sprache verschlagen. Plötzlich fragte die mütterliche Hausfrau behutsam, ob es richtig sei, ein solch ernstes Thema, von dem viele Frauen betroffen seien, so zu behandeln.

»Literatur darf alles, kann alles, muss alles!«, sagte ich.

Alle schwiegen wieder. Die Zirkelleiterin forderte die Gruppe auf, ihre Meinung zu äußern. Der Alte umklammerte mürrisch seinen Krückstock. Der Lehrer sah durch mich hindurch, als wäre ich Luft. Sicher weil er sich nicht eingestehen konnte, wie gut ich war. Nach langem Schweigen der Runde sagte der Buchhalter, er wolle kein Urteil über die literarische Qualität der Kurzgeschichte abgeben, würde aber gern erfahren, ob die Frau ihre furchtbare Krankheit überlebt hätte. Plötzlich sahen mich alle an. Sie wollten es wirklich wissen! Wie naiv diese Leute doch waren. Sie interessierten sich tatsächlich für Astrid als Mensch. Ich versuchte, ihnen zu erklären, dass es sich um eine fiktive Frau handele, deren Krankheitsverlauf für die Kurzgeschichte unwichtig sei. Niemand wagte es danach, meine Kurzgeschichte zu beurteilen. Die Zirkelleiterin erklärte, es sei der Mut des Autors zu würdigen, für den Versuch, ein solches Problem literarisch zu bewältigen. Dann trug sie ein Gedicht von Hölderlin vor und spielte auf der Blockflöte. Mein Urteil über diese Leute stand fest. Ich besuchte den Zirkel Schreibender Arbeiter nie wieder.

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