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Baubrigade Vogel

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Trotz des tristen Alltags als Lehrling verlor ich nie mein Ziel aus den Augen. Weil viele berühmte Schriftsteller am Anfang ihrer Karriere Kurzgeschichten geschrieben hatten, versuchte auch ich es. Themen zu finden, war aber nicht einfach. Erfahrungen wie das Säubern der Gullys auf der Baustelle, die von Maurern als Toilette benutzt worden waren, waren für Kurzgeschichten nicht geeignet. Dennoch schaffte ich es, in meinem ersten Lehrjahr eine Kurzgeschichte zu schreiben: »Der Idiot als Verbrecher«. Es ging um Knut aus dem Dorf einer meiner Tanten. Knut stand jeden Tag am Straßenrand – im Sommer wie im Winter in kurzen Hosen – und bewegte seinen Oberkörper ständig im gleichen Rhythmus hin und her. Er war völlig harmlos, aber in meiner Kurzgeschichte erlebte er kurze wache Momente, in denen er Nachbarn ausraubte. Am Ende starb ein Unschuldiger. Ich war sehr stolz auf meine Kurzgeschichte. Wo aber würde ich meine Leser finden? Die anderen Lehrlinge kamen nicht infrage, die hatten ja nicht mal mein Brigadetagebuch gelesen. Ich schickte »Der Idiot als Verbrecher« dem Schriftstellerverband der DDR des Bezirks Schwerin. Weil ich wochenlang keine Antwort bekam, glaubte ich, meine großartige Kurzgeschichte hätte die Schriftsteller eingeschüchtert. Endlich, nach fünf Wochen, kam ein Brief für mich zu Hause an. Der Lärm des Güterbahnhofs drang in mein brütend warmes Zimmer – aber auf meinem Bett lag der Brief des Schriftstellerverbandes der DDR für mich. Ich wusste, dass ich es geschafft hatte. Dass es so kommen würde, hatte ich seit dem Unfall mit dem Lkw gewusst. Ich öffnete den Brief. Eine Frau Böhm hatte mir geschrieben. Ich würde die Vorurteile der Bevölkerung Behinderten gegenüber bestärken, stand im ersten Satz. Im zweiten schrieb Frau Böhm, dass ich unbedingt die Regeln der Grammatik lernen müsse. Als Schluss: »Üben Sie weiter.« Drei Sätze hatte die Frau geschrieben. Ich war glücklich, dass mich der Schriftstellerverband der DDR nun kannte. Probleme des Alltags würden für mich nur noch nichtige Begleiterscheinungen sein. Der Hinweis auf Regeln der Grammatik war unwichtig. Homer hatte auch keine gekannt. Es war die historische Leistung der Frau, dass sie mein Talent entdeckt hatte. Wer auch immer sie war.

Im zweiten Lehrjahr kam ich in die Baubrigade Vogel. Brigadier Vogel war ein dicker, bleicher Mann mit bartstoppeligem Gesicht, schweigsam und mürrisch im nüchternen Zustand. Dann berührte er oft seine dicke, braune Brille, als wollte er sich vergewissern, dass er sie noch im Gesicht hatte. Er hatte einen Freund in der Brigade, Rudi, dessen Zunge oft wie ein feuchter roter Lappen einen Zentimeter aus dem Mund hing. Rudi war Alkoholiker und hatte ein paar Mal vergeblich versucht, in einer Klinik vom Trinken loszukommen. Knud, der Jüngste in der Brigade, war ein athletischer, spöttischer Mann und trank in Maßen. Ich musste meistens mit Martin, einem sechzig Jahre alten Hilfsarbeiter, zusammenarbeiten. Er trank heimlich aus einer kleinen Flasche, die er in seiner Arbeitsjacke versteckte. Die Brigade stellte den Fußboden einer riesigen Fabrikhalle her. Lkw schütteten flüssigen Beton in der Halle aus. Wir verteilten die Masse mit Schaufeln, verrieben sie, glätteten sie. Manchmal mussten wir stundenlang auf den Lkw mit Beton warten, denn die Fahrer kauften unterwegs Waren ein, die es später in den Geschäften nicht mehr geben würde. Einer der Fahrer vertrug kein kritisches Wort über den Zustand seines Betons. Wenn er wieder unbrauchbaren Beton gebracht hatte, fluchte Brigadier Vogel oft still in sich hinein, bevor er gequält grinsend den Fahrer laut lobte: »Werner, gute Mischung und pünktlich wie die Feuerwehr. Wenn alle so arbeiten würden wie du, wäre diese Scheißhalle längst fertig.« Werner lieferte danach sofort eine gute Betonladung. Martin hatte ihm einmal seine ehrliche Meinung über den angelieferten Beton gesagt. Um acht Uhr morgens. Danach hatten wir an dem Tag gar nichts mehr erhalten. Als wir den Fußboden der Fabrikhalle angefertigt hatten, bekamen wir den Auftrag, ihn wieder zu entfernen. Die Ingenieure hatten die Maße der Aussparungen für die Maschinen, die später dort stehen sollten, falsch berechnet. Knud schimpfte darüber am meisten, vermutlich weil er so etwas noch nicht so oft erlebt hatte wie die älteren, erfahrenen Maurer. Den größten Teil der Betondecke mussten wir mit Spitzhacken zerkleinern und mit Presslufthämmern aufstemmen, weil er im Laufe der Monate ausgehärtet war. Ein Dumper beförderte die Betonbrocken aus der Halle. Er stieß dabei dichte, schwere schwarze Auspuffgase voller fettiger Rußteilchen aus, die sich als dichte Wolke auf uns senkten. Übelkeit und Kopfschmerzen waren die Folge. Die Maurer tranken mehr Alkohol als sonst.

Ich fuhr an den Wochenenden zurück in meine Heimatstadt, wo ich mich manchmal mit Artur traf. Er war ein untersetzter Jugendlicher mit blassem Gesicht, roten Aknenarben und glanzlosem, strähnigem Haar. Artur trug nur Jeans der Marke Levi Strauss. Seine Jeans bestanden nur aus Flicken. Flicken an Flicken. Artur verachtete Leute in Hosen mit scharfen Bügelfalten. Besonders seinen Vater, einen treuen Genossen der SED. Artur hatte Schallplatten mit westlicher Rockmusik in Polen gekauft und in die DDR geschmuggelt. Bei jeder Rock ’n’ Roll-Platte konnte er sich an die Gefahren durch deutsche Grenzbeamte mit Deutschen Schäferhunden erinnern – was die Platte für ihn noch kostbarer machte. Wir hörten gemeinsam Pink Floyd, Deep Purple, Led Zeppelin und andere westliche Rockgruppen in seinem Zimmer. Dabei tränten mir oft die Augen vom Rauch unserer Zigaretten, denn Artur öffnete aus Angst vor den Nachbarn nicht das Zimmerfenster. Er war der Erste, der in seiner geflickten Levi Strauss mit einem Walkman durch unsere Stadt spazierte. Damit erregte er großes Aufsehen. Die Polizei kontrollierte ihn jedes Mal. Wir unterhielten uns oft über den Sinn des Lebens. Artur war der Meinung, dass es mit der Menschheit zu Ende ginge. Ich hatte noch Hoffnung. Über Wolf Biermann sagte mein Freund: »Mein Vater hasst ihn wie die Pest, obwohl er nichts von ihm gehört hat. Biermann ist so gut!«

Ich hatte von der Existenz des Liedermachers erst nach seiner Ausbürgerung durch die Regierung der DDR erfahren. Nun wollte ich seine Lieder unbedingt hören, wenigstens eins oder zwei. Artur hatte wegen der Nachbarn keine auf seinen Tonbändern. Er lud mich aber zu einem Abend mit Biermannliedern bei seinen Freunden ein. Unter einer Bedingung: »Nicht in deinen Hosen!« Er borgte mir eine Flickenjeans. Sie war mir zu kurz und zu eng, denn Artur war viel kleiner als ich, aber als ich mich hineingezwängt hatte, fühlte ich mich wie ein Feind des Staates.

Artur führte mich zu einem der letzten alten, gut erhaltenen Fachwerkhäuser der Innenstadt und klingelte an der mit Schnitzwerk verzierten Haustür aus Holz. Nichts rührte sich im Innern des Hauses. Er klingelte noch einmal. Wir warteten. Artur fluchte. Ich rechnete schon mit einer Enttäuschung, als ein Kopf aus einem Fenster im ersten Stockwerk des Hauses rief: »Artur, du altes Rattengesicht!«

»Das ist Rätmann«, sagte Artur zufrieden. Jemand polterte eine Treppe im Haus herunter. Die Haustür wurde geöffnet. Wir gingen in ein Zimmer im ersten Stockwerk, in dem drei junge Männer in geflickten Levi-Strauss-Jeans in schäbigen Sesseln saßen. Ein Bett mit einer großen US-Flagge als Überzug stand in einer Ecke des Zimmers. Ich war davon sehr beeindruckt. Nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, dass man die US-Flagge auch als Bettbezug verwenden konnte. Artur und ich setzen uns in die Runde. Rätmann führte das große Wort. Er war ein echter Oppositioneller. Ich wollte mich an der Unterhaltung beteiligen, aber was sollte ich sagen? Worüber reden? Etwa über meine Arbeit auf dem Bau? Die anderen lachten über frühere gemeinsame Erlebnisse, während ich ungeduldig wurde. Wann hörte ich Biermannlieder? Ich sah sehnsüchtig auf das Tonband im Zimmer. Endlich forderte Artur Rätmann auf, das Band abzuspielen. Das Band! Biermanns Name wurde nicht einmal ausgesprochen! Rätmann verhielt sich, als wüsste er nicht, wovon die Rede war. Glaubte er etwa, ich wäre ein Stasispitzel? Die Zeit verging. Ich wurde noch ungeduldiger. Als ich es kaum noch erwartete, stellte Rätmann das Tonbandgerät zwischen uns auf den Boden. Er zog die Vorhänge vors Fenster und hängte eine dicke graue Wolldecke davor. Und verließ das Zimmer. Artur öffnete die Flasche Rotwein der Marke »Bärenblut«, die wir mitgebracht hatten. Einer der anderen Männer zündete Kerzen an und klebte sie mit ihrem heißen Wachs am Boden fest. So erwarteten wir Rätmann und das Band mit den Biermannliedern, das er irgendwo versteckt hatte. Rätmann kam zurück, legte das Band in das Tonbandgerät und streckte sich lang auf dem Bett mit der US-Flagge aus. Wir lauschten schweigend. Wie gebannt hörte ich Wolf Biermann zu. Er war auf dem Band meistens unverständlich. Warum er so gefährlich war, begriff ich nicht. Als das Band abgelaufen war, brachte es Rätmann wieder weg, während wir die Wolldecke abhängten und die Vorhänge aufzogen. Das Fenster blieb geschlossen, weil wir über die Lieder diskutieren wollten. Ich erfuhr, warum ich fast nichts verstanden hatte. Das Band war schon x-mal abgespielt worden.

»Man muss die Texte auswendig kennen, sonst ist man ein Idiot!«, erklärte Rätmann. Alle nickten – außer mir. Während die anderen über Biermanns Botschaften redeten, fühlte ich mich wie ein Idiot.

Mein Besuch in dem Fachwerkhaus war natürlich kein Thema für eine Kurzgeschichte. Sollte ich etwa über eine Gruppe junger Männer in zerlumpten Hosen beim andächtigen Hören von Biermannliedern in einem dunklen Zimmer schreiben? Ich wollte auch nicht über den Kohlenträger in dreckiger Arbeitskleidung schreiben, mit dem Artur und ich zufällig in einer Kneipe an einem Tisch gesessen hatten. Wir hatten uns über einen Jugendlichen unterhalten, der nachts betrunken in einer fast menschenleeren Straße die Fahne der DDR bespuckt hatte und für diese Tat zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Der Kohlenträger hatte sich plötzlich in unser Gespräch eingemischt: »Gibt doch keine Gefängnisse mehr heute. Ich habe in den Fünfzigern im Zuchthaus gesessen! Bautzen! Vier Jahre! Hatte einen russischen Offizier verprügelt.« Danach hatte er in sein Bierglas gestarrt und emotionslos gesagt: »Ich lass mich nicht anpöbeln von einem besoffenen Russen.« Oder hätte ich darüber schreiben sollen, dass mein Vater jeden Tag frisches Brot ans Vieh verfütterte, weil es durch die Subvention des Staates billiger war als Viehfutter? Über den Fluss meiner Stadt, dessen Wasser durch Abwässer der Betriebe so giftig war, dass ein einziger Schluck davon badende Kinder krank machte?

Ich schrieb während meiner Lehrjahre als Baufacharbeiter fünf Kurzgeschichten und schickte sie meiner Bekannten im Schriftstellerverband. Ich hatte Begeisterung, Freude und Lob als Antwort erwartet, aber Frau Böhm empfahl mir stattdessen den Besuch eines Zirkels Schreibender Arbeiter: »Sie als Werktätiger sind dort genau richtig!«

Was für eine Beleidigung für mich.

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