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Kapitel 2

Lea Aust

Während Benno seinen Cappuccino trank, betrat die kleine blonde Frau, Lea Aust, die oberste Etage und ging in das Stationszimmer. Sie holte ihren Kittel aus dem mitgebrachten Köfferchen und dachte kurz an den Mann von eben. Der war ja mal echt nett gewesen. Und wie der sie angesehen hatte… Das war ihr schon lange nicht mehr passiert. Lea verdrängte den Gedanken, als Schwester Beate ins Zimmer kam. „Hallo Lea“, grüßte sie. „Du strahlst ja so. Ist etwas passiert?“

Lea lächelte sinnlich. „Nee, leider nicht. Das heißt, mir ist ein sympathischer Mann in die Arme gelaufen. Groß, schwer und nett aussehend, irgendwie charismatisch.“

„Die Netten sind immer vergeben oder schwul“, zerstörte Beate ihren Tagtraum. „Schließlich möchte jede von uns einen netten Kerl. Und deshalb gibt es nicht genug von ihnen. Zu wenig nette Männer für so viele unglückliche Frauen.“

Lea stimmte ihr zu. „Ja, das ist wohl unser Schicksal. Entweder sind sie verheiratet oder haben eine Macke oder verhalten sich wie Paschas.“ Sie zuckte die Achseln. „Was soll´s. Abgehakt. Wahrscheinlich ist er ein verheirateter Pascha mit einer oder sogar mehreren Macken.“ Sie öffnete ihr mitgebrachtes Köfferchen und kontrollierte, ob sie ihre Scheren, Kämme und das Rasierzeug dabei hatte.

Beate machte eine abfällige Handbewegung. „Du meine Güte, wenn ich da an meine letzte Eroberung denke. Der hat ohne Navi nicht mal den Weg zum Kühlschrank gefunden. Und das Wort ‚Saubermachen‘ war ein Fremdwort für diesen Stehendpinkler. Im Bett wollte er immer nur an meinen Zehen lutschen.

Speziell am großen Onkel.“

„Nee, oder? Du veräppelst mich“, fragte Lea.

„Keineswegs“, antwortete Beate. „Immer nur Zehen lutschen. Das brachte seinen Schniedel so richtig in Stimmung und sein Blut in Wallung.“

Lea lachte. „Oh Gott, dann lieber ohne Kerl leben. So, wem von den Senioren soll ich denn heute die Haare schneiden?“

Beate sagte es ihr.

Lea hatte sich zwei Etagen nach unten gearbeitet und schnitt gerade Vincent Bartholdi die Haare, der das gleichmütig über sich ergehen ließ und angefangen hatte, eine nette kleine Melodie zu summen. Bereits beim Rasieren des dementen Patienten waren ihre Gedanken ständig in die Vergangenheit gewandert. Wie wäre ihr Leben wohl verlaufen, wenn es nicht diesen einen Tag in ihrem jungen Leben gegeben hätte? Sofort bauten sich gewaltige Bilder und Stimmungen in ihrem Kopf auf, als hätten die Erinnerungen in einer Schublade geruht, die sie lange nicht mehr geöffnet hatte, um nun umso heftiger wieder in der Vordergrund zu streben.


Sie kamen zu zweit. Ein Mann mit schulterlangen, fettigen Haaren und eine Frau mit roter Brille und biederem Rock und Jacke. Es war ein nebliger Morgen im Herbst zweiundachtzig. Kurz nach acht Uhr klingelten sie an der Tür. Lea war gerade dabei den drei Monate alten Jasper zu wickeln. Seine Schwester, Lisa Marie, quengelte, weil sie in den Kindergarten wollte. Sie stand schon an der Treppe mitsamt ihrer Lieblingspuppe unter dem Arm. Den kleinen Rucksack hatte sie auch schon übergestreift. „Trudi kommt ja gleich, Schatz“, rief Lea aus dem Badezimmer, als es auch schon klingelte.

„Ich mache schon auf, Mama“, rief Lisa Marie und stapfte langsam die Stufen hinunter. Trudi, die Mama von Henning, hatte diese Woche Fahrdienst und sammelte noch zwei weitere Kinder ein. „Okay“, rief Lea. „Sag Trudi, dass sie den blauen Anorak für dich mitnehmen soll. Und dein Pausenbrot nicht vergessen.“

„Ja, sag ich und mach ich.“ Sie öffnete die Haustür und sah in zwei fremde Gesichter.

„Hallo“, grüßte die Frau mit ernstem Gesicht. „Rufst du bitte mal deine Mama?“

Lisa Marie war enttäuscht, dass es nicht Trudi war. Die Frau versuchte ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern, was ihr allerdings missglückte. Der Mann starrte Lisa Marie nur schweigsam an.

Lisa Marie rief nach ihrer Mama. Als sie, den Säugling im Arm, die Tür wieder schloss, war ihre Welt nur noch ein Scherbenhaufen.

Der Geisterfahrer, ein alter Mann, hatte die Gewalt über seinen Wagen verloren, als eine Niesattacke ihn heimsuchte. Er verriss das Lenkrad und steuerte seinen Wagen auf die Gegenfahrbahn. Gerhard, Leas Mann, starb noch an der Unfallstelle, keine fünf Minuten von zu Hause entfernt.


Vincent Bartholdi unterbrach sein Summen als Lea seinen Nacken ausbürstete und sagte mit völlig klarer Stimme: “Du musst ihm helfen, kleine Frau. Du musst zusammen mit dem Meerjungen unseren Familien helfen.“

Lea war verwirrt. Die Stimme des Alten klang völlig klar, so, als wäre er nie auf den imaginären Straßen seiner Erinnerungen herum geirrt. „Was für einen Meerjungen?“, fragte sie freundlich und nahm seine alten Hände in die ihren.

Vincent Bartholdi schüttelte den Kopf. „Lehrjungen, meine ich. Benno, meinen Auszubildenden. Stift haben wir die Lehrlinge früher genannt.“

Er gab ein feuchtes Lachen von sich, das in einem Hustenanfall endete. Lea klopfte ihm auf den Rücken und tupfte mit einem Papiertuch seinen Mund ab.

„Ich weiß nicht, was Sie meinen, Herr Bartholdi“, sagte sie. „Ich kenne keinen Benno. Wie kann ich ihm da helfen?“

Er drückte kurz ihre Hände und sah sie fragend an. „Er wird dir sagen, was du tun musst“, flüsterte er und schloss die Augen. Gleich darauf war er eingeschlafen.

Keine Ahnung, was er meinte, dachte sie, packte den Umhang und die anderen Utensilien in ihr Köfferchen und gab der Stationsschwester Bescheid, dass Herr Bartholdi schlief und sie für heute fertig war.


Zehn Jahre nach dem tödlichen Unfall heiratete Lea ein zweites Mal. Bis dahin hatte sie ihre beiden Kinder mehr schlecht als recht durchs Leben gebracht. Finanziell kam sie gerade so über die Runden. Mit den Halbwaisenrenten ihrer Kinder und ihrem Halbtagsjob als Friseurin waren Luxuskleidung und Ferien am Mittelmeer oder wieder einen neuen Computer oder Spielekonsole einfach nicht drin, da konnte ihre pubertierende Dreizehnjährige noch so rummaulen. Lisa Marie fand es total assi, mit einem fünf Jahre alten Computer zu arbeiten, wollte aber auch keine Zeitungen austragen oder während der Weinlese helfen, um ihre finanzielle Lage aufzubessern. Lea versuchte, wieder in ihrem gelernten Beruf als Maskenbildnerin Fuß zu fassen, doch niemand gab der alleinerziehenden Mutter eine Chance.

Auf dem jährlich stattfindenden Offenburger Weinfest lernte sie Paul Aust kennen. Er war großgewachsen, mit schütterem Haar und mit einem umwerfenden Lächeln ausgestattet.

Nach einigen Gläsern Wein fanden sie sich gegenseitig sympathisch und verabredeten sich in den nächsten Wochen immer öfter. Die Kinder fanden ihn cool, weil der Informatiker sich gut mit Computern auskannte und ihre Mutter wieder zum Lachen brachte.

In den ersten Jahren funktionierte ihre Ehe sehr harmonisch, auch wenn der Funke der Begehrlichkeit immer seltener übersprang. Paul wurde zum Abteilungsleiter befördert, war für ein Dutzend Mitarbeiter verantwortlich und verdiente einen Haufen Geld. Mit der Beförderung fing alles an. Sie kauften sich ein Reihenhaus in Ortenberg, mit Sicht auf die Weinberge, das Lea und die Kinder nahezu allein einrichteten, da Paul immer unregelmäßiger nach Hause kam. Manchmal saß er bis Mitternacht über einem EDV-Problem, ging dann anschließend in einen Club und entspannte sich bei Poker, Black Jack und Alkohol. Je öfter Paul beim Spiel gewann, desto größer waren die psychischen Hochphasen. Lea störte es dennoch, dass er sich nur noch sporadisch um seine Familie, seine Arbeit und das Haus kümmerte. Dafür hatte sie nicht geheiratet. Bevor er am nächsten Tag das Haus verließ, versuchte sie, ihm ins Gewissen zu reden.

„Was willst du denn“, polterte er los. „Wer bringt denn die meiste Kohle nach Hause? Bestimmt nicht du, mit deiner Halbtagsstelle.“

„Darum geht es doch gar nicht, Paul.“ Ihr traten die Tränen in die Augen. „Wann haben wir das letzte Mal etwas gemeinsam unternommen? Wann waren wir das letzte Mal tanzen oder im Kino? Weißt du noch, wann du mich das letzte Mal umarmt, geschweige denn mit mir geschlafen hast?“

Paul schwieg nachdenklich. Dann umarmte er sie spontan. „He, Lea, ich liebe dich doch. Ich mache das doch auch für uns. Wir brauchen das Geld.“

Sie löste sich aus seiner Umarmung und trat einen Schritt zurück. „Geld, Geld, Geld! Das ist nicht alles im Leben, Paul. Wir kämen auch mit weniger Geld aus. Und was ist, wenn du verlierst?“

Paul schüttelte den Kopf. „Das wird nicht passieren. Ich habe da so ein System…“

Die nächsten Monate kam Paul immer öfter erst in den frühen Morgenstunden nach Hause.

Er roch nach Rauch und billigem Fusel, war schlecht gelaunt, mürrisch und wortkarg. Seine Körperhygiene war ihm nicht mehr wichtig. Er roch unangenehm nach Schweiß. Seine Begeisterung für seine Arbeit ließ derart nach, dass er sich immer öfter krank meldete. Lea wurde immer verzweifelter, doch Paul zeigte sich uneinsichtig. „Das Glück wird wiederkommen“, sagte er. „Ich fühle das.“ Abends lag sie im Bett und ihre Tränen versickerten in den Tiefen ihres Kopfkissens.


Sie klappte wie ein Taschenmesser zusammen, als seine Faust ihr unvermittelt in den Magen schlug. Sie japste nach Luft, ging in die Knie und versuchte verzweifelt, Sauerstoff in ihre Lungen zu bekommen. Schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen. Der nächste Schlag traf sie direkt unter dem linken Jochbein. Sie fiel nach hinten und die erlösende Dunkelheit nahm ihr nicht nur die Schmerzen sondern auch ihre Überraschung, als sie in sein wütendes Gesicht blickte. Doch ihre Ohnmacht dauerte nur wenige Sekunden. Er riss sie an den Haaren in die Höhe, sodass sie erneut aufschrie. „Los, unterschreib das hier, du blöde Kuh“, presste er zwischen den Lippen hervor. Speichel traf ihr Gesicht.

Er war kaum wiederzuerkennen. Sein Gesicht glich einer wutverzerrten Maske. Das war nicht der Mann, den sie geheiratet hatte. Sie dankte Gott, dass ihre Kinder nicht im Haus waren. Wieder hielt er ihr die Papiere vors Gesicht und einen Moment lang konnte sie erkennen, was es mit den Papieren auf sich hatte. „Kreditvertrag“ lautete die Überschrift.

Ihr linkes Auge begann sich zu schließen. „Paul, was machst du?“, schluchzte sie. „Ich will das nicht unterschreiben. Das können wir unmöglich zurückzahlen.“

Wütend knallte er ihren Kopf gegen den Küchenschrank und ihre Welt wurde erneut dunkel. Als sie wieder zu sich kam, blickte sie verstört um sich. Was machte sie hier in der Küche auf dem Fußboden und warum konnte sie ihr linkes Auge nicht öffnen? Nur langsam dämmerte ihr, was gerade passiert war. Sie rief nach Paul, bekam aber keine Antwort. Er war fort. Sie richtete sich auf und sah aus dem rechten Augenwinkel etwas Längliches unter dem Esstisch liegen. Pauls Kugelschreiber.


Lea riss sich von ihren Gedanken los und ging Richtung Ausgang. Sie überlegte kurz, ob sie in der Cafeteria noch einen Kaffee trinken sollte, entschied sich aber anders, als sie an ihr spärliches Barvermögen dachte. Mit dem bisschen musste sie bis Monatsende auskommen.

Herbstgesummse

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