Читать книгу Immer der Sonne nach, aber erst gegen Abend. - Uwe Romanski - Страница 7

V Geruchssinn.

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Immer der Nase nach.

Letzte Nacht hatte Malte wiedermal bei mir geschlafen.

So entkam er manchmal seiner wunderlichen Mutter mit ihren Nöten, seiner ostpreußischen Oma mit ihren Erinnerungen, und seinen eigenen Gedanken selbst auch ein bisschen, oder dem Geruch daheim. Ich erinnerte mich, wie wir uns kennen gelernt hatten. Es stank mir gewaltig!

Es war der erste Schultag an der Erweiterten Oberschule „Friedrich Engels“. Ab jenem Tag war ich Schüler der 9. Klasse. In diesem Alter fing man langsam an, sich über Dinge tiefere Gedanken zu machen, die hier von uns vorausgesetzt und verlangt wurden. Schließlich sollten wir ausgebildet werden, damit aus uns Kadern etwas werden könnte: Genossen, Erzieher, Ingenieure, Ärzte, Forscher, Lehrer, Autoren, Spione, Künstler, Leiter, Experten, Wissenschaftler, Kapitäne, Wachsoldaten, Offiziere, Kommunisten, Helden.

Bei mir stand ein ziemlich ausgefallener Berufswunsch in der entsprechenden Spalte im Klassenbuch: Zoologe. Die DDR als eingegrenztes Biotop könnte schließlich jede Menge endemisches Fachwissen gebrauchen. Da war ich mir ziemlich sicher, und beließ es für die nächsten Jahre dabei. Wer hingegen nichts Besseres wusste, wollte entweder Offizier werden oder musste Maschinenbau studieren.

Ich betrat also an einem Septembermorgen im Jahr 1978 zwei Minuten vor halb acht unser neues Klassenzimmer im dritten Stock des linken Gebäudeflügels. Links, wenn man vor dem Schulgebäude stand, und drauf blickte. Raum 301, wenn man die Treppe hoch kam, linkerseits. Hier war alles links.

Das fiel einem gleich auf, und man konnte es sich gut merken. Im Klassenraum angekommen, blickte ich mich um. Gelangweilte oder belanglose Gesichter schauten mich an, als hätten sie mich erwartet. Ein paar erkannte ich wieder, wir hatten an dieser Schule bereits im Juni ein erstes Treffen als künftiges Klassenkollektiv gehabt. Aber damals waren nicht alle anwesend, oder ich hatte die meisten Gesichter längst vergessen. Heute früh war ich definitiv der Letzte. Ich ahnte auch keinesfalls, dass die Wahl meines Sitzplatzes meine nächsten Jahre maßgeblich beeinflussen würde. Aber was heißt hier eigentlich Wahl. Es war noch genau ein Platz frei. Vorn in der ersten Reihe, direkt vor dem Lehrertisch, direkt neben Malte.

Ich drängelte mich durch und setzte mich in dem Moment hin, als unsere Klassenlehrerin den Raum betrat. Sofort schnupperte ich etwas. Es kam eindeutig von Malte. Ich sollte besser sagen, es kroch regelrecht aus ihm heraus. Es war ein Geruch, den ich überhaupt nicht kannte. Ich dachte noch, wäscht der sich nicht?

Wenigstens am ersten Schultag hätte man das doch durchaus erwarten können, oder?

Ich rückte, so unauffällig wie möglich und so weit es ging, von ihm ab und hörte zu, was von uns an dieser schönen Schule, wie unsere Klassenlehrerin ihr erzieherisches Mantra abspulte, erwartet wurde. Dann kam ein kurzer, sehr forscher Auftritt des stellvertretenden Direktors. Er stellte sich als Genosse Soundso vor und wurde nicht müde zu betonen, was er im Einzelnen und die Partei als Ganzes von uns erwarteten. Gleichzeitig bot er an, immer ein offenes Ohr für unsere Belange und Ziele zu haben, oder unserem Wunsch, selbst einmal in die Reihen der Genossen aufgenommen zu werden. Dann war der Spuk beendet. Ich wartete noch auf eine Fanfare, ein ähnliches Signal oder wenigstens ein paar Takte vom kleinen Trompeter, vergebens. Doch alles deutete darauf hin, dass ganz schön was auf mich zukommen würde. Mein Gott, was machte ich hier bloß!

Der Geruch verdrängte jedoch fix derartige Gedanken. Ich atmete vorerst nur durch den Mund, was leicht debil aussah. Aber wenigstens roch es nicht mehr so streng in meinem Kopf. Außerdem war es für den Rest der Klasse nicht zu sehen, weil ich glücklicherweise vorn saß. Nun musste jeder der Reihe nach aufstehen, seinen vollständigen Namen aufsagen (Oje, mein Vorname!), seinen Studien- und Berufswunsch angeben und aus welcher Ecke der Stadt er kam. Die üblichen Vornamen fielen, genauso wie bereits erwähnte Berufsziele nebst entsprechenden Studienfächern. Die meisten kamen aus der Oststadt, aber auch Vogelviertel, Südstadt, Datzeberg, Ihlenfelder Vorstadt und Lindenberg waren vertreten. Richtige Bauern schienen nicht unter uns zu sein. Jedenfalls nannte niemand eine der nahen Klitschen sein Zuhause. Dann ging´s um den Unterricht in den kommenden Wochen bis zu den Herbstferien. Ich freute mich jetzt schon wie ein kleiner Junge auf diese Ferien, vor allem wegen dem Gestank und den Genossen hier. Vorn wurde unser Stundenplan an die Tafel geschrieben. Eine Menge Fächer, die ich nicht brauchte. Wie alle schrieb ich trotzdem alles fleißig auf, was uns gesagt oder von uns erwartet wurde und nahm anschließend ein paar Bücher in Empfang. (Für mich als Spross einer kinderreichen Familie gab´s die umsonst.) Zwischendurch wurde viel gefragt und geantwortet. Auf meine Fragen hätte es hier jedoch keine Antworten gegeben. Deshalb verhielt ich mich still; bis zur Pause, auf die ich verzweifelt wartete, meinen Geruchssinn unterdrückend, so gut ich es vermochte. Mit Malte hatte ich bislang nur einen Blick und ein angedeutetes Nicken gewechselt, aber noch kein Wort. Gottseidank klingelte es, ein Signal der Erlösung. Ich machte, dass ich raus kam und sog auf dem Schulhof die klare Herbstluft wie ein Überlebender ein, der knapp einer Katastrophe entkommen war. Ich hatte mich allerdings zu früh gefreut. Von hinten näherten sich Schritte.

„Na, wie fandest die erste Stunde?“

Da stand Malte, aber hier draußen war ich olfaktorisch gesehen in Sicherheit.

„Ging so“, sagte ich und drehte den Kopf beiseite.

„Und die Klasse?“, fragte er.

„Keine Ahnung“, sagte ich.

„Schein` paar schöne Trottel dabei zu sein“, sagte er.

„Sah ganz danach aus“, sagte ich und dachte, eigentlich könnte das was werden mit uns. Wenn nur nicht dieser Gestank wäre. Malte zog unterdessen eingepackte Stullen aus seiner Jackentasche und bot mir wortlos eine an. Da war er wieder, dieser Duft!

„Was hast ‘n da überhaupt drauf?“ fragte ich misstrauisch, allerdings ohne jeglichen Anflug von Appetit.

„Leberwurst mit frischem Knoblauch.“

Daher wehte also der Wind! Ich winkte hastig ab.

„Isst du das etwa jeden Morgen?“ fragte ich ihn.

„Ne“, sagte Malte und spürte meinen verängstigten Blick auf sich ruhen.

„Ne, mach dir mal keine Sorgen“, legte er nach.

Wir schwiegen und sahen uns auf dem asphaltierten Schulhof um. Überall Grüppchen, in der Raucherecke die älteren Semester, wie manche sagen würden. Der Rest unserer Klasse stand in zwei Gruppen, eine kleine mit den Jungs, die mit starrem Blick und den Händen in den Jackentaschen rumstanden wie bestellt und nicht abgeholt! Daneben der gackernde Haufen der Mädchen, die hin und wieder zu Malte und mir schauten. Ich hörte Malte sagen.

„Vielleicht sollten wir uns eher an die Mädels halten.“

„Das dacht’ ich sowieso“, antwortete ich.

Malte lächelte verschmitzt, schaute über seinen oberen Brillenrand zu mir rüber und schob anschließend mit seinem linken Zeigefinger seine Brille ein Stückchen nach oben. Dann fragte er.

„Sach mal, warste gestern auch in der Schüler?“

Schülergaststätte, bei mir fiel der Groschen. Ich kannte Malte also bereits vom Sehen.

„Ja, aber nur auf zwei Bier, wegen der Aufregung und so. Mit einem meiner Brüder und dessen Kumpels. Die stehen da drüben.“

„Wusste ich´s doch, dass ich dich gesehen hab“, sagte Malte.

„In welchem Revier hast du gesessen?“ fragte ich.

„Bei Evi, die fragt nie nach ‘nem Ausweis“, sagte Malte nun.

„Ja, solange man´s nicht übertreibt.“

„Bin um halb Neun wieder weg.“

„Ich um Neun“, lautete meine Entgegnung.

Es war dies der Moment, als ich dachte, aus uns beiden könnte sogar an dieser schönen Schule etwas werden.

... das war jetzt über anderthalb Jahre her. Kinder, wie die Zeit vergeht! So hätte meine Oma das wohl kommentiert. Malte und ich hatten die Zeit an der Penne bisher gut rumgekriegt. In der Klasse galten wir zwar als Sonderlinge, waren aber akzeptiert, selbst integriert, auch wenn uns beiden das ziemlich egal war. Wir mussten hier einfach sein, so sahen wir das. Und damit lagen wir gar nicht mal so falsch.

An diesem Morgen saßen wir kurz vor Sieben bei einem Frühschoppen, das Wort sagt’s ja schon, es war verdammt früh. Wir lungerten bei mir im Zimmer rum, horchten ab und an, wer aus der Familie gerade die Wohnung verließ und redeten über das kommende Wochenende. Claire wollte dank sturmfreier Bude ihren Geburtstag bei sich feiern. Ich erhob mich vom Bett.

„Hast du Mathe?“, fragte ich Malte.

Er nickte und sagte, dass er noch Deutsch bräuchte. Ich gab ihm meine Gedicht-Interpretation und tauschte gegen Geometrie. Von wegen, wir würden nichts für die Schule tun, für unsere schöne Schule, wie wir öfter und grinsend in gemeinsamer Erinnerung an die erste Schulstunde unsere Klassenlehrerin zitierten. Wir schrieben die Hausaufgaben ab, tranken Weißwein dazu, der von übrig war, und dachten uns, dass dies schon mal kein schlechter Anfang für den Tag wäre. Durchs Fenster lugten wir aus dem noch nicht einmal zehn Quadratmeter großen Kabuff, das die sozialistischen Bauherren euphemistisch als Kinderzimmer projektiert hatten. Wir schauten anderen auf ihrem Schulweg zu und blickten uns um. Dort draußen war alles auf eine ähnliche Art genormt wie drinnen. Häuserblocks, Kindergärten, Spielplätze, Hecken, Beete, Straßen und Wege. Eine perfekte Stadt, nicht um die Orientierung zu verlieren, nur die Lust. Und hier sollten wir alt oder wenigstens älter werden?

Halb acht begann der Unterricht. Vielleicht hatten wir ja heute wirklich eine Stunde später. Und wenn nicht, na, dann war das auch nicht weiter schlimm. Es klopfte sachte und meine Mutter blickte etwas irritiert, den Wein übersah sie entweder geflissentlich oder real. Schließlich wähnte sie uns schon auf dem richtigen (Schul-)Weg, durfte aber ihren „4“-er Bus in die Stadt nicht verpassen.

„Müsst ihr gar nicht los?“ fragte sie.

„Nö“, sagte ich.

„Ausfall?“, fragte sie.

„Ja“, sagte ich.

„Wahrscheinlich“, murmelte Malte.

Die Wohnungstür schloss eilig. Meine Mutter war Lehrerin und durfte nicht zu spät kommen.

Für unsere Eltern waren wir schon ein bisschen die verlorene Generation. Vielleicht sogar mehr als wir es uns selbst einbildeten, vor allem am frühen Morgen. Es war ihnen auch gar nicht zu verdenken. Denn eine morgens halb geleerte Flasche Weißwein stand kaum für berufliche Karrieren, die sich andere für uns vorstellten. Uns ausdrücklich ausgenommen, denn wir stellten uns gar nichts vor. Auch für die meisten unserer Lehrer blieben wir ein Rätsel, wenn nicht sogar Schlimmeres.

Malte rülpste, das Zeichen zum Aufbruch. Wir stiegen die breite Treppe hoch, am Kindergartenkomplex vorbei. Hier wurden also unsere Komplexe samt Konsequenzen geboren, gehegt und großgezogen. Dann die Harder-Straße, dahinter am Spielplatz entlang, wo ein paar Spaßvögel von Bauarbeitern einige Kanalschachtelemente verkehrtherum zu Treppenstufen umfunktioniert hatten. Noch einen Block entlang, dann kam schon der nächste Kindergarten. Die Oststadt war die reinste Brutstätte!

Malte musste noch nach Hause, Schulsachen holen. Er kam mit Nylonbeutel wieder, ästhetisch kein Anblick. Auf dem restlichen Weg redeten wir uns den Tag schöner, als er in der Regel werden sollte. Es war so eine Art Schutzfunktion. Was raus war, nervte uns nicht mehr. Es musste ja nicht immer Spaß machen, aber Sinn ergeben - das wäre schon mal was. Denn Sinn machen ergibt keinen Sinn, kalauerte ich gelegentlich vor mich hin. In solchen Momenten blieb ich in der Clique unverstanden, außer bei Malte. Ich gewann immer mehr den Eindruck: der wusste, worauf es ankommt. Und ich? Wie sah´s bei mir aus?

Es war eine Zeit, als sich die Dinge noch schneller änderten als die Menschen. Ich spürte, dass es wichtiger werden könnte mich zu entscheiden; ich ermaß die zwei Jahre, die ich in dieser Stimmung verbracht hatte. Wie die Brücken in die Kindheit brüchiger wurden, genauso wie vor Jahren meine Stimme. Was sollte ich tun? Die Zeit machte mit mir sowieso, was sie wollte. Letztlich genau wie die Natur. Damals galt die Natur noch nicht so überschätzt wie heute. Doch derlei Gedanken in der Früh ignorierten eines: Morgens werden keine Sieger gemacht! Das war schon mal klar, schon gar nicht Sieger der Geschichte. Oje, ich glaube, vor lauter Melancholie hatte ich sie jetzt nicht mehr alle.

Liebe kann so grausam sein oder Bis zur Hochzeit ist alles wieder gut. Ich hatte die Wahl zwischen zwei Lieblingssprüchen meiner Oma. Schwierige Entscheidung, aber wirklich. Denn was ist Melancholie anderes, als das erstaunliche Gefühl zu ahnen, dass sich die Welt von einem Moment auf den anderen schneller verwandeln kann als wir uns selbst.

Gottseidank stand ein Wochenende bevor, und Claires Party. Da konnte ich mir neue Gedanken leisten, die Grübeleien beiseiteschieben und mich den Dingen zuwenden, die wirklich wichtig waren. Dabei ging es um Land und Leute. Wahrscheinlich wollte die Heimat auch nur entdeckt und geliebt werden, wie wir alle. Aber ich wusste nicht so recht, ob Mecklenburg der geeignete Landstrich war, um diese Liebe zu erwidern. Es schmiss sich wie eine alte Vertraute an uns heran; mit Seen, Buchenwäldern und hügeligen Landschaften, dass wir bloß nicht wegwollten und treu bei ihr blieben, für immer. Mitunter war es ein großartiges Gefühl, sich hier satt zu sehen, manchmal eines zum Verzweifeln und noch seltener konnte man hier verrückt werden. Doch was hatte ich bisher an Alternativen gesehen? So gut wie nichts. Ich zögerte meine Heimatliebe noch ein Quäntchen hinaus.

Samstagnachmittag. Heute feierte Claire ihren Geburtstag nach, ihre Eltern waren übers Wochenende weggefahren. Das Häuschen reckte sich an einer Hangstraße, mit einem Garten voller Apfelbäume. Ich half Claire, Getränke und Würstchen zu besorgen, alles soweit herzurichten, manches sicherheitshalber wegzuräumen. Anschließend hatten wir noch ein wenig Zeit, uns um uns selbst zu kümmern, bevor die ersten Gäste eintrudelten. Wir begrüßten uns, schwatzten, tranken. Manche sahen sich die Woche über nicht, einige hatten auf diesen Tag hingearbeitet. Ich stand mit Hannes und quatschte, Bänni schlich vorbei ins Haus und Bracke parkte sein Auto im Garten, um weitere Getränke auszuladen. Dann verabschiedete er sich Richtung Buffet. Das konnte dauern. Bänni kam mit ein paar Jungs raus. Drinnen hätte man das Ächzen und Stöhnen hören können, wenn jemand die Musik leiser gestellt hätte. Es würde nicht mehr lange dauern, und Claires Geburtstagsparty käme so richtig in Fahrt.

Immer der Sonne nach, aber erst gegen Abend.

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