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III Das Triumvirat vom Ring.

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Alle Menschen werden Brüder?

Im Innersten war Neubrandenburg rundum überschaubar. Zumal es eine Stadt war, die sich selbst Grenzen auferlegte. Der „Ring“ schlängelte sich als mehrspurige Straße um das behäbige Zentrum. Genau wie der Stadtwall, ein mal flaches, mal kuppiges Auf und Ab voller Grün entlang der Stadtmauer, in deren schattiger Verheißung drei Männer ihre Zeit totschlugen, und sich dabei jede Menge Gründe ausdachten, miteinander zu schweigen.

Einer von ihnen hieß Kutti Eierbauch, ein stadtbekannter Name, den man sich so nicht hätte ausdenken können. Ein Unikum auf zwei Beinen inmitten unseres sozialistischen Alltags, ein Maskottchen des Elends; ein Mensch, der Heilsversprechen wie Siegesparolen zu trotzen vermochte. Zumal, Kutti soff nicht. So wie die anderen. Er rauchte auch nicht. Nur gelegentlich sah ich ihn mit einem aufgelesenen Stumpen einer Zigarre im Mund, auf der er herumkaute. Er sog manchmal in einer Weise daran, als wüsste er, wie vergeblich auch diese Lust wäre. Kutti sah nicht wie jemand aus, der sich noch etwas vormachte. Hätte er Kinder gehabt, die in die Schule gingen, würde in der entsprechenden Spalte im Klassenbuch das Kreuz bei „Intelligenz“ stehen. In diesem Land galt es immer noch für wichtig, von wem man abstammte. Schließlich hatte Kutti studiert. Zuerst irgendeine Fachrichtung, später das Leben. Jetzt aber saß er auf einer gestürzten Eiche, die erst der Sozialismus gefällt hatte. Er war nicht allein.

Daneben, auf seinem schwarzen, stets blank gewienerten, Fahrrad mit riesigem Ochsenkopflenker saß Watson, der sich selbst so nannte. Am Lenker war ein uriges Kofferradio mit Plastikhülle montiert, aus dem leise Musik ertönte. Watson jedoch hörte kaum hin, er hatte ganz andere Sorgen. Die funkte er ab und an hinaus in die Welt. Manchmal reichte ihm dazu sein zerschlissenes Brillenetui oder ein eingeklappter Regenschirm. Wenn ihm irgendetwas auffiel, missfiel oder unklar blieb, hallte es „Hallo Holmes, Sherlock Holmes! Hier Watson. Kommen, bitte kommen.“ durch den Äther und durch diese Stadt. Nun sag mir noch einer, im Norden hätten sie keine Antenne für Humor!

Vielleicht war es aber auch ein Hilferuf?

In jedem Fall war Watson mobil durch und durch. Immer im Einsatz, wenn es darum ging, seiner Stadt zu Diensten zu sein. Man traf ihn am See, im Kulturpark und auf dem Ring. Er spürte, dass hier etwas nicht stimmte und hoffte an seinen heiteren Tagen, dass er deswegen doch noch gebraucht werden könnte. Watson war wirklich auf Mission. Er wollte diese Stadt von ihren Dämonen befreien. Ja, denn hier gab es möglicherweise Geister und wie in vielen anderen Städten unseres Landes eine Straße der Befreiung. Das klang ganz nach Watsons Nachhauseweg.

Manchmal stand noch Düster dabei, der oft auch so aussah. Ich wusste nie, was ich über ihn denken sollte. Aber, ein Frivoler war er ganz bestimmt nicht. Er lief mit eingezogenen Schultern im hellblauen Trainingsanzug sowie mit Topfhaarschnitt herum und wirkte nervös. Er zappelte und wippte unentwegt auf seinen Füßen herum, das Gegenteil einer - sagen wir mal - ausgependelten Persönlichkeit. Unter uns ging das Gerücht, dass er was mit Leichen machte. Was unsere Phantasie regelmäßig auf Touren brachte. Das hatte offenbar damit zu tun, dass wir uns etwas vorzustellen versuchten, das wir uns eben nicht vorstellen konnten. Irgendwann erfuhr ich, dass Düster als Obduktionsgehilfe in der Pathologie angestellt war. Das machte ihn kaum sympathischer. Obwohl er dadurch mehr darüber in Erfahrung brachte, was uns letztlich ausmacht, als wir ahnen konnten: Nur redete er nicht darüber, was sich in unserem Innersten verbarg. Er wusste augenscheinlich mehr über Respekt als wir. Und wir, wir trauten uns einfach nicht, ihn danach zu fragen. Das war die eine Seite. Und Düster sah nicht so aus, als hätte er je eine andere Seite für sich gehabt. Das nämlich hätte bedeuten können, er hätte die menschliche Seele entdeckt. Allerdings, ob dies von Vorteil wäre, wer wollte das abschließend beurteilen?

Bei Düster saß überm rechten Handgelenk eine große Armbanduhr sowjetischer Produktion, auf die er unentwegt schielte, sofern Leute um ihn herum standen. Wahrscheinlich sah er so, wem die Stunde gerade schlug. Düster stromerte meist allein an den Rändern der Stadt umher. Oft sah ich ihn auf der Brache hinter der F 96, Richtung Tollensesee, in Nähe der Südstadt. (Kein Wunder, Südstädtern trauten wir eh nicht über den Weg!)

Ja, und Kutti, den trafen wir hin und wieder in der Mitropa, wo er sich die Reste von den abgelegten Tellern holte, auf seinem schlurfenden Gang zur Geschirrablage misstrauisch um sich äugend wie ein gehetztes Wesen. Anschließend saß er mit seiner Beute gern abseits vom Trubel. Stand er auf, was eine kleine Ewigkeit dauern konnte, sah man seine klassische Wampe, die er wie einen Schutzpanzer vor sich her trug. Und die seinem Auftreten noch mehr Gewicht zu verleihen schien, wenn er auf die Kinder zustapfte, die ihn foppten und beim Namen riefen „Eierbauch, Eierbauch!“. Er fuchtelte dann mit seinem Krückstock in ihre Richtung, allein gelassen im Spott unserer Welt.

Von wegen, alle Menschen werden Brüder.

Vor Kuttis Brust hing eine große Kunststoffhornbrille, die von Wer-weiß-was zusammengehalten wurde. Ein Sichtfeld war mit Leukoplast zugeklebt. Manchmal setzte er diese Brille auf, betrachtete sich oder blickte argwöhnisch auf die Welt um sich herum, die für ihn schwer zu durchschauen, und wohl noch schwerer zu ertragen war. In jeder größeren Stadt hierzulande schien es Menschen wie Kutti zu geben, die an so unwirtlichen Orten wie der Mitropa auf die Reste hofften. Sie waren die Hyänen unter uns. Und nahmen sich, was wir ihnen ließen. Erst dann konnte ihr Festmahl beginnen. Von wegen, gegessen wird, was auf den Tisch kommt!

Drei Karrieren, die dieser Staat so nicht unbedingt forciert hatte, zumindest auf den ersten Blick betrachtet. Doch vielleicht, wenn man tiefer in sie hineinschauen könnte, womöglich so wie Düster, hätte man etwas gefunden, das auch eine andere Erklärung denkbar gemacht hätte. Denn wer weiß schon, was dieses Land ihnen angetan hatte, und sie sich selbst? Dieser Staat mochte Verlierer nicht, vermutlich wie überall. Diese wiederum ahnten es und versteckten sich in schattiger Obhut und am besten im Dickicht ihrer Seelen gleich mit. Manchmal fuhr ich mit dem Rad an ihnen vorbei. Dann sah ich beschämt rüber zum schweigenden Trio, als könnte ich etwas dafür. Aber, wofür eigentlich?

Elend verbindet, anders als das Glück, das mir allzu oft als ein zu flüchtiger Gedanke erschien. Ich wollte nie so enden. Ganz gewiss nicht, genauso wenig wie die dort. Ich trat dann in die Pedale, um hier schneller wegzukommen.

Bloß, wo sollte ich hin?

Immer der Sonne nach, aber erst gegen Abend.

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