Читать книгу Immer der Sonne nach, aber erst gegen Abend. - Uwe Romanski - Страница 10

VIII Von wegen, meines Hüters Bruder.

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Der Staat gibt.

Und der Staat nimmt.

Vor allem wenn man nach Süden wollte, kam keiner an ihnen vorbei. Kam man hingegen aus dieser Richtung, sah man die Gebäude links; wo sonst. Wenn der Schwung nachließ, kurz nach dem Ortseingangsschild von N., bot die mehrblöckige Bezirkszentrale der Staatssicherheit architektonisch einen ärmlichen Anblick, dafür aber einen schönen Ausblick auf den waldumwobenen Tollensesee. Ich glaubte allerdings nicht daran, dass die Genossen ihr Panorama sonderlich genossen. Doch vielleicht war ja der eine oder andere Naturbursche inkognito unter ihnen. Nur grundsätzlich konnte man nicht behaupten, dass es in dieser Trutzburg um Naturschutz ging. Obwohl, für eine bestimmte Spezies interessierten sich die hauptberuflichen Spitzel durchaus: rare Exemplare ihrer Art, inklusive Paarungsverhalten. Und mal ehrlich, wir kannten schon ein paar komische Vögel hier.

Ich wollte nie meines Hüters Bruder sein.

Von wegen Nachrichtendienst, jeder Staat hat und braucht einen. Wer´s glaubt, wird selig, die konnten meiner Oma nichts vormachen. Hier arbeiteten Spitzel, in allen Chargen und Etagen. Das Zeitalter der Aufklärung war an diesem Landstrich komplett vorübergegangen. Davon konnten wohl selbst die Tschekisten ein Lied singen. Gesungen wurde bei Kommunisten ja immer gerne.

Wie unvermeidbar sollten sich hin und wieder unsere Wege kreuzen, oft in der Nähe von Konzerten, Festen oder Kirchen. Ein schlichtes Orgelkonzert, ein bärtiger Bluesbarde oder ein fideles Mittelalterspektakel reichten in der Regel für hinreichenden Tatverdacht aus und weckten Interesse.

Wir machten uns nichts daraus, solange wir nicht direkt mit ihnen konfrontiert wurden. Große Nummern waren wir sowieso nicht, wenn es um Widerstand ging. Selbst wenn wir das gelegentlich ganz anders sahen. Hier und da ein Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen!“, manchmal ein Aufkleber „Frieden schaffen ohne Waffen“, dazu das Ostermarschsymbol, bei dem ich lieber einen Strich genauer hinschaute, um es nicht mit dem Mercedes-Stern zu verwechseln. Das war´s dann auch schon mit unseren oppositionellen Attitüden. Allerdings, als ich begann auf dem EOS-Schulhof Unterschriften gegen Kriegsspielzeug zu sammeln, wähnte ich mich schon tief im realen Widerstand. Der Idealismus hatte mich gewissermaßen an den Eiern, vielleicht war es aber auch das Schicksal, schlimmstenfalls die Partei.

Über die Stasi wussten wir außer Witzen wenig Greifbares zu erzählen. Kein Wunder, es war schließlich ein Geheimdienst. Doch wir ahnten natürlich, womit sie sich beschäftigten, unter anderem nämlich mit uns. Man soll das Kind ruhig beim Namen nennen, wenn man es nicht gerade mit Rumpelstilzchen zu tun hat.

Hin und wieder hatte es auch was Gutes, die Stasi in der Stadt zu haben, zum Beispiel in den großen Ferien. Nicht, dass es dort etwa Ferienarbeit gab, Gott bewahre, und schon gar nicht für uns! Nee, dieser Punkt war komplexer …

Jeden Sommer futterten wir uns ein paar Wochen an Stasi-Kühlschränken durch. Elterlicherseits sollte ich korrekterweise hinzufügen. Nämlich bei Martins Eltern, um es noch genauer zu sagen, die regelmäßig im Sommer nach Bulgarien fuhren. Sie waren dabei, jeder wusste das. Martin selbst sprach offen, aber gelangweilt, über den Job seiner Eltern. Und weil wir dachten, er wäre in dieser Hinsicht schon genug gestraft, ließen wir ihn damit in Ruhe, und lebten stattdessen an einer kulinarischen Front unsere oppositionelle Seite aus.

Es gab kiloweise leckeres Fleisch: Schnitzel und Steaks. Da kam uns die sozialistische Vorratsspeicherung des hauptamtlichen Pärchens sehr zu pass. Außerdem, wer sich als überzeugter Verfechter der Planwirtschaft eine Tiefkühltruhe zulegte, na, der gehörte doch nun bestraft, oder? Das war zumindest unsere Sicht der Dinge. Lagen wir damit etwa so falsch?

Weiter südlich als Bulgarien konnte man von der DDR kaum kommen. Ein Südosteuropaurlaub mit dem eigenen Auto vom Start- und Zielpunkt N. war in den achtziger Jahren eine langwierige Angelegenheit, die hierzulande im Volksmund als kleine Weltreise durchging. Vor allem ermöglichte sie uns Zeit und Obdach und neben den üppigen Vorräten, eine sturmfreie Bude inklusive Plattenspieler, Westfernsehen und Betten, vom seltenen Telefonanschluss ganz abgesehen. (Ein richtiger Staatsapparat sozusagen.)

Jedenfalls waren wir für hiesige Verhältnisse ein paar Wochen perfekt ausgestattet, und deshalb gut drauf.

Wir saßen auf Martins Balkon, Parterre. Es war ein launiger Sommerabend, die Musik tönte leise, hin und wieder zirpte vom nahen Friedhof eine Grille durch die konspirative Stille. Bier trinkend planten wir das Wochenende, und wollten uns morgen die ersten Schnitzel der diesjährigen Gourmet-Saison schmecken lassen. Wir sprachen darüber, wer was besorgt und mitbringt, während Sünder auf Inventur war und zur besten Abendbrotzeit mit einer Schallplatte in den Pfoten auf den Balkon stolzierte. Soweit, so gut. Leider war er eine Spur zu poltrig, als er heraus posaunte:

„Guckt mal, was man in so ’nem Stasibau alles findet.“

Dazu reckte er eine Original-Beatles-Scheibe wie einen gewonnenen Pokal in die Höhe. Wahrscheinlich war er sogar noch lauter als hier beschrieben. Wir konnten förmlich hören, wie auf den Balkonen ringsherum die Gespräche versiegten. Keinem von uns fiel es sonderlich schwer, sich die dazugehörigen Gesichter vorzustellen.

Es gab nur ein Problem. Und das waren in diesem Augenblick wir. Denn im gesamten Block wohnten nur Dzierzynskis Jünger, die gegenseitig aufeinander aufpassen mussten, oder wollten. Und an Abenden wie diesem zusätzlich noch auf uns. Also machten wir Psst! und dirigierten Sünder wieder zurück in die Wohnung.

Endlich Wochenende! Ausnahmsweise hatten wir Null Bock auf den Sumpf, unsere berüchtigte Nahkampf- und Tanzgaststätte in der Oststadt, und saßen in einem Biervertilgungstempel der ganz unheimlichen Art: in der Schülergaststätte, kurz Schüler genannt.

Das Bier machte uns durstig. Wir bekamen Hunger, wollten Geld sparen und keinen Kellner mit einer Essensbestellung brüskieren. Deshalb kam Bewegung in den Abend. Vor allem Bracke drängelte.

Martin war vorausgegangen, um diverse Schnitzel aus der Tiefkühltruhe zu holen, wie er sagte. Zur Unterstützung hatte er drei Mädels im Schlepptau, aber offensichtlich ganz andere Pläne. Eine gute Stunde später glotzten wir, bei Martin angekommen, auf komplett finstere Fenster. Wie verabredet war wenigstens die Balkontür offen. Aus einem der Zimmer hörten wir Martin, und eins der Mädchen. Es war also jemand da. Die anderen Mädels schienen woanders zu liegen.

Wir kletterten per Räuberleiter auf den Balkon, natürlich lauter als geplant. Zwei Etagen über uns sprang das Licht an, eine Gardine wurde beiseitegeschoben. Eine Frau, wohl doppelt so alt wie wir, starrte in unsere Richtung, und damit in die Dunkelheit. In ihrem Gesicht lag etwas unausgesprochen Angewidertes. Als hätte sie Ungeziefer oder eine seltene Spezies entdeckt. Ihren Ekel verpackte sie fixer als wir gucken konnten in eine extra Tonlage und keifte ganz ohne Sopran in ihre Wohnung hinein.

„Heinz, schnell, die Langhaarigen zertrampeln wieder die Beete!“

Keine Reaktion.

„Heinz, tu etwas!“ war das nächste, was sie - noch eine Spur schriller - von sich gab, ohne uns dabei aus den Augen zu verlieren. Und Heinz tat jetzt.

Er stürzte ans Fenster, mit Taschenlampe, finsterem Scharfblick sowie amtlich entschlossenem Gesicht. Bevor mir sein Blick noch irgendetwas antun könnte, brachte ich mich mit einem Klimmzug hinter der Balkonbrüstung in Sicherheit. Heinz dagegen nahm den kurzen Dienstweg. An Martins Wohnungstür klingelte es. Tobte es. Sturm.

Daraufhin hatte sich Martin rasch ein Jersey angezogen und öffnete, noch keuchend, verkleidet als Post Neubrandenburg-Fußballer die Wohnungstür. Vielleicht wollte er in diesem Outfit Heinz beeindrucken, sozusagen den Lokalpatrioten wecken. Denn er ahnte, wer da klingelte. In so einem Haus klingeln immer dieselben Leute. Heinz keuchte ebenfalls, aber aus anderen Gründen als Martin. Unser Auftritt und zwei Treppen abwärts hatten seinen Kreislauf auf Touren gebracht. Im Treppenhaus funkelte sein Kopf mittlerweile dunkelrot wie seine Überzeugung. Er sah ein bisschen nach Comicfigur aus. Auch der anschließende Dialog hätte dazu gepasst.

„So, geht das nicht, Martin. Deine Gäste“, er packte eine beträchtliche Portion Abscheu in das Wort, „verdrecken alles.“

„… und zertrampeln unsere schönen Beete!“ keifte es adjutierend von weiter oben.

Wir hatten in diesem Haus jetzt mit Sicherheit jede Menge Zuhörer. Martin, dem sichtlich anzumerken war, dass er aufgrund seines untergebrochenen Ficks sauer war, schaute demonstrativ die gewienerte Treppe hoch und runter, und probte Widerstand:

„Wo denn?“

„Ja, wo denn?“, von oben echote Weibes Stimme durchs Treppenhaus, und ergänzte:

„Na, wo denn. Na, draußen, wo sonst. Hinten. Unten.“

„Und dazu der Krach, um diese Zeit. Das muss doch nicht sein.“

Heinz ließ taktisch den Verständnisvollen raus, prinzipiell aber nicht locker.

„Ja, keine Ahnung, warum man um diese Zeit Sturm klingeln muss.“ sagte Martin, immer noch angepisst wegen vergeblicher Liebesmüh inklusive Coitus interruptus, ehe er fragte:

„So, was is` noch?“

Er wollte zurück in irgendein Bett.

„Wie, was ist noch?“

Heinz’ Frage war nahezu identisch, sein Tonfall nicht. Er schaute irritiert in die Richtung, in der Martin stand und erblickte uns. Nun übernahm der Offizier in ihm wieder die Führung und tönte uns entgegen.

„Das hat noch Konsequenzen!“

Eines ihrer Lieblingswörter. Was nicht alles Konsequenzen haben konnte in ihrem gelobten Land: Auftritte, Worte, Lieder, Spaß, Entgegnungen, Lachen, fehlende Hausaufgaben, falsche Einstellung, Aufrichtigkeit, vergessene FDJ-Hemden, genuschelte Kommandos, ein weggelassener Gruß. Alles könnte Konsequenzen haben. Erstaunlich, dass es hierzulande noch keinen Tag der Konsequenzen gab, wo sie doch gefühlt für jede Albernheit, baren Unsinn oder zahlreiche Berufe einen Ehrentag auserkoren hatten. Letztlich hatte allein die Tatsache, irgendwann und irgendwo geboren worden zu sein, schon Konsequenzen. Wie jeder Herzschlag! Und auch jeder Atemzug hatte Konsequenzen, hier wie überall. Das könnten sie sich gefälligst hinter ihre konspirativen Löffel schreiben!, dachte ich mir. (Aber ich sprach es nicht aus.)

An Heinz beobachteten wir eine Vorfreude auf die angedrohten Konsequenzen. Er schwebte förmlich im Parteihimmel. Mit seiner nächsten Bemerkung jedoch stoppte Martin jeden weiteren tschekistischen Höhenflug.

„Da werden wohl noch welche kommen“, sagte er.

„Was? Wie? Wer? Wird wohl noch kommen?“ fragte Heinz, vierfach irritiert.

„Ein paar Gäste, ich erwarte noch Gäste“, antwortete Martin.

„Wie, … Gäste …!?“ Heinz mochte das Wort immer noch nicht ohne Ekel aussprechen, und fügte entrüstet hinzu:

„Es ist bereits kurz nach elf!“

„Ja, dann müssten die eigentlich gleich hier sein. Wir passen auf, Herr Beimer. Sie müssen nicht extra runterkommen.“ sagte Martin betont deeskalierend. Obwohl er mit seinen Gedanken längst wieder woanders zu sein schien.

Aus der Küche ertönte ein Ruf, Schnitzel fertisch!

„Was für Schnitzel?“, mehr fiel Heinz dazu nicht ein. Wieder nur eine Frage, wahrscheinlich eine Berufskrankheit bei ihm.

„Unser Abendbrot, ich muss dann mal wieder, gute Nacht!“, sagte Martin.

„Na, warte, Bürschchen“, sagte daraufhin Heinz. Sein Kampfauftrag schien keine Kapitulation vorzusehen.

„Wie gesagt, wir passen auf.“

Das war noch einmal Martin. Heinz trat den Rückweg an und schlich nachdenklich die Treppe hoch, den Kopf voller Konsequenzen. Martin hingegen zuckte mit den Schultern und wandte sich uns zu.

„Besser, ihr kommt paar Tage nicht. Damit hier Ruhe einkehrt. Hab eh‘ Schicht.“

„Und, gibt´s Stress?“ fragte Inka, bevor sie herzhaft in ihr Stasischnitzel biss, das sie sich zwischen zwei Scheiben Toast gelegt hatte.

„Ma gucken. Aber ich glaube, Vati ist diesem Heinz übergeordnet“, sagte Martin. Er sagte tatsächlich Vati.

„Sein Führungsoffizier sozusagen“, flachste Rollke von hinten. (Dabei kannten wir das Wort noch gar nicht.)

Von oben hörten wir derweilen geschnieftes Keuchen. Dazu klingelte es mehrfach im Hausflur, Heinz informierte offensichtlich seine Kollegen. Dabei schien er völlig aus dem Treppenhäuschen geraten zu sein, unterstützt von seiner Gattin. Sie schnauzten im Chor nach unten.

„Nur, dass` te Bescheid weißt, Freundchen ...“.

Dann verschluckte Martins Wohnungstür den Heinz. Sünder hatte sie beherzt zugetreten. Es war der letzte Krach heute Abend, der von Belang war. Außerdem, Bescheid wissen? Das war aber nun wirklich sein Job! Dazu passte ja auch wunderbar das Freundchen. Die eine Spur zu intim geratene Lieblingsanredeformel vieler Hausmeister, Kellner, Schaffner, Agitatoren, Aufpasser, Kleingartenspartenchefs, GST-Führer, Schiedsrichter, TraPos, BePos, Bahnwärter, von Hausgemeinschaftsverantwortlichen, Elternratsvorsitzenden, Wehrkreiskommandooffizieren, Russischlehrern, Brigadiers, Stasi-Leuten und Abschnittsbevollmächtigten hierzulande.

Nun gut, wir wussten also Bescheid, bis zum nächsten Wochenende. Bis dahin könnt ihr eure Beete bewachen und eure Ruhe genießen, Freunde der Macht!

Wir kommen wieder.

So gesehen wurden wir in den Sommerwochen einfach nicht warm mit den hauptberuflichen Mietern. Was wohl daran lag, dass wir in jeder Hinsicht andere Vorstellungen hatten; angefangen von der Einheitsbeet-Bepflanzung bis zur jeweils passenden Musik. Vom Aussehen ganz zu schweigen. Deshalb gingen wir weiter getrennter Wege, beide aus innerster Überzeugung heraus.

Doch so einfach blieb es nicht. Sie hatten mich auf den Kicker, oder im Sucher, beziehungsweise bereits im Visier. Ich war zu viel unterwegs, ich kannte zu viele Leute. Ich machte mir zu viele Gedanken. Es war von allem zu viel. Fanden sie.

Sie suchten Kontakt und versprachen sich etwas davon, mit mir zu sprechen. Da sollte ich meine Freunde verraten und damit mich selbst. Das Begehren dieser Lumpen stand alsbald im Raum und ich vor meinem nächsten Dilemma. Sie schoben für einen Termin meinen Vater vor, der mir mitteilte, dass sich zwei Herren mit mir unterhalten wollten. (Aber verkündeten sie nicht stets im Unterricht, dass es bei uns keiner Herren mehr bedurfte?)

Nebenbei fragte mich mein Vater, ob ich irgendetwas ausgefressen hatte oder plante. Mehr sagte er mir dazu nicht, wir ahnten beide, was das bedeuten konnte. Alles. Mir blieben gottseidank noch ein paar Tage Zeit, darüber nachzudenken, was das werden soll. Die Lösung lag nahe: Ich wollte meine Klappe halten. Weder vorsprechen, noch versprechen und am besten überhaupt nicht sprechen. Ich bin aus dem Norden, kapiert das endlich, oder fickt euch ins Knie!

Ich wusste bloß noch nicht, wie ich wirklich reagieren würde. Ich spürte lediglich, dass ich mit jedem Tag, der mich dem konspirativen Treffen näher brachte, bockiger wurde. Die Freunde spürten ebenfalls, dass etwas nicht stimmte. Aber ich schwieg beharrlich. Ich wusste nicht, wie ich es ihnen beibringen sollte und ich wollte niemanden mit hineinziehen. Im Nachhinein kann ich noch nicht einmal sagen, warum. Weil es kein Kneipenthema war, oder weil ich das einfach alleine für mich klären wollte, und zwar grundsätzlich? Aber musste ich das tatsächlich?

Als der Tag dran war, schloss ich mich nach der Schule mit ein paar Happen in meinem Zimmer ein. Als würde dies etwas ändern. Die Aufregung lähmte. Was sicher damit zu tun hatte, dass ich gestern aus untätiger Verzweiflung viel getrunken und weiterhin zu niemandem ein Wort darüber gesagt hatte. Jedenfalls redete ich mir ein, müde zu sein und legte mich auf die Liege, die unter dem geöffneten Fenster stand. Ich nahm den Wecker in die Hand, stellte ihn akkurat auf vier Uhr. Als er pünktlich klingelte, schmiss ich ihn ohne hinzugucken im hohen Bogen - so, dass ich wusste, er konnte nicht auf dem Spielplatz landen - aus dem Fenster, eine tickende Zeitbombe meiner Gedanken! Es war das erste sichtbare Zeichen von Widerstand, der sich nun regte und den ich ihnen entgegensetzte. Über Freunde wird nicht gequatscht!

Per Luftlinie zirka drei Kilometer entfernt warteten um Punkt 16.30 Uhr verdrossen die Herren Genossen in der Sportschule, und zwar auf mich. Noch im Bett liegend stellte ich mir vor, wie sie sich gegenseitig immer wieder anstarrten, kopfschüttelnd auf ihre Armbanduhren glotzten und in ihren kunstledernen Aktentaschen missmutig Brotbüchsen und Kaffeekannen verstauten. Einer der beiden schaute wohl noch durch ein Fenster, ob ich nicht doch noch erscheinen würde.

Nach einem weiteren Termin fragten sie nie mehr. Aber sie fragten bei meinem Trainer nach. Der wusste allerdings auch nicht, wo ich steckte und vermutlich hätte er nichts verraten. Er war eine Respektsperson und bar ideologischer Kniefälle. Ihm gegenüber redete ich später etwas von Zahnschmerzen. Er schaute mich missbilligend an, so als verachtete er mich ein wenig für meine Notlüge. Anschließend scheuchte er mich ein paar Runden um den Platz. Damit ich meinen Gedanken entkäme, wie er mir hinterher rief.

Im Moment war dies zweifellos das Beste.

Ich beschloss, das einmal gewonnene Schweigen für mich zu behalten. Selbst wenn ich noch Tage danach verdammt aufgeregt war, vor allem, wenn es an unserer Wohnungstür klingelte.

Erst Wochen später habe ich diesen Tag gegenüber Freunden und in meinem Tagebuch beschrieben. Wieder hatte ich eine Lektion gelernt: Schweigen kann dich weiterbringen als reden.

Als Mecklenburger konnte ich prima damit leben.

Immer der Sonne nach, aber erst gegen Abend.

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