Читать книгу Immer der Sonne nach, aber erst gegen Abend. - Uwe Romanski - Страница 4

II Wir brauchten nicht viel.

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Ganz genau.

Erstens: von wegen, wir hatten ja nichts. Manche sagten so, andere eben so. Das war doch nur so ‘n Spruch, von Großeltern, Nachbarn oder irgendwelchen Landeiern. Und zweitens, und dann ist auch mal gut, brauchten wir immer irgendwas. Wir lamentierten bloß nicht ständig darüber, was uns fehlte. Auch der Staat schwieg in dieser Beziehung, setzte stattdessen eher auf seine Errungenschaften, und aus gutem Grund weniger auf uns. Höchstens noch auf unsere Eltern oder auf andere ältere Leute, die uns nichts angingen. Und die sich fleißig wie Ameisen mühten, etwas zu erreichen im Leben oder anzuschaffen im Haushalt. Vielleicht handelten sie so, weil sie einst noch miterleben mussten, wie andere Zeiten ihren Eltern alles genommen hatten.

Wir hingegen hatten es nicht so mit diversen Zielen oder überflüssigem Ramsch. Und was wir an Kaufkraft besaßen, floss zügig die Kehle runter oder löste sich in Rauch auf. Unser Leben ließ sich insgesamt mit einem einzigen Wort ganz gut umschreiben: Zurechtkommen.

Das war das, was wir hier taten. Außerdem würde die kommende Dekade am Ende aufregend genug werden. Allerdings war davon noch rein gar nichts zu spüren.

Auf unserem einzigen Kalender im Flur prangte das Jahr 1980. In Moskau gab es eine halbe Olympiade und in meiner Stadt den ganzen Sommer über nichts wirklich Aufregendes. Ein Ungar erfand den Zauberwürfel, der uns wie eine Art früher 3D-Taschenrechner stundenlang beschäftigte, beziehungsweise in den Wahnsinn trieb.

Die Sommerzeit wurde eingeführt, was zu der weit verbreiteten aber vollkommen unsinnigen Annahme führte, dass uns einerseits eine Stunde geschenkt und dann wieder weggenommen würde, oder umgekehrt. Mit solchem Quatsch mussten wir uns fortan zweimal im Jahr beschäftigen!

Interessanter fanden wir da schon die Grünen, die sich in diesem Jahr gründeten. Allerdings nicht auf den Wiesen oder Feldern rund um unsere Heimatstadt, sondern viel weiter weg, obwohl sie uns nahe waren. Vielleicht war es auch nur ihr Aussehen, das uns für sie einnahm: Turnschuhe, lange Mähnen und Bärte. Alles, was einige unter uns auch eine ganze Weile prägen sollte, ehe schließlich auch diese Mode mit uns vorüberging. Irgendwann waren die Schuhe wieder aus Leder, die Haare kürzer und die Bärte verschwunden. So ist das nun mal mit der Mode. Aus den Augen, aus dem Sinn, hätte meine Oma dazu gesagt. Sie hat immer gewusst, wie dieser Welt mit einfachen Weisheiten beizukommen war. Ein paar davon wollte ich mir vorsichtshalber merken.

Insgesamt war die aktuelle Lage also überschaubar, wenn auch nicht für uns. Wir mussten nämlich zu Hause bleiben. So war ihr Plan. Zu Hause blieben einige Mutige in diesem Sommer auch in Danzig. Ich würde auch Gdansk schreiben, wenn ich wüsste, wie ich es korrekt aussprechen soll. Das bedeutete, bald gab es auf der Landkarte wieder ein Reiseland weniger für uns, und insgeheim einen Grund mehr, daran etwas zu ändern.

Außerdem, je länger ich so darüber nachdachte, einiges bräuchte ich schon; einen anderen Vornamen zum Beispiel. Ich kniff Augen und Mund zusammen, und rückte meinen Vornamen nur raus, wenn ich direkt danach gefragt wurde. Fragen dieser Art mochte ich allerdings überhaupt nicht. Trotzdem waren Vornamen wichtig. Erst auf dem Spielplatz, dann im Klassenbuch, später bei den Mädels. Doch seien wir mal ehrlich, idiotischer Name hin oder her. Perspektivisch betrachtet blieb kaum Zeit, sich permanent über einen bescheuerten Vornamen aufzuregen. Voraussichtlich hatte ich gerademal noch so um die zehn Jahre. (Wozu also weiterhin Zähne putzen, Pläne schmieden, fürs Leben lernen?!)

Schließlich waren unsere Idole spätestens mit 27 weg vom Fenster. Stattdessen klebten sie an unseren Wänden: Morrison, Joplin, Hendrix & Co. Siebenundzwanzig! Ein Leben jenseits dieser magischen Altersgrenze schien uns weder möglich, noch clever oder zu guter Letzt in irgendeiner Weise erstrebenswert. Eher dachten wir, ihre Seelen gingen unseren voraus. Ja klar, andere Rockstars starben später, ein paar überlebten sogar. Wir mochten sie nicht besonders, vielleicht auch deshalb. Bis zur Unsterblichkeit ist es halt immer ein beschwerlicher Weg, den nicht jeder gehen kann. Man könnte glatt ein Lied darüber singen. Von wegen Rock’n Roll can never die ...; es hieß wohl eher: Spielt mir ein Lied zum Tod.

Mit Clemens als Vornamen jedenfalls war ich genervt und gezeichnet. Eine fade Buchstabenreihe ohne Sex, vom Klang ganz zu schweigen. Wenn ein Vorname einen Geruch hätte, roch meiner nach Unentschieden oder erinnerte vage an eine Südfrucht-Kreuzung. Wovon wir allerdings nicht so viele kannten. Vor allem nervte mich dieses unmännliche „s“ am Ende. Das war visuell schon Mist. Doch wozu aufregen? All diese Klaus, Silvios, Dietmars, Olafs und Udos waren viel schlimmer dran. Und eigentlich war es doch vollkommen egal. Denn erstens gab es Spitznamen, und zweitens verwechsle ich in der Erinnerung ohnehin die eine oder andere Figur. Also, ganz prinzipiell betrachtet, denn ich mochte Prinzipien, sagt ein Vorname so gesehen überhaupt nix.

Womöglich liefen derartige Gedanken wie vieles andere auch unter Weltanschauung; wahrscheinlich hatte sogar jeder seine eigene. In der Schule war das tagtäglich ein ausuferndes Thema mit diesem ganzen Drumherumgewese von Weltall, Erde und Mensch. Sie (ver)suchten dabei Antworten auf die drängendsten Fragen unserer Zeit. Nur durften an unserer Schule nicht so viele Fragen gestellt werden, damit wir auf dem kollektiven Marsch in unsere strahlende Zukunft nicht noch in Zeitnot gerieten. Deshalb galten hier klare Ansagen und Haltungen, ansonsten drohten Konsequenzen. So knapp ließ sich das Grundprinzip der sozialistischen Erziehung komprimieren.

Doch Erziehung interessierte mich nicht, Literatur hingegen schon. Vor allem, wenn sie bemüht waren, für ihre manifesten Vorlieben künstlerische Vorbilder zu kreieren. Da machten sie aus Hamlet einen Underdog und aus Goethe gleich einen kommunistischen Vordenker, inklusive Vision einer zukünftigen Gesellschaft. Wir mussten die entsprechende Passage aus dem Faust auswendig lernen und starrten Mitschülern beim Rezitieren ins Gesicht, wenn sie mit mehr oder weniger Verve zwischen schluckhaften Atemzügen versuchten, uns die großen Menschheitsträume literarisch näher zu bringen.

Während des Deutschunterrichts überkam mich manchmal die Befürchtung, dass sie dem Genossen Goethe postum noch den Vaterländischen Verdienstorden anhängen könnten. Vermutlich hätte es nur noch ein oder zwei Literaturkongresse gedauert, und sein Konterfei würde neben den Nasen von Marx, Engels und Lenin prangen. Schließlich war nach Stalins Tod wieder Platz drauf, auf ihren Bannern und Wimpeln. Obwohl der einzige Protagonist, der es verdient gehabt und dorthin gehört hätte, nach meiner Ansicht Sisyphos gewesen wäre. Der erste wirkliche Held der Arbeit; der, ohne je seinen Stolz zu verlieren, unermüdlich zur tragischen Gestalt wurde. Nur, hierzulande redete niemand von ihm. Die Sagengestalten unserer Tage hießen Adolf Hennecke, Marschall Shukow und vielleicht noch Timur. Mir hingegen ging Sisyphos nicht mehr aus dem Kopf.

Manchmal beginnen Mythen so.

Wir lebten in Fähnchenland. Wenn Wind aufkam, flatterte es überall und knisternd heischten die Flaggen um eine gehörige Portion Aufmerksamkeit.

Dabei waren sie sich für nichts zu doof, oder zu schade; und verliehen für nahezu jeden Unfug oder Mist eine Medaille, ein Banner oder wenigstens einen Wimpel: für die Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, für ausgezeichnet rammelnde Karnickel und für besonders vorzeigbare Hühner, für vorbildlichen Einsatz … und für einen genauen Schuss.

Allerdings hingen selbst bei mir einige Wimpel an der Wand, ehe ich diese zusammen mit den ganzen billigen Medaillen, die ich zumeist beim Fußball gewonnen hatte, in einer wütenden Nacht entsorgte. So wie Cassius Clay seine Goldmedaille einst in den Ohio warf. Nur, dass ich den ganzen Kram nicht in unser Flüsschen Tollense schmiss, sondern in die Mülltonne. Damit hatte es sich bei mir also einfach mal ausgeflaggt! (Wie ich hier als Nachkomme eines Schiffsoffiziers, der einst die Linie nach Amerika befuhr, wohl berechtigterweise anmerken durfte.)

Jeder Mensch geht eben anders mit Erfolgen um. Zumal dieses Land nicht für persönliche Triumphe geschaffen war. Denn hier ging es vorrangig um das Kollektiv. Aber damit hatte ich nichts am Hut. Ich kam gut und gerne mit mir allein zurecht.

Malte und ich hatten heute unseren Philosophischen. Malte war mein bester Freund. Obwohl es schwierig ist, das so auszudrücken, weil Freunde in einer Rangliste zu führen ziemlich obskur wäre.

Egal, wir pafften jedenfalls vor uns hin und rätselten derweilen, was also die Welt und die Weise mit uns vorhätten, gern auch in umgedrehter Reihenfolge. Vielleicht lag es nur am Wetter oder an der Wirklichkeit, wahrscheinlich jedoch eher an uns.

Bereits in den großen Pausen wälzten wir auf dem Schulhof mächtige Themen: Zeit, Liebe und Heimat. Das ganze Programm. Schwerer Stoff für eine leichtlebige Jugend. Am Nachmittag setzten wir unseren Dialog oft vor der Imbissstube fort. Daneben befand sich die Kaufhalle. Davor gab es einen Findling aus uralten Eiszeiten, etliche Tonnen schwer, mit dem sie in dieser Stadt der Zukunft scheinbar nichts anzufangen wussten. Darauf thronten wir und warteten auf jemanden, den wir kannten. Meist kam niemand vorbei. Dann redeten wir einfach weiter. Denn wir fanden immer ein Thema, und auch genug Worte. (Dafür hätte man uns in einem früheren Zeitalter aus einer Stummfilm-Landschaft wie Mecklenburg möglicherweise verbannt.) Jetzt sprachen wir darüber, was uns möglicherweise am meisten beeinflusst, (für die Jugend bedeutet dies meist bedrängt oder nervt). Oder davon, was für uns besonders wichtig wäre. So landeten wir gedanklich wieder da, wo wir heute Morgen aufgehört hatten.

"Zeit!", sagte ich.

"Wie?", fragte Malte.

"Das weiß ich gerade nicht", sagte ich. Das war keinesfalls gelogen.

"Vielleicht weil sie weniger wird?", fragte Malte nun.

"Sie wird nicht weniger. Das ist nun absoluter Quatsch. Wir werden nur älter", sagte ich.

"Du nu wieder!", Malte winkte ab.

Wir brauchten was anderes.

"Was ist mit der Liebe?", fragte ich.

"Frag doch Claire!", antwortete Malte.

"Ich frag aber dich!", sagte ich darauf.

„Ich frag aber dich!“, äffte mich Malte erst nach, ehe er sagte:

"Ich weiß es nicht."

In Momenten wie diesen dachte ich: Freundschaft ist beständiger als Liebe. Allerdings behielt ich meine kleine Weisheit für mich. Außerdem hätte ich sie nicht beweisen können. Also schwiegen wir, leicht konsterniert voneinander, und kapitulierten bis auf Weiteres vor den allzu großen Themen; oder, halt, doch noch nicht ganz.

„Heimat, wie wär´s mit Heimat?“

Ich versuchte es auf diese Art und schaute jetzt Malte direkt in die Augen, weil es mir etwas bedeutete, herauszubekommen, was er wirklich dachte. Außerdem erschien er mir als touristischer Mehrkämpfer geradezu prädestiniert für derlei Auskünfte. Schließlich müssen die sich doch überall durchschlagen.

Daraufhin zündete sich Malte erst mal eine an, zog seine Schultern kurz hoch, rückte die Brille zurecht und runzelte die Stirn. Viele Falten hatten wir ja in unserem Alter noch nicht. Viel mehr Ahnung offensichtlich auch nicht. Dennoch, ich behielt ihn fest im Blick. Er beugte sich zu mir, schaute über die dünnen Ränder seiner Brille zu mir. Schließlich holte er Luft, tief von innen, von ganz unten.

„Ohne Heimat verkümmern wir.“

Das kam jetzt von Malte, in einem Stoß, und ohne erneut Luft zu holen. Direkt hinein in diesen, unseren Tag und platzte regelrecht hinein in diese Ruhe, die zwischen uns lag, die uns verband. Und während ich noch überlegte, wie das gemeint war, eine Entgegnung suchend, sagte er irgendetwas Banales, um von seinem gewaltigen Spruch abzulenken. Ich hingegen blieb unschlüssig. Einerseits kam mir sein Satz ein bisschen altklug vor, andererseits dachte ich, das kann man auch einfach mal so stehen lassen.

Zwei Jugendliche saßen also ziemlich ratlos vor ihren drei großen Welträtseln: Zeit, Liebe & Heimat, und hatten so gut wie keinen Schimmer. Wir brauchten eine Lösung. Und die lag in diesem Fall ziemlich nahe.

Als wir unser Geld zusammenlegten, reichte es immerhin für ein paar Flaschen Welterklärer. In der Kaufhalle packten wir vier Pilsner in den Korb. Drei Fragen, vier Bier. Wir verstauten die Pullen so, dass sie nicht klapperten und wir nicht am heller lichten Tag in ihrer Gesellschaft gesehen wurden. Sicher ist sicher. Dann spazierten wir Richtung Mühlenholz. Obwohl das, was wir vor uns sahen, nur das Lindetal war. Bis das Mühlenholz käme, wäre es noch ein Stück.

Allerdings hatten wir keine Lust, den Berg runter zu laufen, und anschließend wieder hoch zu kraxeln. Die viel zitierten Mühen der Ebene überließen wir lieber begeisterteren Mitläufern, von denen wir genug kannten.

Inzwischen war es Nachmittag geworden, die Sonne verdrückte sich ab und an. Dazu gesellte sich ein flauer Wind. Wir liefen durch die Oststadt. Naja, liefen, wir schlenderten, und passten auf unsere Vorräte auf. Für einen Moment waren wir schweigsam und ließen Blicke schweifen, sofern uns derartige Allüren in unserem Alter schon zustanden. Was wir sahen, sollte uns wohl Zukunft verheißen. Wir jedoch, wir sahen das ein wenig anders. Außerdem wussten wir wo wir hinwollten, wenn auch nicht unbedingt, wo wir hingehörten.

An den Rändern der Oststadt stand ein gleichermaßen graues wie grauenhaftes Mahnmal für all die Opfer von Militarismus und Faschismus, kurz davor ein Gefährt, das nur darauf zu warten schien, dass sich jemand auf den Weg machen wollte. Es war ein Wagen mit Pferd. Wir sprangen auf und machten es uns auf der Holzbank bequem. Alles war hier aus Holz, selbst der Gaul. Warum ich das betone?

Weil um uns herum nur Beton war.

Mitunter schauten wir genauer hin, es war schließlich unsere Stadt. Es war auch unser Leben, das sich hier abspielte - wobei abspulte die weitaus treffendere Bezeichnung wäre. Dabei fuhren unsere Blicke in der Regel eine langweilige Ernte ein. Es herrschte überall Monokultur in vollster Blüte: dieselben hässlichen Vorhänge, uniform bepflanzte Balkone, einsilbige Menschen. Kurzum: Aussichten, die uns ermüdeten.

Ältere Pärchen nach der Frühschicht, den Kampfauftrag noch in ihren Knochen, ihre Köpfe vernebelt, ihre Buckel gekrümmt. Eins davon bekamen wir jetzt leibhaftig ins Visier.

Er, nachlässig über die Balkonbrüstung gelehnt, im feinrippigen Turnhemd, darauf Spuren von Schweiß und Suff. Ein Bierchen in der einen Hand, in der anderen eine Fluppe, Fliegenklatsche oder eine penibel eingerollte Zeitung. Seine Trainingshose konnten wir zwar nicht sehen, aber in diesen Breitengraden deren Farben zuverlässig erahnen: braun mit gelben und roten Streifen an den Nähten. Die Freizeituniform vom Armeesportverein, beziehungsweise von aktiven Sympathisanten.

Sie hingegen trug eine grelle Bluse, eine riesige Sonnenbrille sowie eine Art Sonnenhut mit einer Blume dran geklebt und goss ihre Pflanzen einzeln, sobald ein kleiner Schatten darauf fiel. Zwischendurch setzte sie sich, wahrscheinlich für ein Kreuzworträtsel, oder auch einen frühen Wein. Er nun wieder starrte in unsere Richtung, als würden wir geradezu in seinem Wagen sitzen. Er rief sie. Sie stand nun direkt neben ihm, ohne ihn zu berühren. Wir hatten noch gute Augen und das Duo infernale von unserer Kutsche aus leibhaftig im Visier. So sahen wir, wie er sich ihr zuwandte, etwas zu ihr sagte und daraufhin in unsere Richtung fuchtelte. Sie wiederum zuckte nur die Schultern, als hätte sie bereits Feierabend gegenüber seinen Problemen. Sie wollte lieber ihre Ruhe, für die kleineren Rätsel dieser Welt, die sie Tag für Tag in bunten Zeitungen löste. Er winkte ab und streckte sich in den Sonnenschein. Und zwar dermaßen, als betriebe er Photosynthese. Dabei leuchtete sein fleckiges Hemd wie ein Fanal. Er nahm einen längeren Schluck aus seiner Pulle. Als er die Flasche absetzte, prosteten wir ihm zu. Er verschluckte sich, wandte sich ab und drehte am Radio. Mit dem nächsten Windstoß hörten wir die Kofferheule dudeln: Schlagertakte oder Nachrichtenfetzen, die frohe Botschaften aus diesem Land verkündeten und melodiös hinaus in alle Welt trugen. Jetzt waren wir an der Reihe, uns abzuwenden. Das alles war so öde, dass wir einen weiteren Schluck brauchten, einen ziemlich tiefen. So stießen wir auf diese Parodie auf unser Leben an. Kaum davon auszugehen, dass wir hier & heute mit unseren drei Fragen weiterkämen. Noch absurder war allerdings die Vorstellung, dass genau solche Balkonmenschen bestimmen wollten, wie wir zu leben haben. Und so absurd wie es war, so beängstigend war es auch. Doch darüber mochten wir gerade überhaupt nicht nachdenken, während wir weiter in Richtung Oststadt glotzten, obwohl der schönere Blick eindeutig hinter uns lag. Aber manchmal will man selbst das Schöne nicht sehen, und alles andere gleich gar nicht. Über uns dröhnte ein Flugzeug, strebte schnurstracks gen Norden.

„… `n Flugzeug müsste man haben“, manchmal erriet Malte meine Gedanken, selbst die heimlichen.

„Ja, das wär´s“ sagte ich, und träumte weiter.

„Dabei haben wir´s ja fast erfunden.“

„Wer, wir?“, ich wusste gerade nicht, worauf er hinaus wollte.

„Na, Lilienthal. Mecklenburger. In Anklam.“

Es sprudelte aus Malte förmlich heraus.

„Wie kommst du denn ausgerechnet darauf?“, fragte ich.

„Ich wohne ja in der Lilienthal-Straße“, antwortete Malte.

„Und?“, fragte ich nun.

„Nichts, und …“, antwortete daraufhin Malte.

„Ja, aber was sollte das jetzt?“, ich ließ nicht locker.

„Ich mein ja nur, das Fliegen hat hier Tradition. Bei uns. Eben Lilienthal. Nun tu doch nicht so!“, betonte Malte.

„Vielleicht wollte er einfach nur weg.“

Als ich gut anderthalb Jahre später zum allerersten Mal abheben sollte, war ich schon achtzehn. Das Ziel hieß Moskau, geflogen wurde hin mit einer TU 154 und zurück mit einer AN 86, der größten Maschine im Ostblock. Ein Monstrum, das selbst Technikdesinteressierte wie mich beeindruckte. Es war wohl eher die Ehrfurcht, dass gewiefte Ingenieure etwas geschaffen hatten, das helfen konnte, Grenzen zu überwinden, und seien es erst einmal nur die zwischen Bruderstaaten. (Kurz überlegte ich, dieses Wort auf meine Liste unerwünschter Begriffe zu setzen.) Dass sie überhaupt auf diesen Begriff gekommen waren. Wahrscheinlich war Schillers Ode daran schuld. Es gab sogar einen Bruderkuss. Auch die Wurzeln unserer Familie lagen östlich. Aber wir hatten dort keine engen Verwandten mehr, also nix mit Bruderstaat. Und in Moskau ging es ebenfalls nicht sehr brüderlich zu. Überall wollte mir einer dieser Brüder etwas abkaufen. Ich bin so einiges losgeworden.

Fliegen half, größere Distanzen und kleinere Grübeleien zu bewältigen; an einem einzigen Tag der Zeit ein Schnippchen zu schlagen. Ich erinnerte mich, wie ich als Kind alle möglichen Flugzeuge aus Plaste mit Modellbausätzen zusammengeklebt hatte. Darunter waren sogar Flugzeugtypen aus dem nichtsozialistischen Wirtschaftssystem (abgekürzt NSW, wen es interessiert). Ich polkte an diesen filigranen Maschinen herum, obwohl ich Basteln hasste. Vielleicht suchte ich auch nach Wegen, hier wegzukommen. Da konnte es nicht schaden, ein bisschen darüber zu wissen, wie ein Flieger aufgebaut war und welche Maschinen es überhaupt auf der Welt gab, beziehungsweise in der Luft. Schließlich konnten Flugzeuge eine der geheimnisvollsten Kräfte der Natur überwinden, die Schwerkraft. Ich hätte wetten mögen, dass diese Kraft in der DDR erfunden wurde. So bleiern wie sich das Land, und die darin wohnten, gaben.

Diese hängenden Köpfe und fallenden Schultern, als fiele jeder Schritt doppelt so schwer. Nichts schien hier irgendjemanden leicht zu fallen. Dazu eine Trägheit, die Ihresgleichen suchte. Gab es nicht auch ein Trägheitsgesetz? Und wenn ich an Claire und ihre Familie dachte, die wollten weg hier, nur weg.

Hatte das vielleicht mit der Fliehkraft zu tun?

Bloß, wie gesagt, Physik und dergleichen war so gar nicht mein Fachgebiet. Insofern konnte es sein, dass ich mich täuschte. Aber darüber wussten andere besser Bescheid. Denn das Leben ist mitunter kompliziert und an Gesetze hielten wir uns in meinem Alter überhaupt nicht gern. Egal, worauf diese beruhten.

„Es hat ihm nichts genutzt“, unterbrach Malte die Stille.

„Er hat´s versucht“, sagte ich dazu.

„Wie Ikarus!“, warf Malte noch ein.

„Gibt´s da nicht auch `ne Straße hier?“

Ich lachte zwar. Doch es klang nicht frei, ganz und gar nicht.

Es sollte Was-auch-immer vergehen, ehe wir wieder über unsere drei großen Themen miteinander reden würden. Meine Oma wusste auch, warum: Gut Ding will Weile haben. Und manche Dinge brauchen Gelegenheit, sich zu entwickeln. Genauso wie wir. Doch es war noch nicht abzusehen, ob uns letztlich die Zeit dafür bleiben würde. Oder was die Heimat uns bedeuten könnte, von der Liebe ganz zu schweigen. Wir dämmerten also in vielerlei Hinsicht vor uns hin.

Es waren Momente wie dieser, in denen mochte ich nicht länger darüber nachdenken, was die Zukunft so alles mit sich bringen würde. Was auch damit zusammenhängen dürfte, was sie mir alles vorenthalten wollte. Irgendwann sah ich einen Film darüber. Stalker. Da wurde mir klar, dass auf einer Zone einfach kein Segen lag, obwohl sie angeblich das Glück beherbergen sollte. Aber es ist vermutlich überaus kompliziert, dieses so genannte Glück genau in jener Zeit zu finden, in der man lebt oder in solchen Momenten, in denen man es braucht. Außerdem war Tarkowski Russe. Die sahen das sowieso ganz anders: mit dem Glück, mit dem Segen und überhaupt.

Fürs Erste müsste ich mich damit abfinden, was jetzt war. Aber nicht für immer. Für immer und ewig war ja noch nicht mal die DDR. Zumal auch ihr Vorgänger in Sachen tausendjähriger Perspektive nur Anfangserfolge verbuchen konnte. Zeit ist eben immer relativ. Das Leben allem Anschein nach auch. Manchmal muss man als Mensch eben Berge versetzen wollen und keine Häufchen machen. Doch wie ich das am besten anstellen sollte, davon hatte ich noch keinen Schimmer. Woher sollte ich das auch wissen? Mit Leuten, die darüber möglicherweise Bescheid wussten, redeten wir ja nicht. Und die Leute, mit denen wir darüber reden wollten, wussten es nicht. Irgendwie fehlte jemand dazwischen, der Ahnung hatte, oder genügend Verstand, seine Ahnungen für sich zu behalten. So gab es Tage, an denen ich meinte, ich dürfte keine Zeit mehr verlieren. Dann wiederum gab es Tage, an denen ich befürchtete, dass es selbst dafür bereits zu spät wäre. Obwohl es für Panik nun gar keinen Grund gab. Schließlich waren wir jung, und wenn es im Osten eines wirklich reichlich gab, dann war das Zeit. Manchmal war das ziemlich beschissen.

Ansonsten machten wir was draus.

Immer der Sonne nach, aber erst gegen Abend.

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