Читать книгу Immer der Sonne nach, aber erst gegen Abend. - Uwe Romanski - Страница 9
VII Das Rom des Nordens.
ОглавлениеDie Eiszeit hielt uns hier gefangen.
Es hat etwas gedauert, ehe mir dieser Zusammenhang so richtig klar wurde. Obwohl es angesichts der Hügel und Kuppen recht offensichtlich war, was diese Stadt prägte, und uns vermutlich gleich mit.
Klar, woanders redete man vom Ankommen, wir hingegen sprachen vom Weggehen, von der Ferne, von Orten eben, die uns vielleicht heimischer machen könnten. Aber wahrscheinlich war das auch nur so ein Gerede. Das man so von sich gibt, wenn man nicht ahnt, wo man hingehört, und nicht weiß, worüber man an Orten wie diesem sprechen soll. Ich sag nur Heimat, und mehr sag ich nicht dazu.
Hier oben war die Stille noch zu hören. Für mich war Mecklenburg eine Gegend, in der jemand die Melancholie hätte erfinden können. Doch allzu viel war hier oben scheinbar noch niemandem so richtig in den Sinn gekommen. Bismarck wird wohl anderes im Sinne gehabt haben. Ich hingegen fand es recht schön, dass die Welt da draußen uns noch einige Jahrzehnte in Ruhe ließ, ehe sie alle mit ihrem Fortschritt behelligen würde.
Wer weiß, vielleicht hätte es sogar Sinn ergeben, in dieser gottverlassenen Gegend nach diesem sagenumwobenen Gottesteilchen zu suchen? Für derartige Grundlagenforschung reichten meine naturwissenschaftlichen Ambitionen freilich nicht aus. Man kann schließlich nicht überall dabei sein, wenn es um die Grundfesten unserer Anschauung geht. Klappe halten, und ein bisschen betrübt dreinschauen, als wäre einem gerade ein kapitaler Fang von der Angel gesprungen. Dies passte viel besser zu uns, und zu diesem Landstrich.
Keine Frage.
Kurz und gut, womöglich war also die Eiszeit daran schuld, dass diese Stadt so kühl auf mich wirkte. So gesehen lebten wir nämlich in einer der sprödesten Städte im Land. Ein frostiges Erbe hatte diesem Ort den Grund bereitet und brachte weiter Kälte über uns. Um Abhilfe zu schaffen, hätte grundsätzlich etwas verändert werden müssen. Doch leider reichte es bei den meisten von uns nicht dazu, rundherum die Berge zu versetzen. Die Moränen, diese unausgeglichene Hinterlassenschaft einer bewegten Zeit, ließen sich nicht einfach beliebig verschieben wie unsere Gedanken. Die ihren Ursprung auch hier oben hatten, ehe sie sich auf die Reise machten. Ich konnte an diesem Ort vieles denken, an weniger allerdings noch viel besser. Das Einzige, was mir in dieser Angelegenheit etwas merkwürdig vorkam, war lediglich der Fakt, warum ich nicht schon viel früher darauf gekommen war.
Auf den Hügeln unserer Stadt versuchten sie währenddessen mit aller Gewalt, sprich Fünfjahresplänen (doch mit in deutlich kürzeren Etappen denkenden Menschen), eine neue Welt zu erschaffen. Darin eingeschlossen: ein sozialistisches Himmelreich, das Eiapopeia der Menschheit, die Lösung aller Fragen. Die sich hier ohnehin so gut wie niemand zu stellen traute, und ich. Wir selbst fragten auch nur selten nach, sondern bemerkten lediglich, wie jeden Tag in unseren Niederungen um noch so kleine Fortschritte gerungen wurde. Zwar auch nicht von allen, vor allem nicht von uns. Ihre entscheidende Schlacht um die ökonomische Weltherrschaft sollten sie dann doch lieber allein ausfechten. Ein Opfer zu bringen, beziehungsweise seinen Beitrag zu leisten für ihre Mission oder Erlösung, dazu waren nur die wenigsten bereit. Und, unter uns, insgeheim waren es sogar noch weniger.
So, oder so ähnlich dachte ich, wenn ich einen Grund dafür suchte, warum mich dieser Ort im Großen und Ganzen kalt ließ. Doch die Eiszeit war verdammt lang her, der heutige Tag fast schon rum, und was wird eigentlich morgen? Genau, darum ging es. Woran würde ich mich erinnern? Dies war für jeden von uns eine Frage, die im Laufe der Zeit immer entscheidender wird. Und welche Rolle würden dieses Land, und wir selbst darin, eigentlich dabei spielen?
Doch zurück zur aktuellen Lage.
141 Kilometer entfernt von der Hauptstadt der größten DDR aller Zeiten galt Neubrandenburg als Die Stadt der vier Tore. Auch wenn zu Faschingszeiten immer mal wieder jemand den Spruch wagte, dass es hier doch viel mehr Toren gäbe, und wir insgeheim sowieso vornehmlich von vier Notausgängen sprachen. Dennoch ging diese Narrenweisheit im kollektiven Schunkeln verschämt unter und somit glücklicherweise verloren, wie so einiges. Neben der für mich eher belanglosen Geschichte der Stadt war schon der lange Ortsname eine Zumutung. Deshalb sagten wir einfach N.; zu über achtzig Prozent im letzten Weltkrieg zerstört, anschließend jahrzehntelang vernachlässigt, alsbald pompös geplant. Erst kamen wir, dann die Partei, oder doch umgekehrt?
Jedenfalls wurde eine glorreiche Idee geboren: Eine sozialistische Agrar-Großstadt musste her! So lautete bereits zu Beginn der 70er Jahre ein Beschluss der Partei. Am besten mittig zwischen Ostsee und Hauptstadt gelegen, mit reichlich Platz zum Austoben für Aktivisten und Fünfjahrespläne. Gut Ding will ja bekanntlich Weile haben. Eine gelobte Stadt, hoch im Norden, sollte entstehen. Hier, wo sich bis dato Bauer und Pferd Gute-Nacht sagten, der Dialekt noch nach Landes-Sprache klang und Perspektiven auf weitläufigen Kartoffeläckern endeten.
Damit sollte zukünftig Schluss sein!
Auch Beschlüsse hatten hierzulande selbstverständlich Konsequenzen, brauchten allerdings so ihre Zeit. Dennoch sollten wir diesen aufbauenden Traum live miterleben, wohlbehütet in Hausgemeinschaften wohnend, mit einer Art Blockwart. Dazu gab es Warmwasser aus der Wand und Fernwärme aus dem Heizwerk, dessen Schornstein wir am nördlichen Horizont rauchen sahen wie ein Fanal. Es sei denn, es gab nichts zu heizen, weil die Weichen vereist oder ein Rohr geplatzt war wie so mancher Traum hienieden. Aber das kam seltener vor, alles war schließlich ziemlich neu. Von wegen: Wir hatten ja nichts. Im Gegenteil, es gab nicht wenige, die voller Überzeugung tönten: Was will man mehr!
Ein beträchtlicher Teil der hiesigen Bevölkerung hing also ihrer Illusion vom Paradies auf Erden eine ganze Weile nach. Und sei es dank Nachhilfe! Man siedelte Forschung und Industrie an. Vermutlich, um ein paar Intellektuelle mit uns Einheimischen zu kreuzen. Vielleicht sollte daraus ja der neue Mensch entstehen, von dem in jenen Zeiten so viel palavert wurde.
Auf einmal hörte ich Sächsisch und Anhaltinisch, oder Thüringisch und Berlinerisch, in der Turmstraße, dem Boulevard der Stadt, wie man in anderen Weltstädten Hindi, Persisch und Afrikaans auf den Straßen und Plätzen vernahm.
Vor allem redeten die Zugereisten ständig und überall. Manchmal dachte ich, so viele Worte gibt´s doch gar nicht. Auch in unserer Klasse begrüßten wir skeptisch, aber oktroyiert optimistisch, im Namen des gesamten Klassenkollektivs, zwei Neuankömmlinge aus Thüringen und machten uns in den ersten Wochen wie phonetische Spürhunde im Namen des Dudens über ihren Dialekt her. Irgendwann ließen wir sie in Ruhe, oder gewöhnten uns einfach nur an ihre sprachlichen Marotten.
Unterdessen zerrte die Stadt an ihren Grenzen. Wir ließen sie einstweilen gewähren. Die Pläne wechselten ohnehin schneller als die Ausführenden. Das einst üppige Modell der neuen Satellitenstadtteile war eben nur ein Entwurf und wurde nicht 1:1 Realität. Auch wenn sich anfangs durchaus einiges tat. Nachdem etwa am Stadtwall etwas mehr Dreck als üblich weggekarrt worden war, kam die mittelalterliche Stadtmauer Stein für Stein opulenter zur Geltung und wurde nach und nach restauriert. Einschließlich der zahllosen Wiekhäuser, die den ehemaligen Wächtern der Stadt als Herberge dienten. Früher war die Stadt außerordentlich schwer einzunehmen gewesen und es war augenscheinlich eine größere Herausforderung, hinein zu gelangen. Heute standen wir eher vor dem Problem, wie wir N. verlassen konnten. Zumal wir nicht so richtig wussten, wohin.
Es gab sogar ein Lied darüber:
Wohin soll denn die Reise gehen, wohin, sag` wohin, ja wohin …
Im Zentrum ragte einsam das Hochhaus empor, ein 14-Geschosser. Dieses Gebäude war bereits in den Sechzigern errichtet worden. Was auch auf den ersten Blick erkennbar war, und für uns, gelinde gesagt, nach einem anderen Zeitalter klang. Schlicht anzusehen, bot es dennoch Strukturen. Es war nicht ganz hässlich, aber alles andere auch nicht. War es nun das neue Bauen, hatten sie keine anderen Ideen oder fehlte es an Material?
Hätten wir uns zu jener Zeit schon was aus Freud gemacht, wäre es als dominierendes Phallussymbol in einer verklemmten Gegend identifiziert worden. Doch soweit waren wir noch nicht, und machten uns keine Gedanken über Bauwerke oder Wirkung- Also beließen wir den Phallus im Reich der Phantasie. Jedenfalls sollte uns dieser architektonische Monolith auf moderne Weise Kultur beibringen und Bildung vermitteln: als Haus für Kultur und Bildung, kurz HKB. (Überhaupt, ohne Abkürzungen wäre die DDR vermutlich viel eher bankrott gegangen!)
Hier war die Bibliothek untergebracht.
Ein Grund für mich, öfter dort zu sein. Unlängst hatten sie nach wochenlanger Tüftelei ein Lochkartensystem eingeführt, und taten nun an der Ausleihe tatsächlich so, als könne künftig logistisch nicht mehr groß was kommen, als ein Loch am richtigen Platz.
Allerdings irrten sie auch in diesem Punkt.
Die Zukunft kommt eben immer erst Jahre später, und kam im Osten oft vollkommen überraschend. Es dauerte nicht mehr allzu lange und in Erfurt wurden die ersten Computer zusammengeschraubt. In der Schule fiel diesbezüglich der Begriff technologische Überlegenheit. Dieser wurde immer mehr ein Thema: in der Aktuellen Kamera, im ND, oder in anderen heiklen Quellen. Unter uns wurden derartige Ambitionen müde belächelt, falls wir überhaupt darüber sprachen. Wir blieben lieber misstrauisch, wenn der Fortschritt übermächtig zu werden drohte.
Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste! Auch meine Oma entpuppte sich als bedächtige Mahnerin vor propagierter Fortschrittsgläubigkeit. Zumal hierzulande kein Mensch wusste, was man mit Computern eigentlich so anstellen sollte. Nur die Zeitungen bejubelten regelmäßig einen Chip aus Thüringen, der im Wettlauf der Systeme den Kapitalisten von nebenan den Takt vorgeben und sie das Fürchten lehren sollte. Doch insgesamt betrachtet, erwischte uns im Norden die technologische Revolution einfach auf dem falschen Fuß.
Zurück zum Text: Im HKB jedenfalls protzte ein Foyer. Hier gab es einen Saal, in dem ich - neben vielen anderen Leidensgenossen meiner Generation - meine traumatisierende Jugendweihe überlebt hatte. Damit waren manch unschöne Erinnerungen verknüpft, vor allem unästhetische. Wie meine so genannte Kombination - graue Hose, dunkelblauer Blazer - in der ich mich bescheuert fühlte, und auch so aussah. Genauso wie übrigens der männliche Rest der Klasse. Hip ist definitiv etwas anderes, vielleicht hätte es schräg ein bisschen besser getroffen oder auch trashig. Auf jeden Fall boten wir einen traurigen Anblick. Zumal wir auch noch Hemd und Krawatte tragen mussten. Ich weiß gar nicht, was ich schlimmer fand. Dass mir so ein Teil den Hals zuschnürte, oder dass Schlipse (Das Wort allein klingt schon abscheulich!) bei jeder unpassenden Gelegenheit als Kulturstrick bezeichnet wurden.
Falls ich Wörter hasste, wäre dies mit Sicherheit ein Favorit auf meiner Liste. Unsere Mädels hingegen übten in Stöckelschuhen & Kostüm den aufrechten Gang, und ihre künftige Rolle gleich mit.
Wenigstens konnte ich meine Klamotten später für den Fasching verwenden. Da ging´s auch darum, so beknackt wie möglich auszusehen. Im Berufsausbildungszentrum (ostdeutsch: BAZ) reichte ein Bademantel, den ich über den Jeans trug, beim HKB-Verkleidungsfest eben die Sachen von der ideologischen Taufe und für den Faschingsaal des hiesigen Reparaturwerks (RWN natürlich) schnitt ich einfach einen Gummiball in der Mitte durch und setzte ihn mir auf den Kopf. Mein Bruder bekam die andere Hälfte. Fertig waren die Kostüme, und der Einlass gesichert.
Auch Kämpfer müssen mal pausieren und sich amüsieren. Dann trieben sie sich mit Polonaisen auf ihren Faschings-, Weihnachts-, Brigade- oder Betriebsfeiern durch die Säle. (Früher dachte ich, dass die Polonaise ein polnischer Volkstanz oder zumindest irgendwie eine Erfindung oder Pointe unserer östlichen Nachbarn war. Aber da wusste ich noch nichts von Französisch.) Unentwegt klebten die Verführten aneinander wie einstmals im DEFA-Film Die goldene Gans. Vor ein paar Stunden hatten sie sich in ihren Betrieben, Kollektiven und Brigaden noch angeschrien, voll gemotzt, aushilfsweise verachtet oder ignoriert. Jetzt irrten sie volltrunken durch bescheiden dekorierte Kantinen. Wenn Gemütlichkeit keine Heimat kennt, kennt Fröhlichkeit auch keine Grenzen. Das ließe sich umgekehrt genauso sagen. Am furchtbarsten fand ich diesen Schmidtchen Schleicher-Song, zu dem die ganze ältere Republik tanzte! Dessen perverse Melodie und ihr „Schleicher“-Duktus passten perfekt zu diesem System. Doch wenn es nach mir gegangen wäre, gehörte aufgesetzte Gemütlichkeit in der Öffentlichkeit ohnehin strikt verboten. Das wäre mal ein schönes Verbotsschild: ein durchgekreuztes schunkelndes Trio! Ähnlich wie durchgestrichene kackende Hunde. Dann wäre hier vermutlich schneller Schluss mit lustig! (Was, nebenbei bemerkt, auch mal ein prima Faschingsmotto wäre!) Ich mochte keinen Fasching, ging aber wie alle anderen hin, die ebenfalls keinen Fasching mochten. Das brachte uns allen einen Abend, an dem man pausenlos in Gesichter starrte, die hier gar nicht sein wollten. Auch deshalb betrank man sich kollektiv und schaukelte erst auf dem Parkett und später nach Hause. Dann herrschte wieder ein Jahr Ruhe.
Frohe Gesichter gab es aber auch in anderen Jahreszeiten selten, schon gar nicht vor den Auslagen der Geschäfte. Obwohl Neubrandenburg für Bauern und Städter gleichermaßen als Anlaufpunkt für allerlei Besorgungen diente, besonders das Centrum-Warenhaus. Vor Jahren klaute unsere Wohnblock-Gang hier Schokolade, Zigaretten oder Briefmarken. Ja, ich weiß, ein abgefahrener Mix, der bei dem einen oder anderen von uns die Dissonanzen auf späteren Lebenswegen vorwegnahm. Die Schokolade teilten wir brüderlich, die Zigaretten die Älteren unter sich und die Briefmarken verkauften wir weiter, zu einem Bruchteil des angeblichen Warenwertes. Die kolossalen Kollektionen kosteten nämlich richtig Kohle, bis zu 29,90 Mark! Und die große Packung ging ungefähr für ein Drittel weg, ein schöner Batzen Geld. Abnehmer gab es immer. Die Langeweile einer geordneten Diktatur ließ genügend Zeit, sich philatelistisch zu betätigen und gedanklich in exotischere Welten zu fliehen, aus denen die zackigen Marken größtenteils stammen sollten. Falls sie nicht in einer konspirativen Bude im Erzgebirge nachgedruckt wurden. Denn es erschien mir, grob gesagt, unsinnig oder etwas milder beurteilt, vollkommen schleierhaft, dass sich die DDR darum bemühen sollte, originale Briefmarken mit Schmetterlingen aus Togo, Fröschen aus Guatemala oder Paradiesvögeln aus Papua-Neuguinea gegen Valuta zu besorgen und anschließend gegen Ostgeld zu verscherbeln. Abgesehen davon, dass ich die Sammler derartiger Objekte auch nicht ganz koscher in der Birne fand, wenn sie für buntes Papier mit Zacken dran offiziell weit über zwanzig Mark und paar Zerquetschte löhnten.
Während wir noch die sozialistische Warenwelt plünderten, gab es im HKB einen Fahrstuhlführer. Der gute Mann begleitete Leute, die nach oben wollten. In einem gemächlich ruckelnden Fahrstuhl ging es in das Café im 14. Stock oder auf die darüber liegende zugige Aussichtsplattform. Während der Auffahrt saß er auf einem kleinen Stuhl in der Kabine und, wenn er sich daraus erhob, ächzte er. Ein Kriegsleiden, vermutlich.
Manchmal trank er einen Schluck Kaffee aus einer abgewetzten Thermokanne, während wir auf weitere Fahrgäste warteten. Seinen Blick deutete ich so, dass er mehr erlebt oder gesehen hatte als ihm lieb war. Eines Tages erzählte er mir, dass er sich einmal im Jahr einen Tag frei nähme, um hier selbst hinauf zu fahren. Ansonsten war er nie auf der Plattform, im Dienst hätte er sich das niemals erlaubt. Er meinte, dass es dann keine Vertretung gäbe und der Stuhl leer bliebe. Allein dieser öde Anblick schien ihn dann zu bekümmern. Doch er verzichtete darauf, sich auf seinen verwaisten Stuhl zu setzen. Schließlich hatte er ja Urlaub. Danach ging’s für ihn ins Café hinunter: ein Kännchen Kaffee, ein Stück Kuchen und einen Cognac. Er war auf unspektakuläre Art freundlich, ohne groß Worte zu machen. Wahrscheinlich war er nicht aus dem Norden. An seiner Stimme war es nicht herauszuhören.
Im HKB jedenfalls ging es hoch und runter, wie unsere Stimmungen. Mal wollten wir tief fallen und dann wieder hoch hinaus. Oben standen wir, umweht von den Perspektiven dieser Stadt, und wenn wir nicht gerade runter spuckten, konnte man durchaus schöne Landschaften sehen, in jedem Frühjahr aufs Neue sogar blühende. Nun, es war kein Anblick, der Caspar David Friedrich zum Entzücken gereicht hätte. Doch angesichts der sozialistischen Tristesse ringsherum bot sich wenigstens ein attraktiver Horizont, vor dem sich der See entlang rekelte wie eine nasse Zunge, die sich Besuchern & Bewohnern entgegenstreckte.
Im Stadtzentrum selbst gab es zwei große Kirchen. Eine war eine Ruine, die andere in Betrieb. Darf man das so sagen, Kirche in Betrieb?
Manchmal läuteten die Kirchenglocken wie ein Signal zum Aufbruch. Es war bisweilen der einzige Klang, den N. zu bieten hatte. Aber ich hörte ihn zu selten, weil die Oststadt etwas von der Stadtmitte entfernt lag. So blieben mir die Wege des Herrn unergründlich. Zumal, weiß Gott, die eine Glocke bei weitem nicht reichen würde, uns Atheistenvolk kreuzweise den Beelzebub auszutreiben. Dennoch gehörten die Glockentöne hierher und sie verbreiteten an manchen Tagen sogar eine beschwingte Melodie über diese Stadt, immerhin.
Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, ließe sich N. mindestens in zweierlei Beziehung mit Rom vergleichen. Erstens lagen die verschiedenen Stadtteile ebenfalls auf vereinzelten Hügeln, die den alten Stadtkern umkreisten. Auch wenn ich nicht auf Anhieb sagen könnte, ob es hier wie da ebenso genau sieben sind. Und zweitens, diese Neubaugebiete wurden auch nicht gerade an einem Tag erbaut. Doch das Lebensgefühl entfaltete sich vollkommen anders als gut 1.650 Kilometer südlich. (Was bestimmt auch daran gelegen haben dürfte, dass es weit und breit keinen einzigen Italiener gab.) Stattdessen hausten wir in unseren Zweckbauten, umzingelt von Kartoffeläckern und Rübenfeldern. Zu essen gab es also genug. Doch Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen! (Übrigens die einzige Sichtweise, bei der meine Oma und die Partei jemals einer Meinung waren.) Kann sein, dass wir uns die Haare extra lang wachsen ließen, um solche Parolen nicht hören zu müssen. Und kann auch sein, dass dies eine Erklärung dafür wäre, warum Bracke so eifrig am Werk war.
Doch jetzt bewegte mich die Frage, wo blieb Claire? Wir waren verabredet und wollten zur Hintersten Mühle. Ein feiner Ort, um etwas zu trinken und später über das Mühlenholz weiter an den See zu laufen. Nun kam sie, leicht außer Atem und in Jeans gehüllt. Wir begrüßten uns mit den Augen, wie meistens. Alles andere wussten wir allein und es ging niemanden etwas an, auch in der Clique nicht. Claire hatte eine Überraschung dabei. Deshalb auch die Verspätung. Es machte Plopp!, gleich nochmal. Und wenn schon, wir waren in der Stimmung dafür.