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Im Wald
ОглавлениеNach der Lehre, dem Beton, den Maschinen, dem Lärm, dem Dreck, der Großstadt sehnte ich mich nach der Einsamkeit des Waldes. Ich wollte nach dem Spruch leben: »Ein Mann soll im Leben ein Kind zeugen, ein Buch schreiben und einen Baum pflanzen.« Kinder würde ich zeugen, Bücher würde ich schreiben, Bäume wollte ich pflanzen. So sollte es in meiner Biografie stehen: »Im Alter von achtzehn Jahren begab sich der große Autor, angeekelt vom Leben in der Stadt, in die Einsamkeit der Wälder.«
In einer Kneipe erzählte mir ein hagerer Alkoholiker von der Arbeit als Harzer im Wald: »Das ganze Jahr bist du allein! Im ersten Jahr sprichst du mit den Bäumen und im zweiten Jahr antworten sie dir.« Ich war begeistert und fest entschlossen, die Einsamkeit der Wälder kennenzulernen.
Ein riesiger Mann in einer grünen Jacke mit Hirschhornknöpfen, einer grauen Hose, schwarzen hohen Stiefeln und einer Fellmütze mit heruntergeklappten Ohrenschützern stand vor meiner Wohnungstür. Ich hätte im Sommer keine Mütze – schon gar nicht mit heruntergeklappten Ohrschützern – getragen wie dieser Riese mit wettergegerbtem Gesicht, unter dessen Blick ich mich klein, ja, winzig fühlte. Das war Herr Deutsch, mein Brigadier. Ich hatte einen Arbeitsvertrag als Harzer im volkseigenen Forstbetrieb »Wladimir Iljitsch Lenin« unterschrieben.
»Arbeite ich als Harzer allein im Wald?«, hatte ich den Förster beim Einstellungsgespräch gefragt.
»Allein schon, aber im Kollektiv, wie es sich gehört!«, war die Antwort gewesen.
Der Förster hatte mir den Besuch meines Brigadiers angekündigt. Ich bat Herrn Deutsch herein und schloss das Fenster meines Zimmers. Es wurde gerade kein Kohlestaub vom Güterbahnhof hineingeweht, aber die ohrenbetäubenden Geräusche wie das Knallen der Waggons gegeneinander und der Lärm des Baggers hätten das Gespräch zwischen uns verhindert. Herr Deutsch blieb stehen. Seine Fellmütze stieß an meine Deckenlampe. Ich sah hoch zu ihm. Er wollte wissen, ob ich schon als Harzer gearbeitet hätte. Ich verneinte es. Ob ich schon im Wald gewesen sei. Nur als Spaziergänger. Mein Brigadier war unzufrieden mit den Auskünften. Ich konnte es erkennen an der Mimik zwischen den heruntergeklappten Ohrenschützern hoch oben an meiner Lampe. Die Arbeit als Harzer im Wald sei sehr hart und sehr verantwortungsvoll. Ein Harzer müsse jeden Morgen, bei jedem Wetter, in jeder Jahreszeit zur Arbeit in den Wald. Das sei eine Selbstverständlichkeit für mich, sagte ich. Ein Harzer müsse die Einsamkeit ertragen können. Ich beteuerte, dass ich mich danach geradezu sehne. Zwischen den Ohrenschützern neben der Lampe war gar keine Reaktion zu erkennen.
»Ich will viel Geld verdienen im Wald!«, sagte ich in der Hoffnung auf ein positives Echo aus der Nähe der Zimmerdecke.
»Fährst du mit dem Motorrad oder dem Moped zur Arbeit?«
»Mit dem Fahrrad.«
»Das wird nichts!«, behauptete Herr Deutsch. Wie er so dastand, unbeweglich, den Kopf im Fell neben der warm leuchtenden Lampe, mit eisigem Blick auf mich, ahnte ich, dass er mich nicht eingestellt hätte, wenn er gefragt worden wäre. Er war aber nicht gefragt worden und musste mich akzeptieren. Ja, er musste das Beste aus der Sache machen. Wir beide wussten es.
Wir verließen die Wohnung und gingen hinunter zu seinem Moped vor dem Plattenbau, denn mein Brigadier wollte mit mir in den Wald fahren, um mich in die Arbeit als Harzer einzuweisen. Ich fragte mich beim Anblick seines Mopeds, ob es uns – mich und seine riesenhafte Gestalt – beide transportieren könne. Er setzte sich darauf. Das Moped sackte unter seinem Gewicht zusammen. Ich setzte mich vorsichtig hinter seinen massigen Hintern. Das Moped röchelte leise beim Start – doch zu meiner Verwunderung fuhr es. Ich saß hinter meinem Brigadier auf dem Moped und sah in euphorischer Stimmung schon gedruckt vor mir: »Den berühmten Autor zog es in jungen Jahren in die Einsamkeit der Wälder, wo er zur literarischen Größe reifte.« Gern hätte ich das Herrn Deutsch mitgeteilt, aber vermutlich war er nicht in der gleichen Stimmung.
Nach unserer Ankunft im Wald hielt er mir zwischen großen Bäumen einen Vortrag. Es gäbe keine Flugzeugreifen, keine Autoreifen, keine Fahrradreifen, keinen Straßenverkehr ohne Harzer. Kein modernes Leben. Dann zeigte er mir, wie man die Rinde von Bäumen schälte und Rinnen in die Bäume fürs abfließende Harz einschnitt. Wie man den Topf zum Auffangen des flüssigen Harzes befestigte. Ich sagte ihm ständig, dass ich ein sehr guter Harzer sein würde. Sein Blick verriet mir, was er von mir hielt.
Die ersten Wochen als Harzer waren herrlich. Ich war ein freier Mensch in der Natur! Mein eigener Herr! Niemand kontrollierte mich. Keiner kümmerte sich darum, ob ich pünktlich war. Wann ich im Wald war. Ob ich am Vormittag oder am Nachmittag arbeitete. An einem kleinen Teich, auf dessen Wasseroberfläche schillernde Benzinflecken von illegal entsorgten Fahrzeugen schwammen, träumte ich bei schönem Wetter manchmal stundenlang von meiner Zukunft als berühmter Autor.
Ich fuhr mit dem Fahrrad zur Arbeit in den Wald. Jeden Tag. Fast jeden Tag in den ersten Wochen. Der Weg zu meinem Waldstück war wegen einer Funkstation der Sowjetarmee nicht einfach. Die meisten sowjetischen Soldaten lebten am sowjetischen Flugplatz der Stadt hinter dem Güterbahnhof in selbst gebauten, schiefwinkligen Kasernen mit löchrigen Dächern, aber ein paar hausten in der Funkstation im Wald, einer verwohnten Ruine, umgeben von sowjetischem Militärschrott. Treibstoff aus einem beschädigten Tankwagen hatte große dunkle tote Flecken im Waldboden hinterlassen. Es war eine gewöhnliche Funkstation der Sowjetarmee, wie es Tausende in der DDR gab, aber diese lag an meinem Weg. Und sie wurde bewacht von zwei bissigen Hunden. Ich hätte einen anderen Weg zu meinen Bäumen wählen können. Einen viel längeren. Ich wollte aber nicht als Deutscher in einem deutschen Wald wegen Hunden von Sowjetsoldaten einen anderen Weg benutzen. Ich hoffte jedes Mal, unbemerkt an der Station vorbeifahren zu können. Aber die Hunde hörten mich immer. Meist lagen sie träge ausgestreckt zwischen dem Militärschrott am Haus, bei meinem Anblick jedoch verwandelten sie sich sofort in von Wut geschüttelte, bellende Kreaturen. Sie rasten auf mich zu, liefen den windschiefen Zaun der Funkstation entlang auf der Suche nach dem nächsten Loch, um zu mir auf den Waldweg zu kommen. Voller Angst und Zorn trat ich mit ganzer Kraft in die Pedale weg von den Hunden. Ich sah vom Fahrrad aus in geifernde Schnauzen mit scharfen Zähnen, in vor Hass und Gier irre Augen, auf angespannte Muskeln unter räudigem Fell. Gern hätte ich den Sowjetsoldaten gesagt, dass mich ihre frei laufenden Hunde vom Fahrrad reißen und zerfleischen wollten. Leider war ich dazu nicht in der Lage. Ich hätte auf Russisch über die großen Erfolge des Sozialismus in der DDR und in der UdSSR reden können, aber nicht über meine Angst vor halbwilden Hunden auf einem sandigen Waldweg. Das war in den Russischschulbüchern der DDR nicht vorgekommen. Es hätte wahrscheinlich auch nichts geändert. Die Soldaten hätten mir gutmütig eine ihrer seltsamen Zigaretten angeboten und am nächsten Morgen wäre ich wieder von den geifernden Bestien verfolgt worden. Nein, ich musste darauf hoffen, dass meine Fahrradkette nicht vom Tretlager sprang.