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Unsere Wohnung – meine Familie

Unsere Wohnungen waren klein und eng. Sie durften nicht viel kosten, aber sie waren trocken und warm. Das war nach all den Jahren im Krieg und den provisorischen Verhältnissen danach schon eine Art Wohlstand. Anderthalb Zimmer hatten wir zunächst, später zwei kleine Räume. Meine Eltern stellten das Wohnzimmer mit dunklen Möbelstücken zu. Gelsenkirchener Barock wurde dieser Stil später genannt. Es war etwas vorhanden, und sie waren stolz darauf.

Ich schlief die ersten Jahre auf einer hellgrünen Ausklappcouch im Schlafzimmer, später im Wohnzimmer. Vater hatte bestimmt, dass ich mit Beginn meiner Schulzeit einen eigenen Raum zum Schlafen haben sollte. Jeden Abend musste erst der Wohnzimmertisch verschoben werden, dann die Bettsachen aus dem Schlafzimmer geholt und die Couch aufgeklappt werden. Mehrmals hatte ich mir die Finger bei dem Versuch eingeklemmt, die Couch selber auf- oder zuzuklappen. Damit hatte ich zumindest nachts ein eigenes Zimmer und hatte das Wohnzimmer ab acht Uhr abends für mich allein. Die Eltern saßen am Küchentisch. Aber es war und blieb das Wohnzimmer. Später haben sie sich den ersten Fernseher angeschafft und ihn ins Wohnzimmer gestellt. Das Richten des Bettes verschob sich nun auf die Zeit nach der Tagesschau. Am Wochenende schauten wir gemeinsam eine Sendung; in den allermeisten Fällen waren das irgendwelche Shows mit Rateeinlage. Lou van Bourg und Hans-Joachim Kulenkampff waren nur einige der damaligen Showmaster, die unseren Abend bereicherten. Hatte Vater gute Laune, was selten der Fall war, holte er eine Flasche Wein aus dem Keller, und Mutter stellte ein paar Knabbersachen auf den Wohnzimmertisch. Ich kann mich allerdings nur an kleine Salzbrezeln erinnern. So saßen wir vor dem Fernseher und bangten mit den Kandidaten. Meine Mutter machte Bemerkungen über Kleider und die Schminke, Vater amüsierte sich über die „Blödheit mancher Kandidaten“.

„Du hättest das auch nicht gewusst“, behauptete Mutter. Sie wollte Vater bewusst ärgern. Der reagierte auch sofort auf seine Art:

„Halt doch deinen Mund!“ Damit war ihre Konversation erst einmal vorbei. Zum Ende der Sendung blies er den Zapfenstreich.

„Der Uwe muss jetzt schlafen gehen.“ Meine Mutter wäre noch gerne auf ihrem Stuhl sitzen geblieben. Aber sie hatte keine Wahl.

Später interessierten mich die Fernsehshows nicht mehr, und ich verzog mich mit meinen Abenteuerromanen an den Küchentisch. Erst die alten Filme von Charlie Chaplin oder Bonanza im Nachmittagsprogramm zogen mich wieder vor den Fernseher. Zu der Uhrzeit hatte ich ihn für mich alleine, ohne Kommentare von den Eltern.

Freunde der Eltern gab es nicht. Vater hatte keine Freunde, Mutter durfte keine haben. Bei uns gab es keine Einladungen, keine großen Feste, überhaupt keine Feierlichkeiten, außer zu Weihnachten. Selten musste ich mein Bett anderen überlassen.

Kam ein seltener Übernachtungsbesuch, so wurde mein Bettzeug auf die Küchencouch verfrachtet. Das Wohnzimmersofa bekam der Besucher.

Zu Weihnachten wurde es noch enger in meinem Schlafgemach. Meist hatte Vater irgendwo günstig einen für das Wohnzimmer viel zu großen Weihnachtsbaum der Sorte Fichte besorgt. Jedes Jahr kam er die Haustreppe hinauf, zog diesen Baum hinter sich her und stellte ihn fluchend auf dem Balkon in einen Eimer mit Wasser. Zum 24. Dezember richtete er den Baum zum Aufstellen im Wohnzimmer. Oft hatten die Schwierigkeiten schon damit begonnen, dass alle vergessen hatten, den im Eimer eingefrorenen Baum in die Wohnung zu holen, was wegen seiner Länge ein Problem gewesen wäre. Daher hackte er mit viel Getöse den Stamm aus dem Eimer. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ein Baum einmal nicht gekürzt werden musste. So stand dieses Nadelgewächs erst einmal mit abgeknickter Spitze im Raum, um nach fachgerechter Schreinerart abgemessen und anschließend zur Behandlung mit der Säge zurück auf den Balkon gezogen zu werden. Manches Mal sägte er weiter an ihm herum, weil der Baum entweder immer noch zu hoch für die Baumspitze war, die ihm aufgesetzt werden sollte, oder weil der Stamm zu dick für den Ständer war. Ohne Fluchen oder Gebrüll liefen diese Aktionen selten ab. Danach hatte Vater wieder einmal schlechte Laune. Mutters Aufgabe war es nun, Kerzen und Weihnachtsschmuck anzubringen und als Höhepunkt Lamettastreifen, die schon in den vielen Jahren zuvor ihre Dienste geleistet hatten. Manchmal sah ich, wie meine Mutter aus Sparsamkeitsgründen die Fäden mit einem Bügeleisen glatt presste. Alles, was zum Schmücken des Baumes gefunden wurde, hing anschließend an den Zweigen. Zu guter Letzt kamen die Kerzen an den Baum. Mutter hatte sie kunstvoll aufrecht befestigt, doch am Abend hingen sie oft schlapp nach unten. Vater maulte, befestigte sie neu.

In der Zwischenzeit bis zur Bescherung widmete sich Mutter dem Weihnachtsessen. In manchen Jahren wurde Tage vorher ein Karpfen gekauft, in unsere Badewanne gesetzt, dort mit Fischfutter versorgt bis zum 24. und anschließend geschlachtet. Frische Luft im Badezimmer war für Vater wichtig, und durch das offene Fenster kam auch der Frost hinein. Einmal waren Wasser und Karpfen am nächsten Morgen gefroren. Meine Mutter ließ heißes Wasser einlaufen, befreite den Karpfen und richtete ihn für den Kochtopf.

Am Abend durfte der Baum im Lichterglanz erstrahlen. Ich wurde ins Wohnzimmer gerufen, wo sich die Eltern richtig an ihren Geschenken für mich erfreuten. Beim Abspielen der obligatorischen Weihnachtslangspielplatte packte ich meine Geschenke aus. Die Eltern saßen in ihren Sesseln, neben sich ein Glas Wein, und zeigten das freundlichste Lächeln des Jahres. Für Vater war das genug an Freundlichkeit. In den meisten Fällen gefielen mir die Sachen tatsächlich. Mutter schleppte anschließend strahlend ihren neuen Mantel ins Zimmer, den sie sich in den letzten Tagen hatte kaufen dürfen. Vater packte seine Krawatte aus oder Socken, mit dem Kommentar:

„Was soll ich denn damit? Das habe ich doch schon.“ Dabei hatte sich Mutter viel Arbeit mit dem Aussuchen dieser Geschenke gemacht. Bei so viel Freude verzog ich mich oft in ein anderes Zimmer, um meine neuen Spielsachen oder Bücher genauer anzusehen. Um etwas 10 Uhr abends verließen meine Eltern das Wohnzimmer und machten sich für die Nacht bereit. Der letzte Kommentar von Vater war:

„Dann hätten wir Weihnachten auch hinter uns gebracht.“

Der größte Teil meiner Spielsachen befand sich in Regalen und Schubladen in der Küche. War der Küchentisch frei, habe ich ihn mit Bauwerken aus Holzklötzen vollgestellt. Auch Bagger und Lastwagen fuhren hier hin und her. Hier war ich versunken in meine Spielwelt. Da im Winter tagsüber meistens nur die Küche beheizt wurde, saß meine Mutter dabei und verrichtete ihre Arbeit.

Die Küche war mit einem Kohleofen ausgestattet, das Anheizen war eine Spezialität von Vater. Er warf so viel Holz und Kohle hinein, bis die Oberfläche glühte. Mutter hatte jedes Mal Angst, dass die Wohnung abbrannte. Im Bad, wo es eine Badewanne gab, musste das Fenster immer offen sein, so hieß es, auch im Winter. Heißes Wasser kam aus einem Gasboiler, in der damaligen Zeit ein modernes Gerät für diese Wohnungen. Meine Mutter hat sich mehrmals beim Anzünden mit einem Streichholz die Finger verbrannt. An eine Heizung in diesem Raum kann ich mich nicht erinnern. Am Badetag diente der heiße Wasserdampf zur Erwärmung des Raumes. Jahre später wurde ein kleiner elektrischer Heizofen angeschafft. Allerdings durften zur selben Zeit keine anderen großen Stromverbraucher eingeschaltet sein. Die Stromsicherung hielt das nicht aus.

Die Winternächte in unseren Wohnungen waren kalt. Die Wände waren noch nicht gut isoliert, die Fensterscheiben hatten zwar schon ein Doppelglas, hielten aber die Kälte nicht besonders gut ab. Irgendwann in der Nacht ging die Glut im Ofen aus, und ich zog meine Bettdecke noch weiter über die Ohren. Morgens gab es dann ein besonderes Schauspiel an den Fenstern: Es hatten sich Eisblumen gebildet. Ging die Sonne auf, so schmolzen sie langsam vom Rand her weg. Ich hatte nicht nur meine Freude an den gleichmäßigen Strukturen dieser wunderschönen kalten Blumen, sondern ebenso daran, wie sie von den Sonnenstrahlen langsam aufgelöst wurden.

Der Balkon wurde nach den Eisheiligen mit Geranien bepflanzt, der Stolz meines Vaters. Sie wurden von ihm gehegt und gepflegt wie kein anderes Wesen im Haushalt. Im Herbst zurückgeschnitten, überwinterten sie jedes Jahr im Keller. Sie wurden viele Jahre alt.

Ich freute mich immer, wenn Großmutter oder Onkel Kurt zu Besuch kamen. Sie waren anders als meine Eltern, waren offener und hatten ein besseres Auftreten. Onkel Kurt lief nicht wie Vater grußlos an den Menschen vorbei, sondern kam mit dem einen oder anderen schnell ins Gespräch. Onkel Kurt hatte ein offenes Gesicht, oft mit einem Lächeln. Er gehörte, solange ich mich an ihn erinnern kann, nicht zu den schlanksten Menschen. Mit ihrer Haltung anderen Menschen gegenüber zeigten mir Onkel Kurt und Großmutter den Unterschied zu meinem Vater. Während sie bei uns waren, wurde normal gesprochen und gelacht. Es gab kein Gebrüll und keine Beleidigungen. Es kamen bessere Lebensmittel ins Haus: Kalbfleisch oder Steak, guter Käse oder Säfte. Keiner wollte ständig Zwetschgensaft aus dem eigenen Garten. Sie hatten Rotbäckchen-Saft mitgebracht, damit der Junge gesund blieb. Wir gingen zusammen zum Bäcker und kauften Brötchen oder Brot, das mir besonders gut schmeckte. Ich ging gerne mit in den Laden in der Hoffnung, dass auch etwas für mich heraussprang. Und meistens behielt ich recht. Wenn Großmutter kochte, schmeckte es nicht nur anders, sondern wirklich gut. Sie benutzte Kräuter und Sahne, was Fremdwörter in unserem Haushalt waren. Bevor sie ging, steckte sie mir immer eine Mark zu, damals viel Geld für mich. Mutter stopfte sie gleich ins Sparschwein. In Großmutters Gegenwart fühlte ich mich frei und musste nicht ständig Angst haben, gemaßregelt zu werden. Onkel Kurt stellte mir Fragen und zeigte mir damit, dass er mich ernst nahm. Er erzählte viel und konnte gut mit Fremden umgehen. Er sprach sie an, wenn er etwas wissen wollte. Vater wollte sich wichtigmachen, Onkel Kurt wollte lernen. Wenn Vater jemanden ansprach, kam in mir ein Gefühl von Peinlichkeit auf. Doch wenn Onkel Kurt so etwas tat, war ich richtig stolz.

„Nimm gefälligst ein Buch vor den Kopf“, sagte Vater energisch, wenn ich an einem verregneten Sonntag wieder einmal nur aus dem Fenster schaute oder mich sonst sichtlich langweilte. Um nicht weiteren Zorn auf mich zu ziehen, nahm ich ein Schulbuch und blickte ohne großes Interesse hinein. Meine Gedanken waren ganz weit weg. Eines Tages hatte meine Mutter ein Buch aus der Stadt mitgebracht. Es könnte „Robinson Crusoe“ gewesen sein, denn dies ist eines der ältesten Bücher, die sich immer noch in meiner Bücherkiste befinden. Die Langeweile brachte mich dazu, das Buch in die Hand zu nehmen. Ich legte mich aufs Sofa und begann zu lesen. Die Geschichte von Robinson Crusoe war dann spannend, so spannend, dass ich gleich neue Bücher haben wollte. Brunhilde, meine Nachbarin aus der Mädchenklasse, nahm mich mit in die Bücherei und half mir, einen Leihausweis zu bekommen. Als ich noch unschlüssig war, wo ich suchen sollte, zeigte mir die freundliche Bibliothekarin die für mich geeigneten Bücher. Wenn ich in einer falschen Reihe suchte, wurde ich sofort mit dem Kommentar weitergeleitet: „Die sind noch nichts für dich.“ Diese Bücher machten mich neugierig. Heimlich nahm ich doch das eine oder andere Buch und versteckte mich in der Leseecke. Sie waren aber wirklich noch nichts für mich. Die langweiligen Sätze zwangen mich schnell, diese Bücher wieder zurück an ihren Platz zu stellen. Ich kam von jetzt an immer wieder mit einem Stapel neuer Bücher nach Hause. Ich wünschte mir viele verregnete Sonntage. Doch wenn man sie braucht, kommen sie nicht. Nichtsdestotrotz eroberte ich mir von nun an meine Lesezeit im Garten oder auf Ausflügen.

Nach Robinson Crusoe kamen die Schatzinsel, Klaus Störtebeker und selbstverständlich Karl May. Es waren Abenteuerromane, die mich interessierten. Während noch bei Robinson Crusoe die Handlung für mich im Vordergrund stand, identifizierte ich mich bei Karl-May mit den Helden. Aber irgendwann wurden Winnetou und Old Shatterhand langweilig und ich fand die orientalischen Geschichten um den Verbrecher Schut bald spannender.

Danach kamen Bücher, die mich noch mehr fesselten: die Entdeckung des Innersten der Kontinente Afrika und Amerika. Der Blaue und der Weiße Nil, der Amazonas und der Orinoco. Die Beschreibungen der Entdeckungsreisen und die Abenteuer von David Livingstone und anderen. Ich war fasziniert. Diese Reisen lagen mehr als hundert Jahre zurück, und die meisten Orte auf der Welt waren jetzt bekannt. Ich aber wollte viele dieser Länder sehen. Ich wollte reisen. Das war schon damals mein Entschluss. Mutter bekam mich nicht mehr vom Sofa.

Wie die Nummer 5 zum Halten kam

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