Читать книгу Immer der Sonne nach, aber erst gegen Abend. - Uwe Romanski - Страница 8

VI Kein Käfer im Garten.

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Verkehrte Welt, aus Fahrersicht.

Wäre es ein Käfer gewesen, hätte ich wenigstens an Kafka denken können. Wer weiß, dieser Tag hätte noch eine andere literarische Wendung nehmen können. So wurde es, zumindest für einen von uns, ein Drama. Wir Übrigen schwankten zwischen einem Hauch Komödie und einer Prise Tragödie. Insgeheim entschieden wir uns für etwas dazwischen, dass wir zu diesem Zeitpunkt noch keinem literarischen Genre zuzuordnen wussten. Und auch an Kafka dachte ich erst später, als schon alles gelaufen war.

Aber es war kein Käfer, es war nur ein Trabant. Brackes Trabant. Der lag nun zwischen Apfelbäumen und Veranda auf dem Dach. Es schien als läge er auf seinem Rücken, und strampelte mit seinen Rädern. (Ein Erdtrabant gewissermaßen, wenn jemand Lust auf einen Kalauer hätte.) Ich hatte keine, und ein anderer ganz bestimmt auch nicht: Bracke. Nur, er wusste es noch nicht. Ein paar Gäste meinten später, der Trabi hätte auf der Seite gelegen, als schliefe er. Andere konnten sich an nichts erinnern. Einige standen kichernd herum, die meisten spazierten ins Haus, und wieder zurück. So ging es eine Zeitlang hin und her. Es dämmerte gerade erst. Der Trabi wurde zur Pilgerstätte, one of the places you must see before … Immer wieder kam jemand vor die Tür, grinste oder prustete, und verschwand. Einige blinzelten sich verschwörerisch zu, bis auf einen, beziehungsweise bis zu jenem Zeitpunkt, als dieser eine, Bracke nämlich, mampfend aus der Tür kam, ungläubig seinen Trabi anglotzte und tobte:

„Ich krieg die Motten! Welcher Idiot …“

Der Rest seiner Tirade ging in einem von unruhigen Atemstößen unterbrochenen Fluchen verloren. Dann hörte man erst einmal nichts mehr. Brackes innere Wut beschwor für einen Augenblick merkwürdige Stille. Auch er selbst war verstummt und umkreiste sein Auto auf der Suche nach Verwundungen wie ein pingeliger Sanitäter im Schützengraben. Hin und wieder verschwand er in der Versenkung, prüfte, tastete, und manchmal hörte man ihn vor sich her murmeln, als nähme er den verursachten Schaden protokollarisch auf, währenddessen weitere Neugierige aus dem Haus strömten. Bracke blickte auf Gaffer, wir auf ihn. Jede Seite gab sich auf ihre Art Mühe, nichts zu sagen.

Jedenfalls, der Trabant hatte so etwas noch nicht erlebt, sein Besitzer offensichtlich auch nicht. Und wir genauso wenig. Dennoch hatten einige trotz anfänglicher Skepsis mehr oder weniger tatkräftig mitgemacht, das schätzungsweise 700 Kilo schwere Auto umzudrehen; von wegen Pappe. (So lagen etliche tausend DDR-Mark verkehrt herum im Garten.)

Bracke war nach seiner Inventur seltsam ruhig geworden, und sah zu uns Umstehenden. Da war auch Ruhe angesagt, Mecklenburger eben!

„Ihr habt sie doch nicht mehr alle.“

Es klang eher resigniert als vorwurfsvoll. Unmittelbar danach verließ Bracke den mobilen Tatort und stürzte ins Haus. Drinnen saß Bänni; ziemlich in der Scheiße. Als ich Bracke so ins Haus stürmen sah, dachte ich noch, er könnte sogar Recht haben. Allerdings hatte ich auch mitgemacht, aus zwei oder drei Gründen. Erstens, ich machte mir nichts aus Autos. Zudem wollte ich, wie mancher von uns, Bracke einfach eins auswischen. Der dritte Grund war vermutlich der wichtigste: ich dachte mir nichts weiter dabei. So war das also und möglicherweise offenbarte sich nebenbei in schönster Spätsommerdämmerung ein bewegendes Symbol für den Zustand der Republik. Alle machten mit, aber keiner wollte für irgendwas verantwortlich sein.

Willkommen im Osten!

Im Wohnzimmer forderte Bracke nun lautstark den Kopf des Schuldigen. Er drohte mit allem, was er war und hatte. Bänni schwieg, auch alle anderen hielten ihre Klappe. Dann scharte Bracke ein paar kräftige Leute um sich, die das Auto wieder auf seine vier Räder stellen sollten. An der Wiederauferstehung waren dieselben beteiligt wie vorher am Umsturz. Der Opportunismus ließ grüßen. (Als potentieller Zoologe machte ich hin und wieder ganz gern ein Oppossumismus daraus. Das klang nach einem vollkommen überdrehten Honecker, wie er auf einem Plenum die Wörter in seiner unnachahmlichen Art hervor hechelte.)

Bracke schnaufte, dirigierte, fluchte. Ein Deutscher mag vieles verzeihen, aber die öffentliche Demütigung seiner „Karre“?

Wenn dies nicht sogar einer Hinrichtung glich. Und im Osten, da brauchte es keinen Stahl, wog so ein Delikt mindestens doppelt so schwer. Bracke war sichtlich bedient. Das mag zum größten Teil an der Schändung seines Trabis gelegen haben. Der Rest der schlechten Laune allerdings kam wohl daher, dass er sich noch nicht satt gegessen hatte, und ihm nun - nicht ganz unverständlich - der Appetit vergangen war.

Als das Auto wieder aufrecht stand - wobei niemand der Anwesenden gedachte, diese Auferstehung zu feiern - kamen ein paar Schrammen und ein kaputter Spiegel zum Vorschein, Kratzer an den Felgen und so weiter. Als Schadensmelder stürmte Bracke nun erneut ins Haus und auf Bänni zu. Er schimpfte etwas von Schadenersatz und Idiot. Wobei der Idiot deutlich überwog, und nur von Arsch und ähnlichem getoppt wurde. Dazu fuchtelte Bracke mit dem abgebrochenen Seitenspiegel vor dem verdattert dreinblickenden Bänni herum. Dieser zuckte mit den Schultern, kratzte sich am Kopf, und glotzte. Er war nicht der Einzige unter uns, dem der Spaß offensichtlich vergangen war. Ein bisschen bockig blieb Bänni dennoch. Bracke hatte wahrscheinlich etwas mehr Demut erwartet. Aber so ist das nun mal mit den Erwartungen. Hat man zu viel, werden zu wenige erfüllt. Hat man zu wenige, hätte man sich mehr erhofft.

Jedoch dachte niemand daran, Bracke auf derlei simple Wahrheiten hinzuweisen. Es hätte wohl auch nichts genutzt. So fluchte er weiter, bis schließlich kaum noch jemand hinhören mochte. Mit einem „… Faxen dicke“ donnerte er zu guter Letzt erst die Haustür und kurz darauf die Autotür hinter sich zu.

Jemand öffnete ihm das Tor. Wenigstens fuhr das gute Stück ohne Macken. Bracke dröhnte den Berg runter. Wir hörten, wie er einen Gang zulegte. Es hallte lange nach.

Anschließend standen wir minutenlang im Garten rum und redeten uns irgendwelchen Mist schön. Allerdings lag neben der Betroffenheit gleich die Schadenfreude. Obwohl Bracke kein Schlechter war, sich immer um vieles kümmerte, und so manches auf die Beine stellte; nunmehr sogar Autos.

Es kam der Moment, an dem ich an Kafkas Käfer dachte. Wenngleich die Verwandlung im Garten nicht so prosaisch und keinesfalls wunderlicher Natur gewesen war, sondern ziemlich sinnlos. Aber das kannten wir hier ja zur Genüge.

Das Motorengeräusch ebbte ab, oder ich hörte nicht mehr hin. Ich hatte ja noch nicht einmal eine Fahrerlaubnis, geschweige denn ein Moped. Ich schraubte auch nicht gern, mich nervte schon eine Fahrradreparatur. Speedway oder Autorennen mied ich so gut es ging und es interessierte mich nicht die Bohne, wie ein Motor funktionierte.

Mitunter fragten Onkels, Freunde oder Bekannte, ob ich mich für ein Auto anmelden würde, wenn ich achtzehn wäre. Doch wozu? Mein Fahrrad reichte mir völlig. Damit kam ich fast überall hin, und konnte selbst mein Tempo bestimmen. Denn zu hastige Bewegungen bedeuteten für mich immer auch Flucht vor der Zeit. Also lieber: gemach, gemach.

Draußen passierte nichts mehr, es wurde kühler und ich müder. Ich suchte Claire. Als ich den Flur betrat, schaute sie zu mir rüber und hob fragend ihre Schultern an. Dabei wies sie mit ihren Augen Richtung Wohnzimmer. Dort rechtfertigte Bänni gerade seine Tat vor interessierten Zuhörern, die nickten, den Kopf schüttelten, oder beides taten. Ich gesellte mich dazu, während Bänni seinen Widerwillen vor Besitz, Trabant und anderen Abscheulichkeiten deklamierte. Ich wollte in diesem Augenblick allerdings weder seine Gedanken noch seine Probleme teilen. Bänni strich sich mit seinen Gleisbaupranken über den Kopf, als wollte er bestimmte Gedanken unbedingt darin behalten, oder loswerden. Es steckte ja immer auch ein gehöriges Maß Interpretation in unseren Erinnerungen!

Auch sein Achherrje! klang nicht gerade nach Triumph. Mit ein bisschen gutem Willen ließ sich vielleicht ein Geständnis heraushören. Er guckte mich an, stülpte die Lippen um und verdrehte die Augen. So, als erwartete er, dass ich etwas zum Geschehen sagen würde. Doch ich war nicht sein Verteidiger und stand ihm eher wortlos zur seite. Doch Rettung nahte. Claire brachte ihm und mir ein Bier. Sie wusste fast immer, was gerade wichtig war. Mehr konnte keiner für ihn tun.

Wir stießen an.

Ich klopfte Bänni auf die Schulter, nickte ihm zu und schlenderte wieder hinaus, mein Bier in der Hand.

Im Kopf sah ich das Ungetüm immer noch strampeln. Es schien, als wäre selbst Brackes Auto wieder zu hören. Kann allerdings sein, ich bildete mir das nur ein, weil er so, naja, Heidewitzka! abgehauen war. Aber hab mal einer die Motten!

Morgens sieht vieles ganz anders aus. Es ist die ruhigste Zeit des Tages, und die mit den besten Perspektiven. Die Geräusche der Nacht verstummt, der morgendliche Krach nur allmählich hervordringend, und neue Ideen höchstens geboren, aber längst nicht gereift. Zeit, Heimat & Liebe spielten noch keine Rolle, weil sich der Tag erst zu besinnen schien, was auf ihn zukommen sollte. Währenddessen drehte ich mich auf dem schmalen Bett hin und her, ehe ich kapitulierte und Claire die Bettdecke überließ. Sie teilte alles Mögliche und immer gern, auf ihrer Zudecke jedoch beharrte sie. Versteh` einer die Frauen!

Schließlich stand ich auf, machte mir erst einen Kaffee und anschließend so meine Gedanken über das Gestern. Der vermeintliche Kater im Schädel entpuppte sich als harmlos. Wer weiß, ob mir der geschändete Trabi nicht auch meine Trinklaune angeknackst hatte? Obwohl ich das jetzt nicht direkt Bänni ankreiden würde. Fürs erste entschied ich mich für eine Selter.

In meinem Kopf begann es zu sprudeln. Ich ließ es zu, lehnte mich auf einen Gartenstuhl zurück und schloss für einen Moment der Andacht die Augen. Kafkas Käfer zappelte darin; auch Bracke, der voller Vorfreude einem Tribunal vorsaß, in dem über Bänni gerichtet werden sollte. Nach wie vor wurde dessen Kopf gefordert. Höchste Zeit, die Augen wieder aufzumachen! Dabei wandte ich mein Gesicht Richtung Sonne, die behutsam empor kroch und ausnahmsweise selbst im Osten zaghaft leuchtete. Derweilen zerfloss der letzte Tau zwischen den Zehen und verzauberte den Garten mit minutiös wechselnden Mustern. Man konnte hin- oder wegschauen, wie es einem gefiel. Mir gefiel es, selbst wenn in meiner Erinnerung noch der gestrige Abend waberte.

Es war schließlich keine große Sache, es war nur ein kleines Auto. An große Sachen erinnert man sich ohnehin erst viel später, und die kleinen vergisst man meist zu Recht! Vielleicht hatten wir kollektiven Unsinn fabriziert, möglicherweise aber auch nur Schabernack getrieben. Passiert ist passiert. Ich überlegte noch kurz, ob mir eine passendere Weisheit aus dem Erfahrungsschatz meiner Oma einfiel. Doch die hatte mit Autos noch weniger am Hut als ich.

Im Gegensatz zu Claire war ich beständiger Frühaufsteher. Vielleicht sollte ich es in Anlehnung an spätere Zeiten einfach postnatale Bettflucht nennen. Allerdings war mir egal, welcher Fachbegriff dafür am geeignetsten wäre, ich wollte nur funktionieren. Das Verlieren von Kontrolle war mir genauso unverständlich wie das Vergeuden von Zeit mir nicht geheuer erschien. Es ist nicht statthaft, sich auf etwas einzulassen, dessen man nicht Herr werden kann! Die Zeit ist eben eine Einbahnstraße, auf der man sich lediglich umsehen kann, aber niemals umkehren. Deshalb kommen wir am Ende alle irgendwann am gleichen Ziel an.

Erzähl mir einer von den wahren Dingen!

Ich hätte zugehört. Mein Biotop umfasste auch den Abgrund. Zumindest dachte ich hin und wieder genau so, also eine Spur zu erwachsen für mein Alter. Was auch immer mit mir geschah, es geschah mir ganz recht. Unter uns Freunden nannten es manche Schicksal. Bei meiner Mutter klang es nach Wetterbericht. Sie sprach von „pubertären Ausläufern“, wie ich erfahren musste, als ich hörte, wie sie mit einer ihrer Freundinnen über mich redete.

Erst wusste ich nicht so recht, was ich von alldem halten sollte. Mit der Zeit jedoch gewöhnte ich mich daran und dachte weniger darüber nach, was mit mir passierte. Fragte ich Claire danach, sagte sie meist gar nichts dazu, sondern schaute mich einfach an; ganz eine frühe Versteherin. Dann kamen halt so Momente. Ihr Blick wanderte an mir runter und ich küsste sie, und mehr.

Nachdem ich aus meinen Grübeleien erwacht war, schaute ich nach Claire. Sie lag still sowie friedlich nach Luft schnappend in ihrem Zimmer. Ich ging wieder raus in den Garten. Nirgendwo war ein Käfer zu sehen. Nichts summte durch den frühen Morgen. Es herrschte eine unnatürliche Ruhe, als hätten sich die üblichen Gartenviecher still und heimlich zum Boykott verabredet. Sei’s drum. Doch mir war nicht nach Aufruhr.

Ich horchte. Aus der Stadt, von den Kurven zum See hin, dröhnten Autogeräusche. Ein Auto ratterte den Hang neben dem Haus runter. Es roch nach Zweitakter. Aber, was heißt, roch …

Ich starrte dem Trabi hinterher. Alles erinnerte an Bracke.

Punkt acht schrillte ein Kuckuck mit blecherner Stimme aus dem Wohnzimmer. Wenigstens ein weiterer Vogel, der schon wach war. Im Gegensatz zum munteren Uhrvogel wurde ich jedoch wieder müde. Deshalb legte ich mich zu Claire, die meine mürben Gedanken zerstreichelte. Bald war ich weg.

Kafka & Party: Es war zu ahnen, dass dies nicht unbedingt zueinander passte.

Immer der Sonne nach, aber erst gegen Abend.

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