Читать книгу Immer der Sonne nach, aber erst gegen Abend. - Uwe Romanski - Страница 3

Prolog

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Was willst`n woanders?“

Wie meinst du das?“

Kommst du zurück?“

Ich hoffe nicht.“

Seit meiner Kindheit hatte ich diese Melodie im Ohr. Ich habe sie geliebt.

„Immer lebe die Sonne, immer lebe der …“

Obwohl, manchmal schämte ich mich, wenn ich dieses Lied so vor mich hin summte. Aber nur innerlich, nur für mich. Und wenn ich ehrlich bin, ich wusste nicht einmal genau, warum. Zumal ich mir schon morgens, wenn die Sonne aufging, bereits ausmalte, wo sie wieder untergehen würde. Dazwischen hatte ich sie ganz für mich; genauso wie angeblich alle Zeit der Welt oder alles noch vor mir. Das behaupteten jedenfalls einige Leute gern. Was soll ich dazu sagen?

Die hatten nun überhaupt keine Ahnung! Beides konnte eine Drohung oder ein Versprechen sein. Denn Zeit ist und bleibt etwas, da weiß man nie so richtig, was man von ihr halten soll. Die einen nehmen sie sich angeblich, die anderen stehlen sie einem. Dazu lauter vage Umschreibungen: Fünf vor Zwölf, rund um die Uhr oder letztes Stündlein!

Als käme es in unserem Leben auf einen bestimmten Moment an. Außerdem kann man Zeit nicht greifen, begreifen sowieso nicht und es gibt auch keinen anderen Namen für sie. Genauso wenig wie für die Liebe; oder für die Heimat. Aber, Heimat ist wieder ein ganz anderes Thema. Auch wenn sie sich genau wie die Zeit durch nichts ersetzen lässt. Jedenfalls nicht von uns. Und in punkto Liebe sah es vermutlich nicht viel besser aus. Dieses Sammelsurium auseinander zu klamüsern, würde eine Menge Arbeit bedeuten.

Ich wusste nicht, ob Einstein auch in dieser Richtung eine Idee hatte, die mich relativ überzeugt hätte. Mit Physik, Atomen und solchem Gedöns hatte ich es nicht so. Ich war einfach nicht in einem Alter, in dem mich abgründige Theorien, profane Gottesteilchen oder ähnlich abstrakter Kram interessierten. Außerdem wollte ich nicht tiefer in die Intimsphäre der Materie eindringen. Und könnte Einsteins ausgestreckte Zunge nicht zu guter Letzt auch nur ein Hinweis darauf sein, dass wir eben glücklicherweise nicht hinter alle Geheimnisse kommen würden? Oder, fatalerweise zu spät.

Kann sein, dass es prinzipiell ohnehin nicht um Erkenntnis ging, sondern um Trost. Zumindest, wenn man den alten Griechen glauben soll, die da vereinzelt meinten, es wäre sogar besser gewesen, man wäre gar nicht erst geboren worden.

Na, ich weiß ja nicht! Und falls da etwas dran wäre, dann hätte mir das bitte schön doch jemand vorher sagen können.

Weil ich nun also höchstens ahnte, was dieser ganze Schlamassel mit mir zu tun haben könnte, hielt ich mich lieber an das wahre Leben. Da ging es eher um uns und um Respekt. Wir wussten es bloß noch nicht. Wirklicher Respekt geht eh nur mit Distanz zur Welt um einen herum. Ich dachte mir, ein bisschen Abstand zu den Dingen, zu dieser Stadt und zu diesem Land konnte überhaupt nicht schaden.

Dabei fehlte es mir jedoch hin und wieder an Glauben, um mich in diesem Strudel aus Raum und Zeit und Jugend zu behaupten. Zumal es oft kein Strudel war, sondern ein zäher Brei, eine äußerst dickflüssige Suppe, die zwischen den Dimensionen von irgendwem am Köcheln gehalten wurde. Die hierhin und dorthin schwappte, um letztlich ein Spielchen mit uns zu spielen - ohne uns im Geringsten in dessen Regeln einzuweihen.

Doch ein fehlender Glaube war noch das kleinere Übel. Oft schien es hier sogar äußerlich eine Dimension zu wenig zu geben, in meinem Kopf hingegen manchmal eine zu viel. Deshalb avancierte ich lieber zum stillen Beobachter. An meiner Schule sagten sie nicht Glauben, sie sagten Weltanschauung dazu. Sie wussten alles besser!

Als hätte ich nichts anderes zu tun, als mir jeden Tag ihre verquere Welt anzuschauen. Obwohl es da Ungereimtheiten genug gab, die es zu beseitigen galt. Nur, ich glaubte einfach nicht, dass ich der richtige Mann dafür wäre und hielt mich in punkto Weltverbesserer eher bedeckt. Außerdem war ich auf Rückzug programmiert, während sie an ihren Fronten singend dem Morgenrot entgegen marschierten.

Gott sei Dank gingen ihnen irgendwann das Geld, ihren Kadern die Ideen und mir die Überzeugungen aus. Überdies war ich Sportler, und deshalb schneller fertig mit dem Staat, als er mit mir. Es war jedoch ein Wettrennen, auf das man besser nicht setzen sollte. Vor allem, weil ich nicht wusste, in welche Richtung es mit diesem Land gehen würde.

Denn wenn man verdammt nochmal nicht aufpasste, bauten sie hier eine Scheiße nach der anderen. Und wir müssten diese am Ende ausbaden. Zumal ich jeden Tag das Gefühl verspürte: Je mehr sich das Chaos im Kopf lichtete, desto chaotischer wurde die Welt um mich herum.

Für mich schien so vieles noch offen, aber das Land war zu. Darin hatte ich lebenslänglich bekommen. Ich lebte in einer geschlossenen Einrichtung, die sich Deutsche Demokratische Republik nannte. Drei Worte, von denen jedes für sich allein schon eine Lüge war.

Jedenfalls lag das Land auf eine behäbige Art darnieder und keiner kümmerte sich darum; eine Liegenschaft sozusagen. Doch was ich eigentlich sagen wollte, ließ sich in meinem Alter noch schwer beschreiben. Ich nannte es - zugegebenermaßen ein bisschen naiv - das menschliche Dilemma.

Es lag wohl daran, dass wir mehr Pläne als Zeit hatten und mehr Lust als uns lieb oder erlaubt war. Auch mit Gefühlen hatten wir es im Norden nicht so. Wer weiß, ob wir überhaupt Hormone oder solches Zeugs besaßen. Und wo wir gerade bei einer Art seelischer Inventur sind: Ich dachte öfter über Dinge nach, die in weiter Ferne lagen, den Tod oder etwas ähnlich Aussichtloses. Meine Oma meinte, das wäre so, weil ich eine Ader dafür hätte. Meine Brüder hatten recht unterschiedliche Ansichten dazu. Mein Vater fragte bei solchen Gelegenheiten, ob ich nichts Besseres zu tun hatte. Ich grübelte, welchen Sinn das Ganze haben könnte. Nur meine Mutter, als die Klügste, schwieg.

Es half alles nichts. Offensichtlich schien niemand bereit oder in der Lage, mir die Welt auf eine Weise zu erklären, die ich akzeptieren konnte. Ich musste mir wohl oder übel alles selbst zusammenreimen. Zumal ich es mir einfach noch nicht zu bequem machen wollte, im Bett der Alternativen. Außerdem drehten mir die Gedanken öfter einen Strick. Das machte es gleich noch komplizierter. Schließlich befand ich mich gerade in einem Alter, in dem man es eindeutig vorzog schneller erwachsen zu werden. Und ich wollte weg, während dieses Land vor allem eins wollte: hoch hinaus. Unter Weltniveau ging faktisch rein gar nichts! Sie sahen sich als Sieger der Geschichte, unterwegs auf der historischen Mission der Arbeiterklasse, um die komplette Menschheit gnadenlos zu befreien. Darüber hinaus, so meinten sie, konnte es nicht schaden, auch noch einen Blick in den Kosmos zu werfen. Vermutlich waren sie einfach nur irre. Aber ich wollte ihnen das nicht als Entschuldigung durchgehen lassen.

Abgesehen von der Jugend ist es vor allem die Zeit, die solche Dinge mit einem anstellt. Das Grübeln, und so. Dabei hatte ich wahrscheinlich einfach nur Glück gehabt. Oder sollte ich es nicht Glück, sondern eher Schicksal nennen? Und worin bestand eigentlich der Unterschied? Manchmal hoffte ich: ‚Hey, vielleicht wird ja alles wieder gut.‘ Doch ich hörte auch die Antwort, die ich mir dazu viel leiser gab.

„Ja, vielleicht. Aber vielleicht ist auch alles umsonst.“

Alles umsonst, das klang ganz und gar nach Kommunismus. Da wollte dieser Staat noch hin. Ich hingegen hatte absolut andere Pläne: Immer der Sonne nach, aber erst gegen Abend.

In derartigen Momenten fühlte ich mich prächtig, wenn auch wie ein Zeitvertriebener, der dem Lauf der Welt nicht mehr so recht folgen mochte. (Am Ende verläuft ein Leben nicht mal halb so wild, wie du es dir vorgestellt hattest. Und etliches von dem, was du getan hast, wird gegen dich verwendet!)

Höchstwahrscheinlich kam deshalb der Entschluss, alles, aber wirklich alles, zu meinen Erinnerungen zu machen. Diktiert in ein inneres Tagebuch, das sich von Sekunde zu Sekunde füllte, in mir blätterte und mich so vollends abhängig machte, von meinem Leben und dem der anderen. Letztlich bleibt einem sowieso nichts anderes übrig als das eigene Leben, höchstens noch das Gedächtnis. Und das erfand sich seine eigene Regel: Ehe die Gedanken langsamer werden und bevor alles zu spät ist, kann man gar nicht früh genug anfangen, sich zu erinnern.

Beispielsweise fand ich es außerordentlich seltsam, gerade einmal achtzehn Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges geboren zu sein. 18 Jahre, das ist im Nachhinein so gut wie nichts. Obwohl ich unschlüssig war, ob „seltsam“ das passende Wort dafür ist. Es war schließlich eines der erschütterndsten Ereignisse in der Menschheitsgeschichte. Doch kaum jemand sprach darüber. Jedenfalls so richtig. Parteigenossen, Geschichtslehrer und - wenn auch erst viel später - ein paar erschöpfte Männer vom Stadtring einmal ausgenommen. Die allda ihr Bier oder sonstwas tranken, im Schatten von mäcchtigen Bäumen, die, rein historisch betrachtet, bisher noch jede Epoche überstanden hatten. Dabei kam so manche ihrer Wahrheiten schluckweise ans Licht. In dieser Stadt hatte das einiges zu bedeuten.

Denn wenn wir Mecklenburger uns auch weniger zu sagen hatten als andere Volksstämme, dann sollte das Wenige, was gesagt werden musste, wenigstens ausgesprochen werden. Gewissermaßen waren wir mit dieser Ansicht bereits die Vorreiter moderner Kommunikation: Beschränke dich auf das Wesentliche, ansonsten halt einfach die Klappe!

All das trug dazu bei, dass wir uns schon zu einem frühen Zeitpunkt sicher waren: je mehr Freunde, desto weniger Arschlöcher. Umgekehrt galt das natürlich genauso. Freunde schienen uns ein guter Ersatz zu sein für all die Dinge, die wir vermissten. Was rein theoretisch klingt, hat die Wirklichkeit später empirisch bewiesen. Auf die Realität war seinerzeit eben noch Verlass. Und wir, wir waren uns offenbar verlässlicher als wir dachten. Außerdem: wir tickten hier oben sowieso ganz anders. Was das eine mit dem anderen zu tun hat? Wer weiß, vielleicht sind ja Freunde die haltbarste Brücke in die Vergangenheit. Die Gegenwart wiederum ist das, woran wir uns erinnern werden. Und was die Zukunft angeht ...? Über die ist uns noch nicht plausibel berichtet worden. Vielleicht hat dies auch mit dem Gefühl zu tun, dass die alten Geschichten in Vergessenheit geraten könnten und neue kaum noch entstehen. Alles miteinander betrachtet, bestand jedoch überhaupt kein Anlass zum Meckern. Am Ende nimmt sich die Zeit sowieso, was sie von uns will oder braucht. Gelegentlich überlässt sie uns dabei gnädigerweise einen Rest, um damit Schicksal spielen zu können, falls uns nichts Besseres einfiele.

Ob Geschichten so beginnen können? Ich vermutete, eher nicht. Erstens ist nicht alles und nicht jedes Leben spannend. Außerdem: Auch die Langeweile will schließlich in die Welt. Aber, das war mir vollkommen schnuppe. Und auch wenn ich nicht wusste, ob mir gerade jemand zuhörte; eigentlich hörte mir immer jemand zu.

… und deshalb machte ich mich auf die Suche nach der vergangenen Zeit.

Immer der Sonne nach, aber erst gegen Abend.

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