Читать книгу Aus lauter Zorn - Valentine Imhof - Страница 12
ОглавлениеKapitel 2
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4. November 2006, Metz, Le Donjon
Anton geht in die Kneipe, in der die Stammgäste bereits die volle Länge der Theke einnehmen. Er setzt sich ans Ende, neben die Tür zur Küche. Dann begrüßt er den Wirt, der gerade Gläser spült.
»Hallo, Fred! Hast du Alex heute schon gesehen?«
Er versucht, einen entspannten Ton anzuschlagen, doch seine tonlose Stimme verrät seine Sorge.
»Ja, sie ist heute Morgen vorbeigekommen, gegen zehn Uhr, für ihre übliche Kaffee-Zeitungs-Arbeit. Sie hat fast eine Stunde hinten in der Nische gesessen, da, wo sie immer ihre Artikel schreibt, gegenüber vom Fenster. Eines Tages werde ich eine Tafel mit ihrem Namen an der Bank anbringen, weißt du, in etwa so wie an der Kirche! Sie hat ihren Text über das Konzert neulich getippt, Coco Robicheaux in der Chapelle de la Meuse. Ein echter Knaller! Was für ein Mann und was für eine Atmosphäre! Ich bedaure, dass ich die Bar nicht zugemacht habe … Wir beide hätten zusammen hingehen können. Ich sag dir, Anton, da haben wir echt was versäumt! Alex hat mir erzählt, dass sie ihn schon kennt, seitdem sie in Louisiana war … Hat sie dir das erzählt? Und sie hat einige Porträts über ihn gemacht, die sie in mehreren Magazinen untergebracht hat. Stell dir mal vor, sie will ihr Interview Rock & Folk oder der Libération anbieten! Unsere Alex schreibt in der Libé! Sie hat es super drauf, Atmosphären einzufangen! Als sie mir ihren Artikel vorgelesen hat, ist mir ein Schauder über den Rücken gelaufen … Aber heute Morgen wirkte sie etwas angespannt, ein bisschen gehetzt … Kurz vor Mittag ist sie gegangen und hat mir gesagt, sie müsse einen Zug kriegen. Und seitdem ist sie nicht wiedergekommen.«
Fred zwinkert ihm zu, sein freundliches Gesicht strahlt Anton an. Dann wendet er sich wieder dem Abwasch und seinen Gästen zu.
Anton stürzt sich erneut in seine trüben Gedanken. Verdammt! Was macht sie? Wo ist sie? Alex, die er Sascha nennt, wenn sie allein sind, sollte ihn am Nachmittag in seiner Wohnung treffen, nach einem Interview mit einem Musiker, einem ehemaligen Mitglied von Option 30, der ersten Gruppe von Trent Reznor. Ein Typ, den sie am Abend des Cajun-Konzerts getroffen hat. Sie hat ihm nicht mal die tägliche Mail geschickt. Um abzusagen, um zu berichten oder um ihm einfach zu sagen, wo sie ist …
Fred sieht, wie Anton düster in seiner Ecke hockt, und kommt näher.
»Zieh nicht so’n Gesicht, Anton! Alex ist ein großes Mädchen. Ich wette, sie taucht bald auf. Sie gehört nicht zu denen, die uns an einem Samstagabend sitzen lassen. Ich glaub nicht, dass sie viele ausgelassen hat, seitdem wir sie kennengelernt haben! Also, hör auf, darüber nachzudenken. Ich bring dir einen Bushmills, der wird dich wieder aufmuntern!«
Anton weiß sehr wohl, dass Sascha es nicht mag, wenn er zu sehr an ihr klebt. Sie hat ihm bereits vorgeworfen, er würde sie überwachen, ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass er sich nicht zu sehr an sie klammern soll und dass es keinen Vertrag zwischen ihnen gibt. Sie hat auch die Manie, fast jeden Tag ihre Zugangsdaten zu ändern, was es oft unmöglich macht, sie zu erreichen. Nach einem dämlichen Streit ist sie schon einmal über eine Woche verschwunden, ohne dass er wusste, wo sie steckte. Er hat sie übrigens nie danach gefragt. Zu glücklich, dass sie völlig unerwartet wiederkam. Zu ängstlich, dass sie für immer geht.
Fred stellt ihm einen zweiten Whisky hin, eine Runde auf Kosten des Hauses. Dann beugt er sich zu Anton vor, den er an diesem Abend besonders missmutig findet.
»He, du hast doch eine Katze … Du kommst doch nicht auf die Idee, ihr ein Halsband anzulegen und mit ihr spazieren zu gehen … Und wenn sie sich drei, vier Tage herumtreibt, um ihr Katzenleben zu leben, klingelst du nicht bei den Nachbarn und fragst, ob jemand sie gesehen hat. Du wirst nie jeden Schritt deiner Herumtreiberin kennen, auch nicht all ihre nächtlichen Streifzüge, und du hast dich daran gewöhnt! Und genau so, wie sie ist, liebst du sie! Sonst hättest du einen Yorkshire, einen Pudel oder einen Bichon! Nun, mit Alex ist es so ähnlich. Hübsch, sympathisch und sogar liebevoll, wie du weißt, aber auch sehr unabhängig, voller Geheimnisse und Mysterien … Manchmal verschwindet sie für eine Weile, damit muss man leben, denn man weiß ja, dass sie immer wieder auftaucht … Weil es Leute wie uns gibt, die sie mag … Und wir sind damit zufrieden! Also Don’t worry, be happy, und zieh nicht so ein Gesicht!«
Anton weiß, dass Fred recht hat. Fünfundzwanzig Jahre hinter einer Theke, zuhören, teilhaben, trösten, da bekommt man schon eine gute Menschenkenntnis, das macht einen zum Psychologen und Philosophen, der kompetenter und fähiger ist als alle Hochschulabsolventen mit ellenlangen Abschlüssen. Fred ist so gut, dass er glatt Doctor honoris causa in diesen Fächern sein könnte. Das ist ihm zur zweiten Natur geworden. Manchmal amüsiert Anton sich damit, ihn Macha Grégoire zu nennen. Nur, um ihn lächeln zu sehen. Denn Fred hat eine Glück bringende Zahnlücke.
Und es stimmt, wenn seine Katze Pandora ohne Vorwarnung fortgeht, um sich mit allen dreckigen Katern des Viertels herumzutreiben, muss er sich damit abfinden. Und wenn sie völlig zerzaust von ihrer Tour durch die Mülleimer zurückkommt, sich schnurrend an seinen Beinen reibt und ihn mit ihren zauberhaften himmelblauen Augen anschaut, macht er sich daran, sie zu streicheln und ihr alle möglichen lächerlichen Namen zu geben. Sie lässt sich das gefallen, aber mit Sicherheit denkt sie sich ihren Teil. Und hält ihn vermutlich manchmal für geistig zurückgeblieben. Doch wenn sie zurückkommt, eilt er in die Küche und füllt ihren Fressnapf. Eine gute Dose, um ihre Rückkehr zu feiern. Ah, die Schmusekatze …
»Los, Anton, hör auf zu grübeln und wähl die 22-01, die 07-12 und die 33-07!«
Er nimmt die Münze für die Musikbox, die Fred ihm hingelegt hat, und tippt die Zahlen einer erfolgreichen musikalischen Dreierwette ein. Der Kneipenphilosoph setzt noch einen drauf, die Therapie geht weiter: »Heart of Gold« von Neil Young, »Dust in the Wind« von Kansas und »Black Magic Woman« von Santana … Anton wirft ihm einen Seitenblick zu, hebt den Daumen, um ihm zu zeigen, dass er die Botschaft verstanden hat, und bestellt dann einen dritten Bushmills, sicher, dass damit seine Sorge einen Dämpfer bekommen wird.