Читать книгу Immer der Sonne nach, aber erst gegen Abend. - Uwe Romanski - Страница 6
IV Leben und Lesen in MV.
ОглавлениеKein schöner Land in dieser Zeit ...
Einunddreißig Jahre nach seiner Gründung war dieses Land noch nicht fertig. Aber, machen wir uns nichts vor, … ich auch nicht. Ich war allerdings auch wesentlich jünger. Meine Pläne waren zudem längst nicht so ausgereift wie die des Landes. Und vor allem, ich verzichtete komplett auf ein Programm.
Schon seit Jahren wohnte ich auf einer sozialistischen Großbaustelle, der Name: Neubrandenburg-Ost. Wir redeten nur von der Oststadt. Hier also sollte ihre neue Welt entstehen. Und ich war mittendrin, wenn auch nicht so richtig dabei. Was daraus werden würde, konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht abschätzen. Später hingegen würde ich beschließen, das gemeinsame Experiment einseitig abzubrechen. Doch bis dahin sollte noch eine Menge Wasser die Tollense, ein schüchternes Flüsschen, das sich noch nicht einmal durch die Stadtmitte traute, hinunter fließen.
Es war eine Zeit, in der keinesfalls entschieden war, was aus meiner Biografie würde: Ballade, Komödie oder Trauerspiel? Oder reichte es am Ende nur zu Beschaulichkeit und Mittelmaß, zu einem Leben zwischen den Dingen und nicht darüber?
Um es kurz zu machen, es war mir so was von piepegal, dass kein Vogel danach krächzte, außer gelegentlich der Zapfhahn. Aber der krähte erst abends. Seine Melodie war mir vertraut: das Zischen, Gluckern und schäumende Stottern, wenn das Bier ins Glas floss und die Geschichten ihren Lauf nahmen: über falsche Leben, echte Freunde und wahre Erlebnisse. Und ohne die gibt es keine richtige Geschichte. Dazu brauchten wir keinen Adorno lesen.
Nur, um zu wissen, was läuft.
Korrekterweise wurde uns das auch zu keiner Zeit von irgendeiner Seite nahe gelegt. Weder Malte, Bänni, Manni, Sünder, Ertel, Baba, Bracke, Albert, Simon, Claire, noch Artur, Stachel, Hollsen, Marc, Hannes, Bänni, Inka, Roxy, Gitte, Kroll oder all die anderen aus unserer Clique haben jemals in meinem Beisein Derabartiges zitiert. Von mir ganz zu schweigen. Und bekanntermaßen konnten wir hier oben ziemlich gut schweigen. Aber hallo!
Jemand wie Adorno konnte uns mal.
Sicher, es gab hier und da einen Hauch Philosophie, der uns umwehte, meist verkleidet als Literatur oder Palaver. Die lesbaren einheimischen Autoren fand ich oft überschätzt, war mir aber nicht sicher, ob das nun an ihnen oder an mir lag. Ich las lieber ältere Sachen. Zweig, Sartre, Remarque auch, vor allem aber Kafka und Camus, meine eigentlichen Chronisten. Wer weiß, was Camus über das Absurde herausgefunden hätte, hätte er in der DDR gelebt?
Und Kafka erst!
Was wäre dem hier ein- und aufgefallen! Was hätte beschrieben werden können in seiner schlichten und alles umfassenden Art, die nur ein fortwährendes Nicken erzeugte, und das Staunen darüber, dass einer etwas Bleibendes unnachahmlich zu beschreiben wusste? Mit derart unaufdringlichen Worten, dass man sich ihrer immer erinnern wird.
Mir gefiel das Absurde als mentale Basis ziemlich gut, auch wenn ich mich hin und wieder dabei ertappte, gar nicht zu wissen, worum es konkret ging. Aber da war ich nicht der Einzige. An Kafka wiederum faszinierte mich, wie er in seinen Texten mit kleinen Menschen in einer zu großen Welt kurzen Prozess machte.
Am liebsten las ich Erzählungen, oder gleich Romane. Ganz einfach, weil ich es besser fand, wenn Geschichten ein Ende nahmen. Das gehörte sich nämlich so. Seltener griff ich zu Lyrik oder Dramen. Letztere spielten sich in unserem Alltag ohnehin genug ab: zu Hause die kleinen, mit den Freundinnen die mittleren, und in der Schule schließlich die größten.
Gleich könnte wieder ein größeres Drama auf der Tagesordnung stehen, ausgerechnet in Deutsch. Daran trüge kein Geringerer als Thomas Mann die Schuld. Zumindest teilweise, der Rest blieb an mir hängen. Schließlich hatte ich weder seine Buddenbrooks gelesen noch kannte ich deren familiären Hintergrund; all die verwobenen Kümmernisse und lokalen Gegebenheiten. Doch die waren das Thema für die Hausaufgabe, die mir noch fehlte. Im Moment allerdings hatten wir Astro(nomie) und ich ein echtes Problem. Mir blieb nicht mehr viel Zeit. Obwohl Malte dazu gesagt hätte: An der Zeit liegt datt nicht.
In derartigen Situationen reichte es erfahrungsgemäß, mein Bittstellergesicht aufzusetzen und so Karoline, meine Banknachbarin, zu überzeugen, mir ausnahmsweise auszuhelfen. Wir kamen prima miteinander aus, redeten jedoch nicht viel. Mecklenburger sind schließlich, zumal wenn es um unterschiedliche Geschlechter geht, wie das alte Ehepaar unter den Ethnien. Sie haben gemeinsam eine Menge erlebt, aber sich darüber nur wenig zu sagen. Karoline hatte meist ein Einsehen, auch wenn es oft nur pures Mitleid war. Bloß, heute war sie krank, ihr Platz blieb leer. Und nun?
Zwischen Erdumlaufbahn und Kometenschwarm versuchte ich bei anderen Mitschülern Aufmerksamkeit zu erregen. Meine Mitleidsnummer konnte ich mir allerdings bei den meisten sparen. Etliche dösten so früh am Morgen noch, oder zuckten müde mit den Schultern. Ich sah zu Malte, der rollte mit den Augen und schaute hilflos über seine Brillengläser. Dennoch kam Bewegung unter die Schulbänke. Von irgendwo wurde mir ein Hefter zugeschoben, Gott war Dank! Ich betete zwar nicht, doch mein Seufzer der Erleichterung durchdrang Zeit UND Raum. ließ sogar unseren älteren Astronomielehrer seinen Vortrag unterbrechen.
„Möchten Sie etwas zu unseren Kometen beitragen, Herr Romski?“
Unsere Kometen. Das musste man sich mal kommen lassen. Dennoch, dass er alles persönlich vereinnahmte, was da oben rumschwirrte, war mir vertraut. Zudem staunte ich, dass er aus dem Stand, oder kann man bei Astrolehrern auch schon mal aus dieser Konstellation heraus sagen(?), überhaupt so halbwegs meinen Namen wusste. Eigentlich erwartete er selten eine Antwort. Eine Verlässlichkeit, die ich schätzte, vor allem an Tagen wie heute. Ich war in Zeitnot und seine Erfahrung wird ihn gelehrt haben, dass sich am Ende sowieso niemand von uns derart intensiv mit dem Himmel beschäftigte wie er es vorlebte. Manchmal erweckte er den Eindruck, er würde sich dort oben zwischen den Gestirnen wohler fühlen als unter uns. Doch er ließ uns prinzipiell in Ruhe, solange wir seine Bahnen nicht streiften. Erst wenn ihn jemand im Unterricht unvorsichtigerweise direkt ansah, fühlte er sich bemüßigt, denjenigen aufzurufen. Ansonsten brauchte er für seine kosmischen Theorien kein Publikum.
Aber ich stand nicht auf Kometen, ich stand auf dem Schlauch. Außerdem erschien es mir suspekt, wenn Menschen ihr Glück allen Ernstes an vorüberfliegende Reststerne knüpfen wollten. Und jetzt musste ich antworten.
„Ich glaube kaum, dass ich dazu Neues beitragen kann.“
In der Klasse prustete es hier und da. Unser Galilei wandte sich mit einem Seufzer erneut seinen vergänglichen Himmelskörpern zu. Ich griff fix nach dem Hefter unter der Bank und schaute mich um. Der Spender saß gelangweilt hinter mir. Egal, ich atmete durch und ließ so die Anspannung genauso verfliegen wie unser Astrolehrer den Perseiden-Strom am sommerlichen Sternenhimmel. Alle Vergänglichkeit bekam ein Gesicht. Und dann, ran ans Werk!
Th. Mann wartete.
Deutschstunde. Mutter Flott, so wurde unsere Klassenlehrerin vor allem von unseren Mädchen feixend genannt, schritt stramm durch den Unterrichtsraum. Gleich nach Stundenbeginn ging sie mit ihrem Zeigefinger das Alphabet im Klassenbuch durch. Es kam wie es kommen musste. Ich war einer ihrer Kandidaten, wie sie uns immer nannte, wenn sie etwas von uns wollte. Während ich kommentarlos meinen Zettel abgab, spukten Buddenbrooksche Gestalten in meinem Kopf herum. Sie schienen mir tatsächlich in einem Zwiespalt zwischen inneren Neigungen und äußerer Wirklichkeit gefangen. Was für ein Drama eigentlich! Zumal in einem Zeitalter, als Schicksale noch eine Rolle spielten. Insgesamt kein so abwegiges Thema für mich. Wie auch immer, im Gegensatz zu manchen von ihnen war ich davongekommen. Aus purer Dankbarkeit überlegte ich, die Schwarte doch noch zu lesen.
Für unsere Verhältnisse lasen wir viel - womit ich nicht auf die Verhältnisse im Land anspielen wollte. Jedenfalls verbrachten wir eine Menge Zeit mit dem Lesen; zumindest die meisten von uns. Was an ein Wunder grenzte, weil wir genauso oft irgendwo rumhingen. Manche, und manchmal, auch Durchhingen. Doch Lesen lenkte uns ab. Lesen regte uns an, und oft auch auf. Das lag dann an schreibenden Arbeitern, Bauern & Soldaten; und damit meist an der Lyrik von Autoren, die mit ein paar Gedichten dem Tagebau entkommen waren, oder mit einer Novelle ihrer LPG. Und wir mussten diesen Quark lesen! Pflichtliteratur, allein schon bei diesem Begriff konnte einem aber auch schon alles vergehen. Zumal die Jugend das Wort Pflichten nur ungern in den Mund nimmt. Dafür bliebe schließlich den Rest des Lebens wohl noch genügend Zeit, oder?!
Wer las, redete weniger. Also, noch weniger!
Ich jedenfalls las, wo und wann immer ich konnte: auf dem Klo, vor dem Fernseher, im Bus, auf dem Friedhof oder am See. Ich las weniger, um mich abzulenken. Ich suchte eher. Zum Beispiel Hinweise, was die Zeit, die Liebe oder die Heimat mit mir vorhaben könnten. Manchmal dachte ich, ich wäre dicht an einer Lösung dran. Aber es gab keinen versteckten Plan, kein erkennbares Prinzip und vor allem keine Gewissheit. Doch ich gab nicht auf. Ich suchte seitenweise weiter, wenn auch nur nach Erklärungen, warum wir so waren wie wir waren. Ich hatte keine Angst davor, genau das zu erfahren. In solchen Situationen hätte ich vielleicht Düster fragen sollen, wenn ich mich getraut hätte. Manchmal ist es schwieriger, eine Frage zu formulieren als eine Antwort und womöglich wäre es besser gewesen, auch nicht auf alle Fragen eine Antwort zu erhalten. (Dazu spukte mir viel später, aber darauf würde ich noch gern zurückkommen, Wittgenstein durch die Rübe: Wegen dem Sprechen, wegen dem Schweigen und so … ein Satz, wie gemacht, für uns hier oben, in diesem Landstrich!)
Gelesen wurde zwischen Schule, Training und Trinken. Also immer. Ich las ungefähr zwei Bücher pro Woche. Das hatte auch damit zu tun, dass ich mich in einem fakultativen Kurs an der Penne der „Weltliteratur“ widmete, oder was unsere Deutschlehrerin und die hiesige Literaturwissenschaft in trauter Symbiose dafür hielten. Für mich bedeutete dies alle zwei Wochen eine zusätzliche Schulstunde. Das überlebte man schon, selbst mit Scholochow, Dreiser und Konsorten. Zumal, manches war tatsächlich großartig, etliches lesenswert und was mich langweilte, wurde fix zurück in die Bibliothek gebracht.
Wir besprachen die Bücher nicht groß, sondern reichten die besten davon still weiter, höchstens begleitet von einem knappen Kommentar. Muss man gelesen haben! kam in unseren Kreisen schon einer kompletten Rezension nahe.
Salinger durfte als Gute-Nacht-Geschichte genauso wenig fehlen wie Hemingways vordergründige Umschreibungen seiner Männlichkeit oder der Blick aufs große Ganze, beispielsweise von Tolstoi. Dem ich eine Ahnung von den Dimensionen eines Epos verdankte. Selbstverständlich waren wir auch mit Kerouac unterwegs. Dazu kamen ein Plenzdorf-Roman, Bobrowskis Geschichten aus einem Land vor unserer Zeit, Hesses umtriebiger Steppenwolf. Oder später, wenn wir an solche Bücher rankamen, der trunkene Abgesang eines Charles Bukowski und Rimbauds hymnische Gedichte, von denen vor allem eines unsere zukünftigen Bootsfahrten vorweg zu nehmen schienen. Ein paar von uns schafften lesend sogar den Sprung zu Hamsun und Dostojewski oder anderen Verlorenen der Weltliteratur. Gab es ein Buch, das einer von uns aus dem Westen hatte, ging das flink durch die Reihen, wurde meist im Zuge einer Nacht durchgelesen und weitergereicht. Außer Literatur suchten wir vieles andere darin. Am wichtigsten war die Gewissheit, nicht alleine zu sein mit seinen Träumen, seinen Ängsten.
Warum auch sonst sollte man lesen?
Es war eine Zeit, in der mich zuvorderst das Extreme interessierte. Oder das Unvorstellbare. Literatur kann das, manchmal. Dabei gestattete ich mir nur solche Bücher, von denen ich hoffte, dass sie mir etwas klarer machten, oder weiterhalfen im Leben. Orwells 1984 gehörte beispielsweise in diese Kategorie. Drei Jahre vor dem avisierten „Termin“ hielt ich es vorsichtig in den Händen. Nach einem Westbesuch einer Oma, die meine Bestellung zwischen Versandhauskatalogen von Neckermann & Co. versteckt hatte. Ich las es innerhalb von zwei Tagen. Danach bildete ich mir ein, abgrundtief Bescheid zu wissen. Auch wenn das nun vollkommene Selbstüberschätzung war. Die Lektüre hinterließ Spuren. Tiefere, und mehr als ich gewünscht hatte.
Fortan begann ich, mir dieses System genauer anzuschauen. Dazu las ich tatsächlich Marx und Lenin, sogar Hegel. Gut, was heißt schon lesen, in manches äugte ich nur rein. Ich begann, mir ein Bild von der Erde, besser: von uns, zu machen. Selbst wenn ich nicht alles kapierte, sah ich unsere Existenz nun eher mit den Augen meiner Oma: Das wird hier noch ein schlimmes Ende nehmen! Keine Ahnung, ob das nun ihrer christlich angehauchten Perspektive entsprang, oder weil sie in ihrem Leben schon zu viel erlebt hatte. Wahrscheinlich sah ich es auch nicht ganz so verbissen.
So war das mit dem Lesen. Der eine zog Schlussfolgerungen, der andere Konsequenzen. Es war ja mit Aussuchen, das Leben. Wie hatte einer der Vorgänger von Honecker so schön betont: „Jeder solle nach seiner Fasson selig werden.“ Das hätte meiner Oma auch gefallen.
Jedenfalls ließ sich mit unserem Lebens-Potpourri, also unserer philosophischen, literarischen und musikalischen Mischung, die Phase zwischen Sechzehn und Achtzehn relativ unbeschadet überbrücken. Zumal wir davon ausgingen, dass Schmutz, Krach und eine saftige Prise Nihilismus uns verlässlichere Wegbegleiter wären als sanfte Töne, wohlgeformte Sätze und ideologische Fanfaren jeglicher Couleur.
Lesen und leben gehörte für uns zusammen. Zumal wir Bücher auch aus dem Grund bevorzugten, weil in den Zeitungen so viel Unfug stand. Belangloses Zeuchs, wie wir sagten. Wir fühlten uns dank unserer Lektüre einfach besser vorbereitet. Egal, was da noch kommen mochte. Und, bitteschön, was sollte hier schon noch groß kommen!
Schließlich war ich mir bereits sicher: Es gibt kein richtiges Leben im falschen Land. Was blieb uns also weiter übrig, (ich verkalauerte es hin und wieder zu einem „Was blieb uns Walther Ulbricht“!) als weiter an unserer Zukunft zu basteln.
Sie machten ja nichts anderes!
Jedenfalls brauchten wir ein Domizil für unsere Gedanken, an Heimat dachten wir dabei noch gar nicht. Eher an ein Geflecht von Argumenten, die uns Zuflucht boten, wenn es darauf ankam. Hier, und erst recht in unserem Alter, kam es ziemlich oft darauf an!
Fast hätten wir es gar nicht bemerkt, dass nicht nur wir uns, sondern auch die Stadt sich veränderte. Wieder war hier ein Block hochgezogen und dort ein paar Bäume gepflanzt worden. Der Schwanenteich bekam ein gezimmertes Häuschen und neue Insassen. Der Weg zum Seeblick wurde erneuert und auch am Badehaus kam frische Farbe auf die Fenstersprossen. So machte sich dieser Ort hübsch wie für einen bevorstehenden Abschied oder für einen flüchtigen Gedanken.
Ganz offensichtlich wurde im Kulturpark hochgestapelt. Hier tobten sich bäuerliche Künstler an naiven Skulpturen aus. Vielleicht war es aber auch so, dass naive Künstler versuchten das bäuerliche Leben einzufangen. Ein vögelndes Bauernpaar galt schon als bildhauerischer Höhepunkt. Wodurch sich die Bauern ihrerseits wiederum bestätigt fühlten, dass die Künstler ein ganz und gar verruchtes Pack wären und mächtig einen an der Waffel beziehungsweise überhaupt keine Ahnung hätten. Neben der Eisdiele standen versteinerte Chorknaben im Block. Sie sahen aus wie mongoloide Pinguine ohne Schnäbel. Oft steckten ein Apfelgriebs oder eine leere Eistüte in ihren aufgerissenen Mündern. Vielleicht hätte sich Watson um diese Kulturbanausen kümmern sollen. (Die wahre Kunst bestand für mich ohnehin darin, richtig von falsch zu unterscheiden, um der Welt anständig beizukommen!)
Ich steckte mitten in einer Phase, in der ich versuchte, mir allmählich den Alltag abzugewöhnen. Das klingt komisch, ich weiß. Aber ich dachte, wenn ich mich gegen die üblichen Abläufe wandte, dann ließen die mich in Ruhe. Ich genoss es, zu sehen wie an solchen Tagen alles an mir abprallte. Gleichzeitig flogen meine Gedanken im Schwarm umher, wucherten wie eine Geschwulst, und hinterließen Chaos. Die Zeit und die Heimat schlugen um mich herum munter ihre Kapriolen, während ich meinen Realitätsdetektor anwarf und hoffte, jeden Tag älter und in der Summe schlauer zu werden.
Denken, Vögeln, Trinken. Dieses pubertäre Trio meiner Begierden wollte vorzeigbare Triumphe sehen. Ich dachte oft an alles Mögliche, an das Unmögliche allerdings noch öfter. Vielleicht hätte ein Älterer von uns dazu gesagt: Willkommen in der Wirklichkeit, mein Lieber! Ich glaube, das hätte mir gut getan. Ja, wo lebten wir denn?!
Wir lebten dort, wo wir hingehörten. Man kann das Heimat nennen, muss man aber nicht. Dazu kam. Wir waren fast alle Nachkommen von Vertriebenen. Aber das blieb ein stummes Thema. Wir wussten manches darüber, aber fragten nicht weiter nach. In der Schule belehrten sie uns über revanchistische Kräfte und wir nickten ungläubig dazu, während in unseren Familien das Schweigen anhielt. Wir kannten also auch kein Elternhaus, die Geburtsorte unserer Eltern lagen mitunter weiter weg als die meisten von uns in ihrem Leben bisher gewesen waren. Es gab auch kein vererbtes Eigentum oder Tugenden, an denen wir hingen. Vielleicht erklärte sich auch daraus ein Stückchen weit unsere Unruhe.
Allmählich näherte ich mich jenem Alter, in dem die Welt für größere Gedanken zu klein zu werden schien. Doch vermutlich waren meine Gedanken nicht wesentlich größer als ich. Alles eine Frage der Perspektive. Und eines musste ich ihnen wirklich lassen. Sie gaben sich beträchtliche Mühe, uns auf ihren Kosmos, ihre Welt und ihre Pläne einzuschwören. Nirgends war das in all jenen Jahren für mich spürbarer als an der Schule. Die Künste sollten uns ästhetisch reifen lassen für ein neues Menschenbild, die Naturwissenschaften uns das Leben erklären wie die Gesellschaftswissenschaften uns unsere Welt; und die Geografie sollte uns zeigen, wo wir hingehörten. Alles zusammen sollte uns auf den richtigen Weg bringen.
Sollte mich daran irgendetwas interessieren?
Doch, da gab es etwas, das Hebelgesetz. Auch wenn Physik ganz bestimmt nicht mein Lieblingsfach war, musste man eine Flasche aufkriegen. Und unsere Angst kriegte jede Flasche auf, in all jenen Jahren wirklich jede. Je länger das Werkzeug dafür, desto günstiger der Hebel, desto schneller das Bier. So einfach konnte mich ein simples Grundprinzip überzeugen und nebenbei erfuhr ich noch etwas über Ursache und Wirkung.
Hatte ich bereits erwähnt, dass ich Prinzipien sehr mochte?
Ich wusste es zu schätzen, dass es Verlässlichkeit in der Welt gab, besonders in Bezug auf Malte. Wir hingen oft zusammen rum. Nun nicht gerade wie siamesische Zwillinge, aber nahe dran. Einen Schultag überstanden wir zu zweit einfach besser. Und auf uns warteten noch viele gemeinsame Schultage, dachten wir. Das sahen die Lehrer allerdings erstens anders und zweitens nicht so gern, um es mal dezent zu formulieren. Deshalb veranstalteten sie viel Gewese. Erst setzten sie uns strikt auseinander und später, als auch das nicht mehr fruchtete, steckten sie mich gleich in eine andere Klasse. Es hieß, sie hätten dort „ein höheres Anspruchsniveau“. Wobei es nicht so aussah, dass die auf einen wie mich wirklich gewartet hätten. Und, was wussten die von meinen Ansprüchen, oder verwechselte ich etwas?
In der neuen Klasse warteten von neun Jungs acht Offiziers- und Stasi-Bewerber auf mich, wobei einige nur an Offizier auf Zeit (OAZ) dachten. Egal, diese Aufteilung, die mir auffällig abweichend von einer Normalverteilung schien, prägte meinen neuen Klassenstandpunkt gleich mit und das Wort Klassenfeind bekam für mich einen anderen Klang. Ich machte dann das, was sich prinzipiell schon seit der 9. Klasse als richtige Strategie entpuppt hatte, ich hielt mich lieber an die Mädels. So schlug ich durch meinen Wechsel gleich zwei Fliegen mit einer Klasse. Sofort schnappte ich mir den einzigen Nichtmilitaristen der Klasse, der Marius hieß und den ich vom Fußball kannte, und wir verbündeten uns mit Malte.
Über Klassengrenzen hinweg.