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Angekommen in den Fünfzigern

Recht bescheiden und bunt hatte es bei uns angefangen. Bunt gemischt, beinahe multikulti nach heutigen Maßstäben: Aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien, Baden und Freiburg stammten die Nachbarn. Rudi, Horst, Kai, Christiane, Heiko, Werner, wir Kinder kannten keine Unterschiede. Wir wohnten im Freiburger Stadtteil Haslach, in einer Siedlung, die in den fünfziger und sechziger Jahren erbaut wurde. Aus heutiger Perspektive sahen die Häuser nicht nur nach Sozialwohnungen aus, es waren auch solche. Drei Stockwerke hoch, zwischen vier und acht Eingänge, drei Wohnungen auf jeder Etage.

Gleichmäßig waren sie gebaut, weiß verputzt, die Fensterrahmen weiß gestrichen. Der Fahrradkeller hatte einen Ausgang zum Hinterhof. Er war meist verschlossen, jeder sollte durch den Haupteingang kommen und gehen. Unser Hauseingang lag zur Straße, andere Häuser hatten ihn zum Hof. Vier Häuserblöcke waren um einen Hof gebaut. Der größte Teil des Platzes bestand aus einer Rasenfläche, an deren Enden jeweils rechteckige kleine Bereiche mit Steinplatten belegt waren. Darauf befanden sich Teppichstangen. Teppiche hatten schon viele Familien, denn ständig hing einer dort. Außer wenn es geschneit hatte, denn dann wurden die Teppiche mit der Oberfläche auf den Schnee gelegt, und unsere Mütter bearbeiten sie mit dem Teppichklopfer. Zurück blieb ein brauner Abdruck, den unsere Mütter mit Wohlgefallen betrachteten – denn der Teppich war nun sauber. Diese Häuserblocks waren unser Zuhause, der Ort, an dem wir wohnten und spielten. Von dort aus gingen wir später zur Schule. Das Viertel war sauber und gepflegt, jeder Bewohner sorgte dafür. Die Mieter der Erdgeschosse säuberten die Wege vor dem Haus, die anderen kümmerten sich um die Treppenhäuser.

„Wir sind Flüchtlinge“, sagte mein Vater. Er wollte damit klarstellen, dass er und Mutter ohne Hab und Gut aus dem Krieg gekommen waren. Er betonte im nächsten Satz aber auch, dass sie schon viel erreicht hatten. Ein gewisser Stolz klang mit, und er wollte sich auf keinen Fall in die zweite Reihe stellen. Vater organisierte für mich einen Vertriebenenausweis. Er meinte, das Papier könnte noch einmal nützlich sein. Als ich Jahre später bei der Wohnungssuche auf die Frage, ob ich Vertriebener sei, diesen Ausweis vorlegte, begriff ich, dass dieses Papier nichts wert war. Ich war kein Flüchtlingskind, sondern hier geboren. Warum sollte ein Nachkriegskind auch Vorteile haben?

Die Mitglieder sind nicht besonders groß. Mein Vater Erich, 1,68 Meter groß in seiner besten Zeit, schlank, lange Zeit durch seine körperliche Arbeit im Garten gut durchtrainiert, war ein cholerischer Mensch, der sich oft nicht unter Kontrolle hatte. Er sah diese Eigenschaft als Stärke an und setzte sie bewusst ein, wenn er bei Liselotte, meiner Mutter, etwas erreichen wollte. Seine dunklen, in früheren Jahren schwarzen Haare waren stets streng nach hinten gekämmt, beim Ausgehen mit Pomade. In seinem Auftreten machte sich seine lange Soldatenzeit bemerkbar: Wenn er konnte und durfte, spielte er den befehlenden Oberkommandierenden, wenn nicht, den unterwürfigen, befehlsempfangenden Soldaten. So sahen wir ihn aus dem Haus marschieren, mit gerader Haltung, den Hals in die Länge gezogen. Zu Hause hatte er seine Befehlsempfänger: meine Mutter und mich. Vater gab die Befehle, wir gehorchten. Meine Mutter hatte das im Dritten Reich gelernt, für mich aber waren seine Wutausbrüche schon in frühen Jahren verabscheuungswürdig.

Meine Mutter, eine kleine, mehr rundliche als schlanke Frau mit blonden Haaren, war im Vergleich zu meinem Vater still. Die Zeit während des Dritten Reiches und im Krieg hatte sie Gehorsam lernen lassen. Sie war die ideale Partnerin für Vater. Sie hielt Ordnung, wo er es nicht konnte, aber verlangte. Sie pflegte seine Kleidung, sie fand immer noch billigere Lebensmittelquellen, um den Zwang von meinem Vater zum Sparen entgegenzukommen. Mutter ließ sich viel von ihrem Mann gefallen, viel zu viel. Er brüllte sie an, er schlug sie, er demütigte sie verbal und vor anderen Frauen. Sie wurde wütend, sie weinte, sie spionierte ihm nach. Aber sie brachte zeitlebens nicht die Kraft auf, sich von seinen Fesseln zu befreien. Immerhin wusste sie auch zu genießen, wenn er sie ließ.

Heute, wo das Thema Flüchtlinge in Deutschland wieder aktuell ist, werden in den Familien die alten Erinnerungen wach, und die Medien bringen entsprechende Rückblicke. Viele von denen, die 1945 aus Ostpreußen oder Pommern gen Westen flüchteten, leben nicht mehr. Dennoch werden die alten Geschichten der Eltern und Großeltern wieder lebendig. Viele Kinder und Enkel erinnern sich.

In meiner eigenen Familie habe ich allerdings kaum etwas dazu erfahren. Für meinen Vater war das alles erledigt, und er versuchte, sich so gut wie möglich in seiner neuen Umgebung einzuleben. Er hielt auch nichts vom Trauern um die verlorene Heimat:

„Der Russe wird das Land nie wieder zurückgeben“, meinte er. Polen und Russland waren für ihn politisch dasselbe, da machte er keinen Unterschied. In meiner frühesten Jugend sah ich ab und zu eine Ausgabe des Ostpreußenblattes, aber es verschwand bald aus dem Haushalt. Suchte ich nach den Heften, wurde mir gesagt: „Das verstehst du noch nicht.“

Ich fand das sehr bedauerlich, weil ich die alten Bilder so interessant fand. Mutter erklärte mir, dass Ostpreußen für meinen Vater erledigt sei. Außerdem würde in dem Blatt Hetze betrieben. Gegen wen? Ich verstand das nicht so richtig, das Wort Hetze hörte sich für mich auch nicht so gut an.

An- und vor allem untergekommen waren meine Eltern, die aus Ostpreußen und Pommern kamen, in Südbaden: mein Vater zunächst bei der französischen Armee in Todtnauberg, meine Mutter in Freiburg und meine Großeltern mütterlicherseits am Kaiserstuhl.

Meine Eltern erzählten selten von ihrem Leben in der alten Heimat. Fing meine Mutter in meiner Gegenwart davon an, wurde sie schnell von meinem Vater zurückgepfiffen:

„Das will der Junge gar nicht hören.“

Für meinen Vater war das Hier und Jetzt die neue Heimat, und ich sollte nicht beeinflusst werden. Was eine selten gute Einstellung von ihm war. Noch heute hören wir die Schreihälse, die nach den Grenzen von 1939 rufen. Ihn zog es jetzt in die Berge, und er wanderte bei jeder Gelegenheit, wenn er nicht im Garten war. Mutter aber lebte bis zu ihrem Tod geistig in der alten Heimat weiter. Sie vermisste sie sehr. Sie war nie richtig in der neuen Heimat angekommen. Heute denke ich, dass sie ebenso traurig über ihre Situation in der Ehe mit ihm war. Kontakte durfte sie nur haben, wenn er es erlaubte. Und es waren nicht viele, die er ihr gestattete.

Meine Eltern versorgten mich nicht gerade bücherweise mit interessanten Informationen zur Geschichte der Vorfahren. Alles, was ich weiß, passt in wenige Sätze: Vater war in Königsberg aufgewachsen und 1933 Soldat geworden. Von diesem Jahr an war er nur noch an den Wochenenden und im Urlaub zu Hause gewesen. Nur selten machte er Andeutungen zu seinen Jungenjahren. Er und seine Freunde verbrachten viel Zeit mit dem Segelboot auf dem Fluss Pregel. Sie hatten die Boote selbst gebaut und segelten von Königsberg zum Frischen Haff. Wenn er darüber sprach, sah ich, wie sich das strenge Gesicht meines Vaters aufhellte. Das kam äußerst selten vor.

Über die Familie meines Vaters wurden keine Geschichten erzählt. Kein Wort zu Eltern, Geschwistern, Tanten. Eine einzige Fotografie existiert von den ernst blickenden Großeltern, Fritz und Johanna Trostmann, mit allen fünf Kindern: Lene, Paul, Erich, Willi und Ernst. Ich habe diese Großeltern nie kennengelernt. Gerne hätte ich mehr über sie erfahren. Was machte der Großvater, wie war sein Charakter? Und die Großmutter? Auf meine Nachfrage hörte ich lediglich, dass mein Großvater bereits während des Krieges in Ostpreußen starb, meine Großmutter kurz danach. Und die Vorfahren? Erst nach dem Tod meines Vaters fand ich Urkunden und ein paar Unterlagen in seinen Hinterlassenschaften. Erstaunlicherweise reichen sie bis 1754 zurück. Erichs Vater war Kutscher, seine Eltern übten handwerkliche Berufe aus.

Ernst, der jüngste Bruder, war im Krieg gestorben. Zu Paul hatte mein Vater keinen Kontakt, zu Lene und Willi nur ab und zu. Willi hat zwei Kinder, Alfred und Walburga, die ich noch heute jedes Jahr einmal treffe. Lene hat einen Sohn, den ich jedoch nicht kenne, und Paul hat keine Kinder.

Auch meine Mutter erzählte nicht viel über die Vergangenheit. Ein Vorfahr namens Carl Ludwig Hermann Ginnow wanderte mit seiner Familie über Bremen nach New York aus. Ihr Ziel war Oshkosh in Wisconsin, wo immer noch ein Teil der Familie lebt. Meine Mutter pflegte aber keinen Kontakt mit diesen entfernten Verwandten.

Und wie hatte meine Mutter die Flucht erlebt? Sie war auch über die Ostsee gekommen. War das eine Ferienreise? Immer waren sie vor „dem Russen“ geflohen, hieß es. Aber hatte sie mal einen gesehen? Auch ihre Mutter, meine Großmutter, hüllte sich in Schweigen. Das Erlebte muss schwerwiegend gewesen sein. Sie versuchten zu verdrängen. Für sie war alles vorbei: Wichtig war, dass sie lebten. Sie hatten Arbeit, eine warme, trockene Wohnung und zu essen.

Da ich vom Vater gelernt hatte, dass man nicht so viel fragen soll, bekam ich auch keine Antworten. Irgendwann hatte ich die Lust verloren, keine Antworten auf meine Fragen zu diesen Themen zu bekommen. Ich wuchs in Freiburg auf, hatte meine Freunde und hörte nur selten das Wort Vertriebene - mein Vater vermied es ganz und gar und verbot mir, es auszusprechen. Wahrscheinlich schwang für ihn in dem Wort ein Unterlegensein mit. Als Soldat wollte er kein Verlierer sein. Meine Mutter redete auf Geheiß vom Vater nicht mit mir darüber, sie musste schweigen. Jahrzehnte später habe ich es versäumt, nachzufragen. Als mein Interesse wuchs, waren die Eltern schon zu alt, um erzählen zu können. Hätten sie gewollt?

Manchmal bekam ich ein wenig davon mit, welche Schwierigkeiten sie als Flüchtlinge hatten, aber eher nebenbei. Weil die Wohnungsnot riesig war, wurden in der Nachkriegszeit Wohnungen und, falls nötig, auch einzelne Zimmer beschlagnahmt. Die Haus- und Wohnungsbesitzer waren gewiss nicht erfreut, und das schürte so manche Ressentiments. Meine Großeltern mütterlicherseits, Otto und Martha Bröker, die in Oberrotweil am Kaiserstuhl in der Nähe von Freiburg sesshaft wurden, bekamen das in den ersten Jahren tagtäglich zu spüren; sie hatten im Anbau eines Bauernhofs eine Zweizimmerwohnung zugewiesen bekommen. Ich erinnere mich, dass die vermietende Bäuerin auch zu uns unfreundlich war, und ab und zu fiel die eine oder andere Bemerkung über die Fremden. Dass die vom Geld der Einheimischen lebten und denen die Wohnungen wegnähmen – wenn ich so etwas heute, 60 Jahre später, höre, kommt mir das irgendwie bekannt vor.

Meine Großmutter beherrschte die Küche. Sie war eine kleine, etwas rundliche Frau, ihre langen Haare trug sie stets zu einem Dutt geknotet und verließ nie ohne Kopftuch das Haus. Großmutter verlor sich beinahe in der großen und spartanisch eingerichteten Küche. Der Herd wurde mit Holz befeuert. In den ersten Jahren gab es keinen Kühlschrank; eine Kammer diente dazu, die Lebensmittel frisch zu halten. Ein Bad gab es nicht. Waren wir zu Besuch bei ihr, so hatten wir uns in der Küche gewaschen. Ich war oft bei den Großeltern. Dort befand ich mich außer Reichweite meines herrschsüchtigen Vaters. Das wöchentliche Bad erfolgte in einer Wanne, in die ich als kleiner Junge gut hineinpasste. Großmutter machte dazu große Mengen Wasser auf dem Herd warm. Wenn ich eine Zeit lang eingeweicht war, wurde der Schmutz der vergangenen Woche von mir abgeschrubbt. Großvater sah sich die Szene mit einem verschmitzten Lächeln an.

Die Toilette war außerhalb der Wohnung. Ein überdachter Weg führte dort hin. Wasserspülung gab es erst Jahre später. Also musste man einen Eimer Wasser mitnehmen. Bibbernd lief ich als kleiner Junge ängstlich den Weg entlang, in einer den Eimer, in der anderen Hand eine Taschenlampe, denn weder draußen, noch auf jenem Örtchen gab es Licht. Im Winter, wenn alles eiskalt war, wurde im Flur abends ein Nachttopf bereitgestellt.

Im Wohn-Esszimmer stand ein riesiger graugrüner Kachelofen, der von der Küche aus befeuert wurde. Die warme eingebaute Bank war der Lieblingsplatz von meiner Mutter und mir. Dunkle lange Holzdielen machten den Raum zusätzlich gemütlich. Ich liebte diese Wohnung. Für mich wurde sie zum Rückzugsort an manchen Wochenenden und in den Ferien.

Meine Großeltern halfen unentgeltlich auf dem Hof, und offenbar verschaffte ihnen das etwas Respekt. Ich sehe noch heute Großvater: Ein kleiner, zufriedener Mann mit rundem Kopf ohne Haare, ein ehemaliger Dampflokführer, wie er mit seiner Schirmmütze und Strickjacke vor der Scheune sitzt und Maiskolben entblättert. Meistens sah ich ihn lachend oder spitzfindige Bemerkungen über andere Leute machen.

Mit der Zeit durfte ich mich auf dem Hof frei bewegen und sogar mit dem Bauern aufs Feld fahren. Am Anfang hatte er noch Ochsengespanne, später einen Traktor. Neben dem Bauern auf dem Lanz zu sitzen oder oben auf dem heugefüllten Wagen schaukelnd die Welt an mir vorbeiziehen zu lassen, das war für mich das Größte. Wenn ich im Stall bei der Fütterung geholfen hatte, bekam ich das eine oder andere Mal ein Ei geschenkt. Triumphierend lief ich damit zu meiner Großmutter. Großmutter konnte sich für mich freuen. Meine Mutter war froh, wenn ich bei den Großeltern sein konnte, denn hier bekam ich gutes Essen. Meine Großmutter saß an der Quelle.

Außerdem war sie eine gute Köchin, von deren Kenntnissen ich noch heute profitiere. Ich koche gerne und weiß gute Zutaten zu schätzen. Großmutter war ehrlich, genau und streng. Ich fühlte mich aber frei bei ihr. Ich spielte viel mit anderen Kindern auf der Straße oder war mit unserem Hund unterwegs. Selten machte sie mir Vorschriften. Sie verlangte aber von mir Pünktlichkeit und Ehrlichkeit. Die Kirchturmuhr zeigte mir die Zeit an. Hatte ich etwas kaputt gemacht, musste ich es gestehen. Eine Strafe gab es nicht, wenn ich etwas kaputtgemacht hatte, sondern dann, wenn ich es verschwiegen hatte.

Großvater war zehn Jahre älter als Großmutter. In meiner Erinnerung saß er in späteren Jahren meistens am Fenster, rauchte ab und zu eine seiner Zigarren und hörte Radio. In den letzten Jahren hatte ihm Großmutter eines der ersten Batterieradios geschenkt. Großvater war inzwischen schwerhörig, und so hielt er sich das Radio ans Ohr. Großmutter wollte nicht, dass das Radio den ganzen Tag in voller Lautstärke lief. Wenn ich nach Oberrotweil kam, war es mit der Ruhe vorbei, was Großvater zu der Bemerkung veranlasste: „Wenn du wieder weg bist, mache ich drei Kreuze.“ Ich rannte gerne durch die Wohnung und machte mich oft lustig über ihn. Er nahm es mir nicht übel, aber Großmutter zog mich dann an den Ohren aus dem Zimmer. Gesprochen hat Großvater nur wenig. Solange er noch laufen konnte, verschwand er gelegentlich zu einem befreundeten Winzer und kam singend in der Nacht wieder nach Hause. Jeder, der ihn auf dem Heimweg getroffen hatte, konnte berichten, dass Großvater weiße Mäuse im Dorf gejagt hatte. Großmutter versank vor Scham. Er nahm die anschließende Predigt gelassen hin. Ich war elf Jahre alt, als er starb. Ich war traurig, freute mich aber, als ich sein Batterieradio bekam. Viel Freude hatte ich allerdings daran nicht. Für meinen Vater waren die Batterien viel zu teuer, und so stand das kleine Radio lange ungenutzt herum, bis es eines Tages verschwand.

Bedingt durch Krieg und Vertreibung lebten nur wenige Mitglieder der weiteren Familie in Süddeutschland. Ab und zu kam der Bruder meiner Mutter aus Österreich zu Besuch. Onkel Kurt hatte noch im Krieg eine Österreicherin geheiratet und ließ sich nach Kriegsende in der Nähe von Wien nieder. Selbst bei diesen Treffen im Haus der Großeltern, erzählte kaum jemand irgendwelche Geschichten aus der alten Zeit. Ab und zu machte meine Mutter eine Bemerkung über die Flucht. Offenbar wollte die aber keiner hören, denn es ging niemand darauf ein. Das Erreichte wurde in den Vordergrund gestellt. Es näherten sich die Jahre des Wirtschaftswunders.

Erst in ihrem achtzigsten Lebensjahr unternahm meine Mutter eine Reise in ihre Heimatstadt Stettin. Was erwartete sie? Sie war mit der falschen Hoffnung gekommen, ihre Heimatstadt im alten Zustand wiederzusehen. Aber das alte Stettin existierte längst nicht mehr. Sie selbst hatte berichtet, dass die Stadt schon kaputt war, als sie flohen. Menschen, die Stettin in der Zwischenzeit besucht hatten, hatten sie vor falschen Vorstellungen gewarnt. Sie kam enttäuscht und innerlich zerbrochen zurück.

Immer wieder lese ich heute Bücher oder höre Geschichten von Ostpreußen, diesem „weiten Land“ voller Mysterien. Es ist eine Landschaft aus Wäldern, Seen und Meeresküste, mit besonderen Menschen, die dort lebten. Auf einer meiner Dienstreisen nach Allenstein sah ich einen winzigen, viel zu kleinen Ausschnitt davon. In einem Januar fuhr ich von Warschau aus mit dem Zug und klebte am Fenster wie ein kleiner Junge. Der Anblick der Landschaft ließ die wenigen Erzählungen wieder aufleben. In der Poliklinik von Allenstein sprach mich eine Krankenschwester an, auf ostpreußisch. Bevor wir richtig ins Gespräch kamen, erschien der Professor, und sie verschwand in einem der zahlreichen Gänge des Krankenhauses. Warum habe ich die Gegend nie selbst erkundet?

Erst spät wurde mir die Geschichte der Flüchtlinge klar. Durch Film und Fernsehen und über die Familie meiner Lebenspartnerin bekam ich mehr Verständnis für das, was damals passierte. In der Schule wurde dieses Thema zu meiner Zeit nicht angesprochen. Behandelt wurde in Geschichte und Politik der Zweite Weltkrieg. Die Deutschen hatten ihn begonnen, und zur Strafe hatten sie Teile ihres Landes abgeben müssen. Thema war natürlich auch die Schreckensherrschaft des Hitlerregimes. Aber nie zur Sprache kam, wie viele Menschen im Zuge dieses Krieges ihre Heimat verloren hatten: Deutsche, Russen, Polen.

Und wir als Kinder? Schon auf dem Spielplatz gab es Kinder von Eltern aus Freiburg, Ostpreußen, Pommern oder Schlesien. Keiner von uns fragte danach. Das war uns egal – wir haben das gar nicht weiter bemerkt. Wir spielten, lachten, machten unsere Streiche miteinander. Nur manchmal fiel mir auf, dass manche Eltern den einen oder anderen Dialekt sprachen. Die Flüchtlingskinder sprachen hochdeutsch, die Kinder der Einheimischen taten sich schwerer damit. Wie das Leben so spielt, hatten die Flüchtlingskinder plötzlich einen Vorteil. Erst viele Jahre später wurde mir das Alemannische als Dialekt bewusst. Auf der Schule musste hochdeutsch gesprochen werden. Nur wenige Lehrer hatten einen süddeutschen Dialekt. Im Deutschunterricht wurden badische Worte nicht akzeptiert. Nur ab und zu, meistens zu Weihnachten, las der Klassenlehrer eine Geschichte auf Badisch vor.

Wie die Nummer 5 zum Halten kam

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