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Hühner

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Die Straße, in der unser Haus stand, endete am Geflügelschlachthof der Stadt. Sie war weniger eine Straße als ein ausgefahrener, unebener Sandweg voller Kuhlen. Unter den Reifen der Lkw und Traktoren, die das Geflügel Landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften zum Schlachthof transportierten, wurde der Bauschutt, mit dem die Straße gelegentlich geflickt wurde, zu rötlich-weißem Staub zermahlen. Wegen der Straßen und der Transportbehälter fielen viele Tiere auf dem Weg zum Schlachthof von den Fahrzeugen: Hühner, Enten, Gänse, Kaninchen. Die Fahrer bekamen ihr Gehalt so oder so am Monatsende, ihnen war es also egal; mir und meinen Freunden aber nicht. Wir kannten jede Kuhle der Straße und wussten genau, an welchen Stellen die Tiere aus den Käfigen fielen. Dann gehörten sie uns. Hühner, Enten, Gänse, Kaninchen. Die Leute schimpften ständig, es gäbe trotz der wirtschaftlichen Erfolgsmeldungen in den Zeitungen nichts zu kaufen. Wir jedoch hatten die Straße. Was auf einer Straße gefunden werde, sei öffentliches Eigentum, erklärte mein Vater. Also gab es bei uns zu Hause: Huhn gebraten, Huhn gekocht, Huhn sauer eingelegt. Hühnersuppe mit Nudeln. Hühnersuppe ohne Nudeln. Huhn mit Mohrrüben. Oder mit Porree. Huhn gebacken. Huhn mit Zwiebeln. Hühnerfleisch mit Käse. Hühnerfrikassee. Huhn in Weißwein (wegen des Weinangebots nur selten). Huhn mit Senf und Reis. Huhn mit Reis – ohne Senf. Huhn mit Gemüse und Reis. Ausschließlich im Herbst Huhn mit Pilzen, denn Pilze konnten wir nicht kaufen, nur sammeln. Geschmortes Huhn. Gefülltes Huhn. Huhn in Buttermilch. Eintopf mit Hühnerfleisch. Russisches Huhn. Huhn auf Ukrainisch. Rumänisches Huhn – sehr schmackhaft! Ente in allen Varianten. Gänsebraten gab es nur in der Vorweihnachtszeit, weil nur dann Gänse zum Schlachthof gefahren wurden. Kaninchen aßen wir seltener, denn die konnte ich nicht gut fangen. Enten dagegen konnte ich sehr gut fangen, sogar mehrere mit vier, fünf Griffen, in Sekundenschnelle.

Besonders unsere kinderlosen Nachbarn waren neidisch auf unsere fleischhaltigen Mahlzeiten. Acht Enten hatten sich einmal in den Garten unserer Nachbarn geflüchtet. Die Cytowics, Bednareks und Jewaroweskys, Kriegsflüchtlinge aus dem Osten, die ein seltsames Deutsch sprachen, lebten beengt in einer Villa, die nach der Enteignung der Besitzer umgebaut worden war. Den großen Garten der Villa hatten die Schlesier und Ostpreußen in viele kleine eigene Gärten aufgeteilt und ihre Kleingärten mit kniehohen Zäunen voneinander abgegrenzt. Sie stritten sich ständig und gönnten einander nichts. Nun aber zerstörten acht Enten, sichtlich verwirrt durch das erste Grün nach einem Leben im Stall, ihre kniehohen Gartenzäune, zertraten die liebevoll gehegten Beete, aber die Flüchtlinge schien das nicht zu stören. Sie standen an den Fenstern ihrer engen, kleinen Wohnungen und beobachteten die Entenschar. Sicher warteten sie auf die Dunkelheit, um die Enten ohne Zeugen fangen zu können. Ich dagegen hoffte, dass die Enten durch das Loch im Zaun in unseren Garten kommen würden. Wir alle wurden enttäuscht, denn Frau Müller, eine alte kleine Frau, erschien mit zwei Arbeitern des Geflügelschlachthofs im Garten, um die Tiere wieder einzufangen. Die Müllers waren die enteigneten Besitzer der Villa, des Gartens und des Geflügelschlachthofs und wohnten im Keller des Hauses. Anders als andere enteignete Kapitalisten der DDR waren die beiden nicht in den Westen geflüchtet. Ich war ihnen dafür dankbar, denn von grausamen, blutgierigen, kapitalistischen Ausbeutern in der Schule zu hören, war das eine – sie als Nachbarn zu haben, etwas anderes. Herrn Müller sah ich nie ganz; er verließ den Keller nicht. Ich hatte den Verdacht, dass er so gegen die Volkswirtschaft protestierte, aber meine Mutter meinte, er sei gehbehindert. Der Alte in der Kellerwohnung war sicher ein blutgieriger Kapitalist gewesen, aber auch im volkseigenen Schlachthof fanden die Tiere ein bedauernswertes Ende. Käfige voller Hühnern standen tagelang bei jedem Wetter auf dem Hof. Entlaufene Enten zogen gruppenweise laut schnatternd über den Hof, als protestierten sie gegen die Zustände. Der Direktor des volkseigenen Geflügelschlachthofs liebte es, entlaufenen Hühnern auf dem Hof mit dem Luftgewehr eine Bleikugel in den Kopf zu schießen. War das Tier getroffen, führte es einen wilden Tanz auf, bevor es am Boden zuckend starb. Überall lagen zwischen anderen Abfällen Kadaver auf dem Hof. An warmen Sommertagen und bei ungünstigem Wind war der Aufenthalt in unserem Garten wegen des Geruchs nach verfaulendem Fleisch fast unerträglich.

Es war mir unverständlich, wie meine Großeltern, die in unserem Gartenhäuschen wohnten, das ertragen konnten. Untereinander benutzten sie einen seltsamen deutschen Dialekt und betrachteten die Flüchtlinge in der ehemaligen Villa mit Argwohn. Es war meinen Großeltern als deutschen Protestanten schlecht ergangen im katholischen Polen, der »kalten Heimat«. Ihre Vorfahren hatten ein paar Hundert Jahre lang versucht, den Sand fruchtbar zu machen, den ein polnischer Graf den Deutschen zur Urbarmachung überlassen hatte. Jeden Sonntagmorgen beteten Großmutter und ich gemeinsam am Wohnzimmertisch. Wir hörten eine Predigt im Radio, sangen Kirchenlieder und Großmutter las aus einer alten, zerfallenden Familienbibel. Zu ihrem Verdruss waren wir bei der sonntäglichen Kirchenandacht am Radio immer nur zu zweit. Meine Eltern hatten als Genossen der SED die Kirche verlassen und mein Großvater besuchte in der Zeit, in der wir vorm Radio saßen, seine Freundin, wie ich viel später erfahren würde. So war ich der Einzige, der sich neben meiner Großmutter in der Familie noch zum Protestantismus bekannte. Nach der Morgenandacht gingen wir in die Kirche: Ein stolzes Kind in Opposition zu seinen Eltern und dem dickfelligen Großvater begleitete seine an Krücken humpelnde Großmutter. In der Kirche trafen wir Bekannte, alte Frauen, die wenigsten in Begleitung eines Enkels. Während der Unterhaltung der Alten über Krankheiten und den baldigen Tod wartete ich geduldig auf meinen Moment. Irgendwann betrachteten trübe, schwache Augen mich wohlgefällig und Großmutter wurde laut um ihren artigen, gottgläubigen Enkel beneidet. Anschließend lobte meine Großmutter mich, danach lobten alle gemeinsam. Ich versuchte, währenddessen immer sehr bescheiden auszusehen, um noch mehr Gutes über mich zu hören. In der Schulklasse war ich der Einzige, der die Christenlehre besuchte. Wenn ich zu Mitschülern sagte: »Ich muss heute nach der Schule zur Christenlehre!«, sahen sie mich an, als hätten sie eine gefährliche Seite an mir entdeckt. Mein Mitschüler in der Christenlehre, Gottlieb, verheimlichte seine Besuche dort in der Schule, weil seine Eltern fürchteten, er könnte deswegen von Lehrern benachteiligt werden.

Als ich nach meinem Unfall endlich wieder gehen konnte, holte ich mir selbst Bücher – zuerst noch aus der Kinderbibliothek. Die Bibliothekarin, eine kleine, dickliche Frau mit ordentlichen Dauerwellen, beobachtete misstrauisch, was in ihren zwei kleinen Räumen geschah. Sie ermahnte mich jedes Mal: »Mach keine Flecken hinein!«, »Iss nicht beim Lesen!«, »Nimm kein Buch mit in die Toilette, schon gar nicht beim großen Geschäft!«, »Reiß keine Seiten heraus!« Am wichtigsten aber war es ihr, dass keine Seite genickt wurde. »Keine Eselsohren!«, sagte sie streng.

Mit vierzehn durfte ich endlich Bücher in der Erwachsenenbibliothek ausleihen. Ich hatte es schon vorher versucht.

»Dein Personalausweis!«, hatte die Bibliothekarin gesagt.

Das hatte ich befürchtet. Ich war dreizehn Jahre alt gewesen und noch ohne Ausweis.

»Komm mit deinem Personalausweis wieder.«

»Ich möchte Bücher lesen«, hatte ich sie angefleht.

»Dein Personalausweis!«

Beim dritten Versuch hatte ich behauptet, Altpapier zu sammeln, den Erlös würde ich für den Kampf der unterdrückten Massen in Afrika und Lateinamerika gegen den Imperialismus spenden. Aber ich war immer noch dreizehn gewesen. Oft hatte ich sehnsüchtig die Bücher in den Regalen hinter den großen Scheiben der Erwachsenenbibliothek betrachtet.

Mit vierzehn aber durfte ich die Bücher endlich ausleihen. Sogar vier auf einmal. Manchmal auch fünf. Ich las sogar die Klassiker des Marxismus-Leninismus. Nachdem ich alle Bücher der Bibliothek gelesen hatte, begann ich zu schreiben. Lernte die Angst des Schriftstellers vor dem leeren, weißen Blatt kennen. Fing immer wieder an zu schreiben. Zerknüllte Blätter. Zerbrach Bleistifte. Biss auf Kulis. Schließlich hatte ich das Thema für meine erste Geschichte gefunden: Ein Huhn lebte sehr beengt mit dreitausend anderen in einem nicht gelüfteten Stall einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft für Tierproduktion. Mein Huhn träumte von saftigen grünen Wiesen und fürchtete die brutalen LPG-Bauern. Es war sehr aufgeregt, als es mit den dreitausend Gefährten aus dem Stall getrieben wurde. Dabei wurden ihm nicht die Knochen zerbrochen wie anderen Hühnern. Es erstickte nicht in einem Metallkäfig. Es fiel nicht aus dem Käfig, rutschte auf dem Weg zum Geflügelschlachthof nicht vom Lkw-Anhänger, wurde nicht auf der Straße überfahren und landete nicht in Kinderhänden. Mein Huhn erwartete im Käfig auf dem Hof nicht geduldig den Tod, sondern öffnete die Käfigtür und floh. In meiner Geschichte war der Direktor des volkseigenen Geflügelschlachthofs ein ehemaliger General der Waffen-SS, der mit einer Maschinenpistole auf die flüchtenden Hühner schoss. Eine Kugel traf meinen Helden, als er durch eine Lücke im Zaun in die Freiheit flüchten wollte. Die letzte Empfindung des Huhns – bevor sein Schädel zerplatzte – war der Geruch des saftigen, frischen Grases auf der anderen Seite des Zauns gewesen.

Ich war sehr stolz auf meine erste Geschichte.

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