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Kapitel 6


Vincent Bartholdi erinnert sich


Etwa drei Wochen später, Benno hatte schon gar nicht mehr daran geglaubt, klingelte sein Telefon. Die Nummer war ihm nicht bekannt. Er nahm ab. „Tornedde.“

„Hallo, Herr Tornedde, Melanie Bartholdi hier.“

Einen Moment lang konnte Benno die Anruferin nicht zuordnen, doch dann fiel der Groschen. „Hallo, Frau Bartholdi“, grüßte er zurück. Ein Klumpen begann sich in seinem Magen auszubreiten, rechnete er doch plötzlich mit dem Schlimmsten. Doch bevor er nach ihrem Vater fragen konnte, sprach sie mit aufsteigenden Tränen in der Stimme weiter. „Mein Vater würde Sie gern sehen, Herr Tornedde. Wir haben ihn nach Hause geholt…“ Benno hörte, wie sie sich die Nase schnäuzte, doch dann hatte sie sich wieder im Griff. „Wir glauben“… wieder benutze sie ein Taschentuch, „wir glauben, er will sich verabschieden. Er möchte nach Hause, sagte er vorgestern, um noch ein paar Dinge zu regeln. Er ist erstaunlich fit im Kopf und hat nach Ihnen gefragt.“ Jetzt hatte sie es heraus und ließ ihren Tränen freien Lauf. Erst nach geraumer Zeit sprach sie weiter. „Anscheinend hat er sich doch an Ihren Besuch erinnert und möchte, außer uns, noch vier weitere Leute sehen, die er aus dem Altersheim kennt.“

„Oje“, sagte Benno. „Melanie, ich weiß, dass kein Trost der Welt Ihnen über den Schmerz hinweg helfen wird, wenn er uns verlässt, aber Vincent wird niemals weg sein – nur fern. Er ist ein großartiger Mensch. So habe ich ihn kennen- und schätzen gelernt und ich denke, so werden wir ihn in Erinnerung behalten.“

Sie schniefte. „Ja, vermutlich haben Sie Recht, Herr Tornedde. Ich muss mich erst

an den Gedanken gewöhnen, dass wir alle, wenn wir die vierzig erstmal überschritten haben, langsam Abschied von unseren Eltern oder Verwandten nehmen müssen.“

„Wann wäre es Ihnen Recht, dass ich komme?“, fragte Benno.

„Am liebsten heute Nachmittag, so gegen drei Uhr.“ Sie gab ihm die Adresse in Schutterwald, einem gemütlichen Ort, etwa sechs Kilometer vor den Toren von Offenburg gelegen.


„Irgendwann kommt der Zeitpunkt, da vergeht auch Unkraut, Benno“, scherzte Vincent und zauberte ein breites zahnloses Grinsen auf seine Lippen. „Kannst du mir mal meine Zähne holen, Benno? Damit redet es sich besser. Sie sind nebenan im Bad.“

Benno holte sie ihm und der Greis setzte sie ein. „So, schon besser. Ich freue mich, dass du da bist, Benno. Wir müssen uns dringend unterhalten.“

Benno umfasste seine Hände. Sie waren kalt und kraftlos. Er schien nochmals mehr an Gewicht verloren zu haben, doch nun erstaunte Benno die Vitalität in Vincents Verhalten - genau das Gegenteil von seinem letzten Besuch. „Ich habe Zeit mitgebracht, Vincent. Als Arbeitsloser hat man unglaublich viel Zeit.“

Vincent nickte. „Ja, das ist wohl so, wenn man alt und nicht mehr gebraucht wird. Zum Nichtstun verurteilt, wenn man keine Aufgabe mehr hat. Das müssen wir ändern. Wir müssen viel besprechen, Benno. Meine Zeit läuft ab. Nein, sag jetzt nichts“, wehrte er ab, als Benno zu einer Widerrede ansetzen wollte. „Ich bin nicht mehr lange Gast auf dieser schönen Erde, mein Freund. Und manchmal weiß ich nicht mehr, wer ich bin, erkenne nicht mal mehr meine Töchter… weiß nicht, welcher Wochentag ist…, weiß fast nichts mehr aus meiner Vergangenheit.“

Er trank einen Schluck Wasser und bot auch Benno ein Glas an, doch der lehnte ab. „Ich hätte da eine Aufgabe für dich, Benno. Einen verrückten Job, einen, der dir sicherlich Spaß machen könnte, einen… etwas illegalen Job.“ Er hustete ein feuchtes Altmännerlachen aus seinem Kehlkopf. Wieder würgte er Bennos Erwiderung ab. „Hör dir an, was ich zu sagen habe und tu es nicht gleich als wirres Gedankengut eines dementen Trottels ab. Du weißt, ich war immer für meine Kinder da. Leider haben Charlotte und ich nur eine leibliche Tochter, Melanie, bekommen, obwohl wir doch so gerne eine große Familie gehabt hätten. Aber es hat halt nicht sein sollen. Wir haben dann Walburga als Pflegekind aufgenommen, ein…“ er fuchtelte mit den Händen in der Luft herum und zeichnete eine nicht gerade schlanke Figur in die Luft. „Ein burschikoses Mädchen“, sprach er weiter. „Mehr Junge als Mädchen. Du erinnerst dich?“

Oh ja, das tat er. Wegen seiner Pflegetochter hatte Vincent einige Male die Arbeit verlassen und in der Schule vorsprechen müssen, weil diese den ein oder anderen Jungen niedergerungen oder gar mit einem Faustschlag niedergesteckt hatte. Walburga war in der Schule gefürchtet und berüchtigt gewesen. „Wir haben das Mädchen großgezogen, aber nicht adoptiert. Ihre leibliche Mutter wollte das nicht. Nun gut… was wollte ich sagen?“ Er kratzte sich den Kopf und schlug dann mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Alles wird wieder nebelig im Kopf. Mist!“ Er nestelte fahrig an seinem Hemdsärmel herum, dann fand er anscheinend zu seinen Gedanken zurück.

„Wenn ich mich gut fühlte, Benno, im Heim, ging ich öfter in die Cafeteria hinunter…“ Er kicherte bei dem Gedanken.

„Dort habe ich im Laufe der letzten Monate vier interessante Leute kennengelernt und mit ihnen Kaffee getrunken – wenn ich klar im Kopf war, versteht sich, und mit ihnen über unser und das Leben im Allgemeinen gesprochen. Alles ältere Semester, noch nicht ganz reif für die feuchte Erde, aber auch nicht mehr allzu lange davon weg. Alle vier verdammt einsam, nicht sehr wohlhabend und sich auf dem Abstellgleis des Lebens befindend.“

Jetzt bat Benno doch um ein Glas Wasser. Das schien eine längere Geschichte zu werden. Eine Geschichte über alte Leute, bei denen er als Kind stets weggehört hatte. Palaver über Menschen, die uninteressant waren, weil Gevatter Tod bereits die Erde ausbuddelte, in der sie demnächst ruhen würden. „Was hat das jetzt mit deinen Kindern zu tun?“, fragte Benno. „Soll ich für deren Kinder Opa spielen, den Babysitter-Opi machen?“

Der alte Mann kicherte wieder. „Nicht ganz, mein Lieber. Nicht ganz. Gedulde dich, Benno. Ich komme gleich darauf zurück. Die vier Leute haben oder hatten hochinteressante Berufe. Lea Aust, meine Friseurin im Heim, ist eigentlich eine ausgebildete Maskenbildnerin. Maria, ehemals wohlhabend, und auch heute noch hübsch anzusehen, ist das Theaterspielen in die Wiege gelegt worden, so hat sie die Männer reihenweise becirct. Und dann der kleine Kurt…, er war leitender Professor im Klinikum. Und zuletzt Rudi, die gute Seele, er wird mein letzter Chauffeur sein.“

„Ich verstehe immer noch nicht, was es mit diesen Leuten auf sich hat.“, sagte Benno und schenkte die Wassergläser nach. „Was ist das für ein Job und was ist daran illegal?

„Bis jetzt noch gar nichts“, sagte Vincent. „Ich komme ja gleich drauf. Nur Geduld, junger Mann.

Ich habe mich auch bei den anderen Gästen des Hauses umgehört, so nennen die Schwestern und Ärzte die Heimbewohner, und ihnen meine Idee vorgetragen. Die meisten waren begeistert, einige wenige wiederum nicht, aber sie versprachen, die Sache zu vergessen, oder hatten sie bereits vergessen, als sie in ihren dementen Köpfen nach Antworten suchten.

Die anderen würden alle mitmachen, denn sie sahen ähnliche Probleme auf ihre Kinder zukommen, wenn der Sensenmann an die Tür klopfte.“

„Was für Probleme?“

Vincent trank einen weiteren Schluck Wasser. „Na ja, es geht um das liebe Geld. Was sollen sie tun, wenn Opas oder Omas Geld nicht mehr da ist? Wie sollen sie die Wünsche ihrer Kinder, ihrer Enkel, bezahlen? Die Hypothek fürs Häuschen? Eine Klassenfahrt nach England, einen Roller oder ein neues Handy oder Computer und so weiter? Ein neueres Auto, das ersetzt werden muss?“

„Und wie können wir das verhindern? Wobei sollen wir mitmachen?“, fragte Benno, der immer noch nicht wusste, worauf Vincent hinaus wollte.

Der alte Mann begann lauthals zu lachen und klatschte sich vergnügt auf die dünnen Schenkel. „Na, als Double natürlich. Ihr fünf werdet uns doubeln, denn tot sein ist noch lange kein Grund, nutzlos rumzuliegen.“

Herbstgesummse

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