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Winterkind

Mutter war kein Freund der Winterzeit. Sie liebte den Sommer, das Meer, den Strand, die Blumen. Die meisten Fotoaufnahmen mit ihr und ihren Freundinnen sind an den Stränden der Ostsee entstanden: Badefreuden der jungen Damen, sich sonnen in den Dünen. Wenn sie vom Winter in der Heimat sprach, kamen in ihren Erinnerungen nur Kälte, Schnee und Matsch vor. Die Sommer dagegen waren erfüllt von Wärme, sonnigen Stunden am Strand und Wanderungen entlang der Oder. Der Krieg hatte sie zuerst nach Dänemark und dann in den äußersten Südwesten Deutschlands vertrieben. Dass sie in die Berge ziehen und mit Erich zusammenleben würde, hatte sie nicht geplant. Aber von systematischer Planung direkt nach dem Krieg konnten die wenigsten sprechen. Sie hatte im April 1951 den Soldaten Erich Trostmann eher aus Panik als aus Liebe oder Überlegung geheiratet und war mit ihm in den tiefsten Schwarzwald nach Todtnauberg gezogen. Viel Auswahl an Männern gab es damals nicht. Er hatte sich in Russland einmal Skier angeschnallt. Nun wollte er das Skifahren auch hier im Schwarzwald ausprobieren und fuhr todesmutig die Hänge hinunter. Da er sich keine Knochen brach, musste seine Frau ihm folgen. Sie fiel alle paar Meter hin; sie hasste das Skifahren und den Winter. Der Winter kann im Schwarzwald lange dauern.

Es kam die Hochzeitsnacht, und sie wollte schwanger werden. In ihrer ersten Ehe hatte das nicht geklappt. Jetzt mit 38 Jahren war die letzte Gelegenheit gekommen. Schon wieder so etwas wie Panik. Und so wuchs ihr Bauch, und mein Vater ließ sie arbeiten. Schwere Eimer mit Wasser tragen? Er war der Herr im Hause und tat so etwas nicht, nie. Zu allem Überfluss kam Uwe dann mitten im Winter zur Welt, im Januar 1952. Es lagen zweieinhalb Meter Schnee, der Bus zum im Tal gelegenen Krankenhaus fuhr nicht, ein Nachbar musste aushelfen. Die Erholungsphase nach der Geburt dauerte lange. Für Mutter war es ein Lichtblick, als die Familie schon ein Jahr später nach Freiburg ziehen konnte.

Ich aber war ein Winterkind und liebte den Schnee. Erst fuhr ich Schlitten, so oft es nur ging, und später Ski. Als wir etwas älter waren, setzten wir uns in die Straßenbahn und fuhren im Winter zum Schlittenfahren nach Günterstal, einen Stadtteil am Rande des Schwarzwalds. Mit acht Jahren bekam ich die ersten Skier. Vater meinte, dass ich jetzt Skifahren lernen sollte. Als Soldat war er schon im Krieg mit Skiern unterwegs gewesen. Jetzt versuchte er sich als Skilehrer, hatte aber, wie üblich, keine Geduld und scheiterte. Ich lernte das Skifahren unter seiner Anleitung nicht. Er war zu ungeduldig und hatte auch kein Talent, etwas richtig vorzuführen. Er gab die Sache glücklicherweise auf und mottete seine Skier für immer ein. Ich lernte das Skifahren viel besser ohne ihn. Mit Pit und dessen Bruder Michael ging es mit der Schauinslandbahn auf den Berg. Wir hatten unser Taschengeld dafür zusammengekratzt. Geld für den Skilift hatten wir nicht und mussten deshalb den Skihügel auf dem Schauinsland immer wieder hochlaufen. Meine Skikleidung aus Wollsachen war bald durch und durch nass: innen vom Schwitzen und außen vom ständigen Hinfallen in den Schnee. Es hat mich wenig gestört. Erst wenn ich müde wurde, spürte ich die Kälte. Ab und zu leisteten wir uns auch den Lift. Unser Vesperbrot hatten wir dabei, wir verzehrten es auf der Piste. Abends fuhren wir todmüde die Horbener Hänge hinunter zurück nach Günterstal. Die Straßenbahn brachte uns wieder nach Hause. Im Winter gab es damals noch viel Schnee, und stetes Üben mit den Skiern machte den Meister.

Von da an war ich im Winter ständig mit Freunden unterwegs. Wir hatten uns die Schwünge erst auf kleinen Hügeln, anschließend auf Abhängen und später in den Bergen selber beigebracht. Die Ferien erlebten wir in Jugendherbergen im Schwarzwald. Wir lernten Jugendliche aus anderen Teilen Deutschlands kennen und näherten uns auch mal den Mädchen. Der Führerschein und ein von Pits Vater geliehenes Auto erleichterte uns die Anfahrt. Doch auch mit meinem 2CV ging es zum Skifahren. Wurde es zu kalt, so musste man kurbeln, um den Startvorgang zu unterstützen. An einem eiskalten 31. Dezember, spät nachmittags, verweigerte der Motor meines 2CVs den Dienst. Auch energisches Kurbeln nützte nichts mehr. Der Motor sprang nicht an. Pits Vater kam uns zur Hilfe. Er fuhr auf den Schauinsland, schleppte uns bis zum Pass ab, und von dort rollten wir die Rennstrecke hinunter, immer voraus, im Scheinwerferlicht des Helfers. Gleichzeitig sicherte der uns gegen von hinten kommende Verkehrsteilnehmer. Die Batterie meines 2CV war komplett leer. Wir huschten als dunkles Geisterauto durch den Wald. Tage später bei unserer Tankstelle lernte ich, wie man den 2CV an sehr kalten Tagen mithilfe von Äther starten kann. Hätten wir nur das früher gewusst.

Die Skiakrobatik schwappte gerade über den Atlantik. Wir fanden das toll und versuchten uns auch mit Backscratchern, Duffys, Helikoptern, Twistern und diversen Sprüngen. Nur wenige hatten es in dieser Disziplin wirklich drauf. Aber unsere Versuche müssen jedenfalls für Zuschauer interessant gewesen sein. Oft hatten wir Publikum, wenn wir im Schnee herumflogen. Die wenigsten standen noch auf ihren Skiern nach den Übungen. Gefilmt haben wir das auch mit einer Super-8-Kamera. Die Filme führten zumindest bei den Zuschauern zu heftigem Lachen. Mehrere Jahre hintereinander fuhren wir, Pit, Michael, Jürgen, Siggi und manchmal noch andere, in die Berge, meist in die französischen Alpen. Der Ort sollte möglichst hoch gelegen und schneesicher sein. Wir nisteten uns in einem dieser damals supermodernen Resorts wie Lac de Tignes, Trois Vallées oder La Plagne ein und waren nur noch auf der Piste. Die hässlichen Hochhäuser auf 2000 und mehr Meter Höhe störten uns überhaupt nicht. Für uns war das Skifahren das Ein und Alles. Je mehr Teilnehmer wir waren, desto billiger wurde die Unterkunft. Und so hausten wir auf engstem Raum irgendwo im zehnten Stockwerk und hofften, dass nicht ein Schneesturm uns den nächsten Tag verderben würde. Streit gab es nie. Wir hatten während der Jahre die Marotten jedes Einzelnen akzeptieren gelernt. Während wir tagsüber die Pistenkilometer zählten, angedeutete Skiakrobatik und Sprünge für den Kameramann Jürgen ausführten, lauschten wir am Abend bei mehreren Flaschen Bier den Wohn- und Einrichtungsgedanken des angehenden Innenarchitekten Mike oder den netten lateinischen Sprüchen von Siggi. Ansonsten verkürzten wir uns die Zeit bis zum Schlafengehen mit Karten- und Brettspielen.

Unsere Gruppe löste sich auf. Jeder ging in Beruf und Partnerschaft auf. Aber der Winter blieb noch lange eine schöne Jahreszeit für mich. Meine Ehefrau Renate wurde auch zu einer passionierten Skifahrerin, und so lag es nahe, dass wir jeden Winter in die Skiferien fuhren und die Kinder in einen Skikindergarten gingen oder Skikurse besuchten. Obwohl er ein guter Skifahrer ist, höre ich meinen Sohn noch heute sagen: „Wir mussten immer in den Skikurs.“ Es klingt wie eine Beschwerde. Beinahe zehn Jahre lang fuhren wir in den Fastnachtsferien nach Flims in der Schweiz. Wir mieteten immer die gleiche Wohnung. Das Skigebiet war groß und bot uns alles, was wir für einen schönen Skiurlaub benötigten.

Aber irgendwann begann sich das zu ändern. Vielleicht lag es am zunehmenden Alter? Noch immer bin ich gerne auf der Piste und liebe den Anblick von Schnee. Der wurde allerdings im Tal immer seltener, und die Wintertage brachten mehr Regen als Frost. Der langsame Abschied begann mit der Trennung von Renate. Mit dem Unterhalt für meine Kinder und gleichzeitig einer neuen Beziehung waren für mich die Ausgaben zu hoch geworden. Spätere Versuche, einen Winterurlaub zu erleben, endeten bereits nach drei Tagen. Mir reicht es inzwischen, bei schönem Wetter für ein paar Stunden auf eine Piste im Schwarzwald zu gehen und meine Schwünge im Schnee zu machen. Meine Lebenspartnerin Karin überzeugte mich, dass wir für das Geld, das eine Woche Skiurlaub kostet, auch drei Wochen in Thailand verbringen könnten. Karin kommt aus der Finanzbranche.

Ich fühle mich jetzt in wärmeren Gegenden wohler. Ein einziger Ausflug nach Thailand im Februar brachte die Wendung. Seit dieser Zeit wärme ich meine Knochen ein paar Wochen im Winter auf und erwarte den Frühling sehnlichst am Kaminfeuer. Ich glaube, ich bin kein Winterkind mehr.

Wie die Nummer 5 zum Halten kam

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