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ОглавлениеKapitel 4
Professor Doktor Kurt Martin
Professor Doktor Kurt Martin stellte sich wiederholt die Frage, was sein Leben eigentlich noch lebenswert machte. Nachdem er in den Ruhestand getreten war, fühlte er sich nicht mehr gebraucht; nutzlos, überflüssig, ungeliebt. Sein Tagesablauf schien ihm ereignislos. Außer Autowaschen, Gartenarbeit und gelegentlich ein Schwätzchen am Gartenzaun mit dem Nachbarn, der allerdings jetzt im Altersheim lebte, oder eine gemeinsame Tasse Tee mit seiner Reinemachefrau, gab es wenig Sinnvolles, was er dem Tag abgewinnen konnte. Manchmal spielte er noch ein wenig Klavier, brach zumeist nach kurzer Zeit wieder ab, weil die Erinnerung ihm Tränen in die Augen steigen ließ.
Gelegentlich telefonierte er noch mit dem einen oder anderen Arztkollegen, aber die Gespräche wurden immer kürzer, da die meisten Ärzte, mit denen er gearbeitet hatte, noch aktiv waren und unter Dauerstress standen. Oftmals bat der Professor um Rückruf – was jedoch immer öfter unbeantwortet blieb.
Nachdem er heute Vormittag seinen ehemaligen Nachbarn im Altersheim besucht und anschließend seine Tageszeitung studiert hatte, dachte er kurz an den großgewachsenen Mann mit dem graumelierten Vollbart, dem er im Café kurz zugenickt hatte. Er hatte sympathisch gewirkt und war ihm irgendwie bekannt vorgekommen. Aber er konnte sich nicht erinnern, wo er ihn schon einmal gesehen hatte. Vielleicht war er einer der zahllosen Patienten, die er operiert hatte oder auch nur ein Besucher der Klinik gewesen. Egal.
Die anderen beiden Frauen, wahrscheinlich Mutter und Tochter, wobei die Mutter flott mit ihrem Rollator unterwegs war, tuschelten miteinander, um anschließend herzhaft zu lachen.
Die rothaarige Tochter hatte ihn einige Male gemustert, wie er aus den Augenwinkeln beobachtet hatte. Doch er hatte nicht reagiert.
Nun saß er auf seiner Terrasse, trank einen Kaffee und besah sich seinen großen Garten. Der Sommertag war herrlich gewesen, nicht zu heiß und nicht zu kalt. Angenehme sechsundzwanzig Grad. Am Ende seines Gartens blühte eine phantastisch anzusehende Gebirgswiese mit vielerlei bunten Blumen. Bienen summten um die Blütenkelche herum. Ein Blaumeisen Pärchen sammelte eifrig Insekten für ihre Jungen, die im Kiwi-Strauch lautstark um die, sich im Schnabel ihrer Eltern befindlichen, Krabbeltiere bettelten. Der Feigenbaum direkt vor seiner Terrasse trug unzählige Früchte, die allerdings jetzt noch zu unreif waren. Er dachte daran, wie schön und mild es hier in der Ortenau war. Die Toskana Deutschlands. Das Wetter im Schwarzwald war meist einige Grad wärmer als im übrigen Deutschland. Grüne, hügelige Landschaften, bewachsen mit Reben, soweit das Auge reichte; in der Ferne dichte Wälder; von der Sonne verwöhnt. Hier wuchsen Bäume und Sträucher, die es sonst nur in mediterranen Klimazonen gab.
Der Professor öffnete den Brief seiner Bank, und obwohl er wusste, wie der Inhalt lautete, tat er sich schwer, mit der Wahrheit umzugehen. Der Kontoausdruck schien ihn höhnisch anzulächeln. Er war so gut wie mittellos. Natürlich hatte er seine Pension und konnte auch gut davon leben, aber seine Ersparnisse im oberen sechsstelligen Bereich waren futsch.
Er war drei Jahre nach Kriegsende in Osterode am Harz zur Welt gekommen. Sein Vater, Lehrer am Gymnasium, war nach kurzer Kriegsgefangenschaft wieder ins Lehramt zurückgekehrt. Seine Mutter, eine ehemalige Musiklehrerin, versorgte Kind, Mann und Haus und brachte ihm das Klavierspielen bei. Kurt durchlief die Schule wie für ihn geplant, erreichte achtbare Noten und bildete mit dreien seiner Mitschüler ein literarisches Quartett. Mit Ingrid aus seiner Klasse ging er zum Abiball, tanzte, lachte und flirtete die halbe Nacht und verlor anschließend im Schrebergartenhäuschen von Ingrids Eltern seine Unschuld. Das war das erste und einzige Mal, dass er mit einer Frau schlief. Er gestand sich ein, dass Männer ihn sexuell mehr anzogen.
Sich zu outen, kam in der damaligen Zeit überhaupt nicht infrage. Sein Medizinstudium in Göttingen hätte er sonst an den Nagel hängen können. Auch seinen Eltern und seinen Freunden konnte er sich nicht anvertrauen. Kurt promovierte in Hamburg und spezialisierte sich auf die Angiologie. In der Behandlung von erkrankten Venen und besonders bei arteriellen Durchblutungsstörungen machte er sich im Laufe der Jahre einen länderübergreifenden Namen, war ein Koryphäe auf diesem Gebiet. Auf einer Tagung in Karlsruhe lernte er Joachim kennen. Er arbeitete im Außendienst einer Arzneimittelfirma, vertrieb Stents, die zur Beseitigung von Aneurysmen dienten. Jo, wie er ihn zärtlich nannte, wurde seine große Liebe. Mittlerweile hatte Kurt habilitiert und eine Professur ergattert, was ihn aber nicht daran hinderte, von Hamburg nach Offenburg zu ziehen, denn Joachim wollte in der Ortenau, in Zell-Weierbach, bleiben, da seine Eltern hier lebten.
Die Zeit hatte für die Homosexuellen gearbeitet, denn wenn ein Außenminister und der Bürgermeister von Berlin sich outen konnten, konnte Kurt das auch. Er tat es und keiner nahm Anstoß daran.
Zweiundzwanzig Jahre lebten Jo und er glücklich zusammen. Und nun war Jo weg. Von jetzt auf gleich hatte er einen Jüngeren kennengelernt und war mit ihm verschwunden – mitsamt allen Ersparnissen. Sogar sein „Notgroschen Konto“ in der Schweiz war leer geräumt.