Читать книгу In deutschen Zeiten - Uwe Heit - Страница 12
Im Arbeiterwohnheim
ОглавлениеDen Platz im Arbeiterwohnheim, einem fünfstöckigen Plattenbau, hatte ich nur der Arbeit wegen bekommen. Die Heimleiterin, eine ältere, schwammige Frau in einem hellrosafarbenen Pullover mit unzähligen weißen Fusseln, hatte mir beim Einzug gesagt: »Du kommst zu Siegfried und Helms und dem Neuen in die Wohnung. Siegfried ist ein wenig komisch, aber er beruhigt sich schnell wieder.«
»Was meinen Sie mit komisch?«
»Siggi ist eine Seele von Mensch!«
Die Wohnung im zweiten Stock hatte zwei Einbettzimmer, in denen Siegfried und Helms wohnten, und ein Zweibettzimmer mit dem anderen Neuen und mir. Nichts Persönliches entdeckte ich in der Wohnung: keine Blume, kein Bild. Nur ein armseliges Aquarium in der Wohnstube. In dem Kühlschrank in der Küche lag eine Plastiktüte mit einem Klumpen verschimmeltem Fleisch. Ich war allein beim Einzug in die Wohnung. Erst am Abend kam ein junger blonder Mann. Er setzte sich auf das andere Bett im Zimmer und wir sahen uns an. Lange. Schweigend.
»Guten Abend«, sagte ich schließlich.
Er nickte nur.
»Bist du schon lange hier?«, fragte ich.
»Seit zehn Tagen.«
»Wie ist die Arbeit im Umschlag?«
Er zuckte nur mit den Schultern.
»Hast du Rostock schon kennengelernt?«, fragte ich.
»In der Kneipe bin ich beim ersten Bier eingeschlafen.«
»Was für eine trübe Tasse«, dachte ich.
Helms und Siegfried sah ich in den ersten Wochen im Arbeiterwohnheim nicht. Andreas, der Blonde in meinem Zimmer, erzählte mir, dass Helms seit Jahren bei seiner Freundin wohne. Er behalte das Einzelzimmer dennoch, was bei der lächerlichen Miete verständlich sei. Das habe er von Siegfried erfahren, unserem anderen Mitbewohner. Den hatte ich bisher nur gehört in der hellhörigen Wohnung. Wir trafen weder in der Küche noch im Bad, im Wohnzimmer oder auf dem Flur aufeinander. Siegfried vermied anscheinend jede Begegnung mit mir und ich wollte nicht einfach an die Tür seines Zimmers klopfen, um mich vorzustellen. Schließlich lernten wir uns doch kennen. In einer Nacht. Grelles Licht und Gebrüll weckten mich. Ich schreckte im Bett hoch. Ein untersetzter, stämmiger Mann mit puterrotem Gesicht und wirrem Haar stand im Schlafanzug brüllend in der Tür meines Zimmers. Mir wurde klar, dass ich allein war mit dem Fremden, denn Andreas hatte Nachtschicht. Ich ließ den wütenden Mann nicht aus den Augen und fragte mich: »Wann stürzt er sich auf mich?« Allmählich verstand ich im Gebrüll Worte wie »Schweinerei, Sauerei!« und »Niemand schmeißt Helms Becher um!«
»Ist das etwa Siegfried?«, dachte ich.
Er sei manchmal komisch, aber er beruhige sich schnell wieder, so hatte die Heimleiterin ihn beschrieben. Ich sagte langsam und sehr ruhig: »Guten Tag, ich bin der Neue.«
Ich wiederholte es immer wieder. Langsam und ruhig. Endlich hörte der Mann auf zu brüllen. Dann murmelte er Unverständliches. Schließlich zitterte er nur noch vor Wut. Langsam und sehr ruhig sagte ich: »Bin ich froh, dass ich endlich meinen Nachbarn kennenlerne. Ich habe mich schon lange gefragt, wer so rücksichtsvoll durch die Wohnung geht.«
Der Mann im Schlafanzug brauste auf: »Helms Becher ist kein Dreck!«
»Welcher Becher, um Gottes willen?«, dachte ich. Es beruhigte mich ein wenig, dass der Mann an der Tür stehen blieb, so fühlte ich mich halbwegs sicher. Was aber konnte ihn besänftigen? Ich erinnerte mich daran, dass Andreas erzählt hatte, Siegfried sei sehr stolz darauf, dass er in Warnemünde aufgewachsen sei.
»Du bist ein echter Warnemünder?«
Der Mann brummelte Unverständliches, aber er sah mich nicht mehr an.
»Ich habe gehört, dass du ein echter Warnemünder bist. Es gibt ja nicht viele echte Warnemünder in Rostock.«
»Warnemünder sind keine Rostocker«, sagte der Mann mürrisch.
»Ihr Warnemünder seid die echten Jungs von der Küste. Warnemünde ist was Besonderes. Das wissen alle in der DDR.«
»Warnemünde hat nie zu Rostock gehört!«
Ich redete und redete und redete und bemerkte nach einigen Minuten erleichtert, dass sein zornesrotes Gesicht eine Spur heller wurde.
»Und du bist ein waschechter Warnemünder ... Siegfried?«
»Schon immer«, sagte Siegfried.
»Auch deine Eltern?«
»Klar!«
»Und die Großeltern?«
»Klar.«
»Seid ihr nie aus Warnemünde rausgekommen?«
»Wie meinst du das?«
»Ich meine, ob ihr zwischendurch mal woanders gewohnt habt oder immer in Warnemünde?«
»Immer dort!«
»Wau!«, sagte ich ehrfürchtig. »Siegfried, ich bin ja neu im Wohnheim. Es wäre toll, ganz toll, wenn du mir die Sitten des Hauses erklärst. Du bist ja nicht nur ein waschechter Mann von der Waterkant, sondern lebst ja schon seit vielen, vielen Jahren im Wohnheim.«
Siegfried starrte mich an. Sein Gesicht wurde wieder dunkler. Es brach aus ihm heraus: »Hättest du nicht gleich zu mir kommen können? Ein Wort von dir und ich hätte dir alles zu Füßen gelegt. Nein, da schleicht er scheinheilig durch die Wohnung und randaliert im Bad!«
Ich sagte eilig: »Das war ein Fehler, mein Fehler, Siegfried! Ich entschuldige mich von ganzem Herzen dafür. Du hast recht, du hast recht. Siegfried, du hast vollkommen recht.«
Ich redete und redete und dachte: »Mit dem Irren soll ich zusammenleben? Wann habe ich im Bad randaliert?«
Allmählich beruhigte sich Siegfried wieder.
»Siegfried, ich unterhalte mich gerne mit dir«, sagte ich. »Welche Regeln muss ich beachten, damit wir sehr gut zusammenwohnen können?«
Er führte mich durch die Wohnung und erläuterte mir seine Vorstellung von Ordnung. In der Küche beim Blick in den fast leeren Kühlschrank, während er erklärte, wie sauber und reinlich dieser sein müsse, wartete ich darauf, was er über die Plastiktüte mit dem verschimmelten Fleisch im Mittelfach sagen würde. Bevor er den Kühlschrank schließen konnte, zeigte ich auf die Tüte: »Was ist denn das?«
»Leber.«
»Wem gehört sie?«
Ich war neugierig auf seine Antwort, denn bei dem Zustand der Leber konnte sie weder Andreas noch mir gehören. Der impulsive Berserker war unsicher geworden.
»Mir nicht!«
»Wem dann?«
»Ich esse keine grüne Leber!«
Im sauberen, kahlen Wohnzimmer entdeckte ich bei Siegfrieds Blick auf das Aquarium in seinen Augen etwas Neues.
»Gehört dir das Aquarium?«
Siegfried schwieg.
»Gehört dir das Aquarium?«
»Helms und mir«, knurrte er. »Aber es sind meine Fische.«
»Was für Fische hast du?«
»Ich weiß nicht«, knurrte er leiser.
Ich entdeckte vier blasse, magere Guppys, ein paar kümmerliche Wasserpflanzen und einen dreckigen Futterring im Aquarium.
»Sieht doch ordentlich aus!«, log ich.
Im Bad öffnete Siegfried den kleinen Wandschrank über dem Waschbecken. Drei Zahnputzbecher standen darin. Siegfried zeigte auf einen: »Helms Zahnputzbecher steht immer ganz links. Einer von euch Volltrotteln hat ihn in die Mitte gestellt. Bestimmt nach dem Kacken mit dreckigen Fingern.«
Ich konnte es nicht fassen.
Später zog Andreas aus meinem Zimmer zu seiner Freundin, kündigte aber seinen Platz im Wohnheim nicht. So blieben Siegfried und ich allein in der Wohnung. Nach wie vor ging er mir aus dem Weg. Ein paar Mal stand ich mucksmäuschenstill im leeren Wohnzimmer, um eine zufällige Begegnung auf neutralem Gebiet zwischen uns herbeizuführen. Ich wollte ihn besser kennenlernen, denn ich konnte seinen Tobsuchtsanfall nicht vergessen. Aber er ließ sich nie täuschen. Es war mir unheimlich, dass ich nie ein Geräusch in seinem Zimmer hörte. Natürlich hätte ich einfach an seine Zimmertür klopfen und ein Gespräch mit ihm beginnen können, aber vielleicht wäre das schon ein Anlass für seinen nächsten Wutausbruch. Ich erinnerte mich an seinen Blick auf das Aquarium. Es war in einem ebenso trostlosen Zustand wie die ganze Wohnung. Aber vielleicht bot es mir die Möglichkeit, einem Wutausbruch meines Nachbarn vorzubeugen. Ich wollte ihn wie zufällig wegen des Aquariums ansprechen. Tag für Tag, Woche für Woche lauerte ich auf eine Gelegenheit in einem neutralen Bereich der Wohnung, aber der Choleriker hatte anscheinend einen untrüglichen Sinn dafür entwickelt, wie er sich unbemerkt in der hellhörigen Wohnung bewegen konnte. Ich fasste einen Entschluss. Lange stand ich vor seinem Zimmer und wollte anklopfen. Ich wusste, er war darin. Er wusste, ich war draußen. Ich hörte kein Geräusch im Zimmer, aber es gab kein Zurück mehr. Ich klopfte an. In der Wohnung blieb es still. Ich hielt meinen Atem an und klopfte ein zweites Mal. Nichts war zu hören. Dennoch klopfte ich ein drittes Mal. Ich hörte ein mürrisches »Ja«. Ich klopfte vorsichtig noch einmal. Wieder ein »Ja«, lauter, mürrischer. Ich öffnete die Tür. Siegfried saß auf seinem Bett neben einem Schränkchen, einem Stuhl und vor einem kleinen Schrank. Mehr hätte auch nicht in das Zimmer gepasst. An der Wand hing ein Regal mit einem Stapel leerer Bierbüchsen aus Westdeutschland. Siegfried sah mich schief von unten an. Ich entdeckte etwas Neues in seinem Blick. War es Unsicherheit?
»Hallo!«, sagte ich so freundlich wie möglich.
Siegfried knurrte.
»Schön hast du ’s hier«, log ich.
»Habe lang genug gewartet auf das Einzelzimmer. Musste jahrelang mit Idioten zusammenwohnen.«
Ich wies auf das Regal: »Sehr schöne Bierbüchsen.«
»Ein bisschen Freiheit muss sein.«
»Ich wollte dir schon lange sagen, wie sehr mir dein Aquarium gefällt!«
Er sah mich misstrauisch an.
»Deine Fische sind so friedlich!«, sagte ich. »Fische sind Frieden. In Japan ist die ganze Kultur auf Fische und Frieden aufgebaut.«
»Die Japaner fressen keine Fische, weil die da heilig sind«, sagte Siegfried.
»Du meinst Indien. Dort sind aber Kühe heilig. Deine vier lieben Fische sind mir richtig ans Herz gewachsen.«
»Vier sind ’s?«
»Ich kann mich gar nicht satt an ihnen sehen.«
Siegfrieds Augen waren jetzt völlig ausdruckslos.
»Ich möchte dir einen Vorschlag machen. Kommst du dafür bitte mit zum Aquarium?«
»Jetzt?«
»Wenn du nichts Dringendes vorhast?«
Ich wartete. Er rührte sich nicht auf seinem Bett. Siegfried blieb noch lange sitzen, bevor er ruckartig aufstand. Wir beobachteten in der Wohnstube die vier Fische im Aquarium. Sie waren erschrocken wegen der ungewohnten Aufmerksamkeit und versuchten vergeblich, sich hinter den zwei Pflanzen zu verstecken. Ich sagte: »Wie lebhaft sie sind.«
Siegfried schob seinen bulligen Kopf dicht ans Glas. Die Fischlein reagierten mit Panik. »Hast du schon andere Fische als Guppys im Becken gehabt?«, fragte ich.
»Das sind Guppys?«
»Guppys heißen auf Deutsch Millionenfische, weil sie massenhaft Junge kriegen«, erklärte ich.
»Das sind keine. Die haben nie Junge gekriegt.«
»Die vier sind Weibchen«, sagte ich.
»Wie kommst du darauf?«
»Guppyweibchen sind farblos. Männchen sind bunt. Du brauchst ein paar Pflanzen und Bodensand und wenigstens ein Männchen: Dann hast du Leben im Becken.«
»Dreck kommt mir nicht in die Wohnung«, sagte Siegfried.
»Findest du nicht, dass goldgelber Kies als Bodengrund im Aquarium wunderschön aussehen würde?«
»Dreckzeug, das! Verdreckt die Wohnung. Die Heimleiterin sagt bei jeder Wohnungskontrolle: ›Siegfried, bei dir würde ich sogar vom Boden essen!‹«
»Was hältst du davon, wenn ich ein paar Pflanzen und Fische kaufen würde?«
Er ließ sich Zeit mit einer Antwort. Ich wartete. Er stierte ins Becken.
»Worüber denkt der Mensch so lange nach?«, dachte ich.
»Ich weiß nicht, was Helms dazu sagt«, knurrte Siegfried.
»Helms wohnt seit Jahren bei seiner Freundin. Ich denke, es ist dein Aquarium?«
»Klar ist ’s meins. Glaubst du, ich scheiße Geld?«
»Ich kaufe billige Pflanzen und Guppys sind spottbillig. Na?«
Ich wartete.
Er knurrte schließlich. Es klang zustimmend.
Ich kaufte Fische und Pflanzen in einem Zoogeschäft in Rostock. Sieben Tage später hörte ich Siegfried durch die Wohnung schleichen. Ich stürmte aus meinem Zimmer und er schaffte es nicht mehr in seins.
»Hast du schon die neuen Fische gesehen?«
»Ne«, knurrte er.
Ich bestand sehr freundlich darauf, dass wir das Aquarium besichtigten. Ich hatte ein hochträchtiges Weibchen und ein munteres Männchen gekauft. Siegfried wies auf das hochträchtige Weibchen: »Den hätte ich nicht gekauft.«
»Warum nicht?«
»Der ist doch krank mit dem Bauch! Solche habe ich immer rausgeschmissen.«
»Das Weibchen ist hochschwanger!«
Siegfried zeigte auf das Männchen, das den Weibchen nachstellte.
»Solche habe ich auch rausgeschmissen. Ich kann es nicht leiden, wenn einer die anderen jagt.«
»Das ist ein Männchen mit Geschlechtstrieb. Das Natürlichste der Welt!«
Siegfried schnaufte skeptisch.
Meine Hoffnung war vergeblich gewesen. Siegfried änderte sein Verhalten nicht. Es war weiterhin, als würden wir Verstecken in der Wohnung spielen. Eines Nachts aber wurde ich wieder aus dem Schlaf gerissen. Wieder blendete mich das Licht, wieder dröhnte Gebrüll, wieder stand Siegfried in der Tür. Was war passiert? Hatte ich vergessen, die Klobrille herunterzuklappen? Siegfried brüllte. Ich bemerkte, dass sein Gesicht dieses Mal vielleicht nicht aus Wut dunkelrot war. Sicher war ich mir aber nicht. Endlich brachte Siegfried ein paar verständliche Worte hervor: »Die Fische!«
Ich begriff nichts.
»Die Fische!«, brüllte der Warnemünder.
Als wir vor dem Aquarium im Wohnzimmer standen, sagte er sanft und zärtlich: »Kleine Fische.«
Ich starrte ihn an.
»Ich war pissen und da habe ich sie entdeckt«, sagte Siegfried.
Ich begriff immer noch nicht, warum er mich mit Gebrüll geweckt hatte.
»Drei klitzekleine Babyfische«, sagte er zärtlich.
»Nein, vier, da ist noch einer«, sagte ich.
»Vier!«, brüllte Siegfried.