Читать книгу Aus lauter Zorn - Valentine Imhof - Страница 14

4. November 2006, Nancy, Hotel, Zimmer 107

Оглавление

Ein widerlicher Geschmack nach Schlamm im Mund. Hände schwer auf ihren Schultern, die sie unter das braune, undurchdringliche, dickflüssige Wasser drücken. Ihr aufgelöstes Haar bildet einen dunklen Schleier über ihrem Kopf und verwehrt ihr den Blick auf die Oberfläche. Ihre Lunge ringt mit dem Tod, glühend. Ein Schluck Luft. Nur einer. Sie stirbt. Sie kämpft. Ihre Beine wirbeln das schmuddelige Wasser auf, panisch. Vergeblich. Ein letztes Aufbäumen ihres erstickten Körpers befreit sie schließlich. Sie kommt hoch, taucht auf und schnappt gierig nach Luft. Schlägt die schwarzen Augen auf.

In der Mitte einer traurigen Decke aus beigefarbenen Platten hängt eine gefälschte Inox-Designerleuchte, die kaum größer als die ausgeschaltete Glühlampe ist, die sie umhüllt, und ihr sehr nah und drückend erscheint. Die Luft ist muffig, stickig und abgestanden, ranzig wie schlechter Mundgeruch. Das Atmen fällt schwer. Abgestandener Alkohol, kalter Tabak, Sex.

Auf dem Tisch, der unter das einzige Fenster des Zimmers geschoben ist, langweilen sich zwei halb geleerte Gläser, in denen Zigarettenkippen und aus Pappe gerollte Filter von Joints schwimmen, ein überquellender Aschenbecher und drei Flaschen, die zwar nicht ganz leer sind, aber guten Zuspruch gefunden haben. Ein schlecht komponiertes, unausgewogenes und versifftes Stillleben.

Das enge Zimmer ist überheizt und feucht. Das weiße Licht einer Parkplatzlaterne dringt durch die Lamellen der herabgesenkten Jalousien und zerreißt das Halbdunkel.

Ein Körper liegt auf ihr. Er zerquetscht ihre Brust und ihren Brustkorb mit all seiner abgestumpften Trägheit. Sie muss ihn loswerden, sie erstickt. Sie befreit sich, indem sie ihn zur Seite schiebt, und verharrt fasziniert in einem prekären Gleichgewicht zwischen Kontemplation und Ekel.

Es gelingt ihr nicht, den Kerl wiederzuerkennen, mit dem sie erst vor ein paar Stunden in dieses Zimmer und dann in dieses Bett gekommen ist. Oder vielleicht gestern. Er ist ihr nicht entwischt. Sie hat ihn kaltgemacht.

Sein Gesicht, aufgebläht, angeschwollen, mit starren und verdrehten Augen, hat nichts Menschliches mehr. Eine echte Karnevalsvisage, grotesk. Eine grinsende und lüsterne Maske, die eine für ihren Mund zu dicke lila Zunge ausstreckt und sie geil, schmierig und sabbernd anstarrt. Die um seinen Nacken geschlungene Krawatte verschwindet fast in den Falten seines Fleisches, sodass sein Hals wie eine leicht vorgeneigte Sanduhr aussieht.

Alex’ Blick wandert nach unten und bleibt am Bauch des Typen hängen. Sie stößt einen langen bewundernden Pfeifton aus, als sie das immer noch gespannte, riesige, deplatzierte, irreale, schändliche Geschlecht entdeckt.

Sie erinnert sich nun an die höllische Erektion, mit der er angegeben hatte, und wie er in die ewigen Jagdgründe eingegangen ist mit seiner Wettkampfkeule, die von stark vorspringenden und fast platzenden Adern bedeckt war. Eine Anomalie, ein verstopftes Monster, eine Art Riesenwurm aus den Abgründen, den sie ungläubig anstarrt. Sie ist erstaunt über diesen aberwitzigen Irrtum der Natur, buchstäblich gefangen in seiner Betrachtung.

Und sie fragt sich, durch welches Wunder sich dieses abstoßende Ding in einem Hotel befinden kann, in diesem Bett, so weit weg von den unergründlichen Tiefen der Meere … Dann erschüttert sie ein heftiger Brechreiz: Sie realisiert, dass dieses Ding auch in sie eingedrungen ist! Sie kotzt auf die Laken, ein heißer und scharfer Strahl, und wird sich plötzlich der Situation bewusst.

Raus hier, und zwar schnell.

Sie lässt sich aus dem Bett rollen und sammelt auf allen vieren ihre Klamotten ein, die überall im Zimmer verstreut sind. Der Teppich stinkt und scheint an ihren Knien zu kleben. Sie stellt sich vor, dass er mit allen möglichen Flüssigkeiten getränkt ist, die von den Gästen verschüttet und abgesondert wurden, die in diesem Scheißzimmer aufeinander gefolgt sind, voller Schuppen, belebt von Milbenkolonien, die sich davon ernähren.

Neuerliche Übelkeit. Sie zieht sich an und schlüpft in ihre Doc-Martens-Schuhe, ohne die unbewegliche Gestalt aus den Augen zu lassen, die sich schamlos auf dem Bett zur Schau stellt. Sie schnappt sich ihren Rucksack, stopft die Haare in die Kapuze ihrer Sweatjacke, die sie über die Stirn zieht, öffnet geduckt die Zimmertür und schließt sie wieder hinter sich, bevor sie sich mithilfe der Türklinke aufrichtet.

Ein neuerlicher Schwindelanfall. Alles beginnt zu schwanken. Sie lehnt sich an die Wand, schließt die Augen und atmet vorsichtig, um zurückzudrängen, was wie der Beginn von Unterzuckerung wirkt. Der THC-Effekt. Das ist wirklich nicht der Moment, auf diesem vergammelten Flur zusammenzubrechen, mit der Leiche hinter der Tür. Andere Typen werden sich um die Abwesenheit von dem da Gedanken machen.

Bloß weg, abmarschieren, sich an den geometrischen Mustern des Teppichs ausrichten, um den Weg zu finden. Doch das ist keine gute Idee. Das zwingt sie, zu schielen, den Kopf zu verdrehen. Daher schließt sie die Augen und geht weiter, indem sie mit dem Körper an der Wand entlanggleitet, mit einer vorwärtstastenden Hand, wie eine Blinde.

Niemand, kein Gast, kein Rezeptionist in diesem Selbstbedienungs-Low-End-Hotel, in dem eine Kreditkarte als Tag-und-Nacht-Portier dient. In der Eingangshalle mit einem einzigen braunen Skailedersessel, in der sich weder Rezeption noch Empfang befinden, werfen ihr zwei Chips- und Schokoriegelautomaten mit ihrem weißen Neonlicht verführerische Blicke zu. Sie hätte gern ein bisschen Zucker, um ihr System in Schwung zu bringen, da sie seit zwei Tagen nichts Ordentliches gegessen hat. An der Stelle ihres Magens klafft ein Loch, außerdem hat sie Gummibeine und ein Gehirn, das wie Wackelpudding in ihrem Schädel schwappt.

Ein Gefühl von Seekrankheit … nur ohne See.

Alles, worauf es ankommt, ist, hier zu verschwinden, bevor die anderen aufkreuzen. Also drückt sie den Schließmechanismus der Tür auf und findet sich draußen wieder, benommen, gebeutelt von der eisigen Luft und dem Verkehrslärm auf der Kreuzung, dem grellen Licht der Scheinwerfer.

Überall um sie herum erheben sich Wohnblöcke, die sie noch nie aus der Nähe erblickt hat. Doch sie kennt sie. Aus der Ferne, von unten, hat sie sie schon Hunderte Male gesehen, von der Autobahn aus, die durch das Tal führt. Eine Skyline in 2-D, pastellfarbene, horizontale und vertikale Rechtecke, die sich den bewaldeten Hügel hinaufziehen. Es gab auch eine nächtliche Expedition mit einem Kollegen von der Uni, um Gras in einer der Hochhauswohnungen zu kaufen. Hier oder vielleicht woanders. Aber diese Viertel sehen alle gleich aus, sie kann sich irren.

In ihren Taschen tastet sie nach einer Schachtel Zigaretten. Noch zwei Kippen, völlig zerknittert. Hastig zieht sie eine heraus und rollt sie zwischen ihren schmerzenden Fingern. Der erste Zug schießt ihr direkt in den Kopf. Erneut Übelkeit. Sie schließt die Augen, möchte sich liebend gern hier hinlegen, direkt auf den Asphalt. Der warme Schlamm des Sumpfes, den sie am liebsten nie verlassen hätte, kommt ihr in den Sinn. Sie wünscht, sie könnte sich darin einrollen, einkuscheln, sich hineinversenken. Um nichts mehr zu spüren und alles vergessen zu können. Verschwinden, ein für alle Mal. Damit die Jagd aufhört. Vorhang. Endlich.

Ein wütendes Hupen lässt sie wieder die Augen öffnen und reißt sie brutal aus ihrem Traum vom Nichts. Sie ist nur noch angewidert. Angewidert von dem, was sie ihr angetan und was sie sie zu tun gezwungen haben.

Ein flüchtiger Gedanke an das arme Mädchen, das morgen früh Zimmer 107 putzen muss und den priapischen Satyr finden wird, ausgestreckt auf den schmutzigen Laken. Ein überarbeiteter Manet. Olympia. In männlicher Version. In Trash-Version. Sie hätte ihn zudecken sollen, bevor sie ging. Oder ihn auf den Bauch drehen. Egal. Zu spät. Es kommt nicht in Frage, dorthin zurückzukehren. Sie muss den Parkplatz des Hotels verlassen, diesem beschissenen Tag den Rücken zuwenden und nach Hause gehen.

Nach der ungesunden und fiebrigen Hitze im Zimmer lähmt die Kälte sie, lässt sie die Zähne zusammenbeißen. Nur ihre trockenen Lippen öffnen sich, um an der glühenden Kippe zu ziehen.

Sie hat keine Ahnung, wie spät es ist. Wie lange sie wohl im Koma gelegen hat? Keine Uhr, kein Handy. Dieser Tag scheint sich zu strecken. Oder sich zusammenzuziehen. Sie ist sich über nichts mehr sicher.

Sie sieht sich wieder in ihrer Bude heute Morgen, ihren Kaffeebecher und die Beschwörungsmusik von Joy Division. Und nun ist es dunkle Nacht.

Anfang November. Es könnte sechs oder sieben Uhr am Abend sein, und all diese Leute im Auto kommen vom Einkaufen oder von einem Kinobesuch am Nachmittag zurück. Oder es ist bereits neun oder zehn Uhr, und die Leute brechen auf in ein Restaurant oder zu einem Kneipenbummel. Und wenn das der Fall ist, sind die Chancen, einen Zug nach Hause zu erwischen, nicht sehr groß …

Sie muss sich in Bewegung setzen. In dieser Kälte, die ihre Füße steif werden lässt und zum Angriff auf die Knöchel übergeht, wird sie es nicht lange aushalten. Sich konzentrieren, in die Stadt hinuntergehen, am Bahnhof ankommen, bevor die Kumpel des Toten auftauchen.

Ein Blick nach rechts zeigt ihr eine erleuchtete Bushaltestelle. Ein Leuchtfeuer in diesem Ozean aus Beton. Sie tritt die Kippe aus, zieht den Reißverschluss ihrer Sweatjacke hoch, steckt den Kopf zwischen die Schultern, vergräbt die schmerzenden Fäuste in den engen Taschen ihrer Jeans. Los geht’s.

Einhundertfünfzig, zweihundert Meter bis zu der Glashütte. Eine Odyssee. Wie ein betrunkener Seemann, der mit den Windböen auf einem überschwemmten Pier einen Pas de deux tanzt, taumelt sie vorwärts, indem sie von Schräglage zu Schräglage einen Schritt nach dem anderen macht. Die Zunge zwischen die Lippen geklemmt, um aufmerksam zu bleiben, bemüht sie sich, entlang der geraden Linie des Rinnsteins Kurs zu halten. Ein kleiner Alter, der seinen Hund ausführt, macht einen großen Bogen, um ihr aus dem Weg zu gehen, und erwürgt fast seinen kleinen Liebling, als er brutal an der Leine zieht … Sie muss furchterregend sein. Das ist gar nicht so schlecht.

Sie geht auf das Leuchtfeuer zu, den einzigen Orientierungspunkt in der Dunkelheit. Koste es, was es wolle. Instinktiv. Wie eine Motte, die vom Licht angezogen wird. Der Reiz der Glühbirne. Egal. Selbst wenn sie im Schatten bleiben muss, um sich zu verbergen. Denn sie sind da, nicht weit weg. Sie sind ihretwegen gekommen.

Endlich das Licht. Und ein Fahrplan, den sie nur schlecht lesen kann. Ihr verschwommener Blick wird vom Neonlicht geblendet, ihre Pupillen sind nicht in der Lage, sich auf einen Punkt zu konzentrieren. Samstagabend. Alle halbe Stunde ein Bus. Hoffentlich hat sie nicht falsch geguckt. Sie zieht sich in der eisigen Luft zusammen, die sie allmählich erstarren lässt. Die Kälte umklammert nun ihre Kniescheiben.

Sie stampft mit den Füßen, um die Durchblutung ihrer Beine zu aktivieren, bläst kleine Wolken aus warmem Nebel in die Hände. Dann zählt sie im Kopf bis sechzig, immer wieder, um die Minuten zu messen und einen Anschein von Kontrolle über die Zeit zu bekommen, die ihr den Tag über entglitten ist und ihr nach und nach die Möglichkeit nimmt, den letzten Zug zu erreichen, der sie nach Hause bringen soll.

Drei junge Typen kommen zu ihr in die gläserne Schutzhütte. Mustern sie einen Moment, beratschlagen, drängen sich zusammen und bauen sich vor ihr auf. Rücken ihr auf die Pelle.

»He, du Tussi! Hat dir keiner gesagt, dass es nicht schlau ist, sich nachts ganz allein in dieser Gegend rumzutreiben?«

Ihnen eine hammerharte Antwort geben, ihnen ein Ding verpassen, das ihre Schnäbel zunagelt und sie alle drei pulverisiert. Pffft! Das würde sie gern tun. Aber reden ist im Moment nicht drin.

Also hebt sie den verstörten Blick und ihr aufgedunsenes, nahezu verwüstetes Gesicht. Und das genügt, ihnen ihr blödes Grinsen und ihr zweitklassiges Machogefasel zurück ins Maul zu stopfen. Sicher werden sie sich bald fragen, wer mehr in Gefahr ist. Sie sieht sie weiter an, ihr schwerer Blick wandert von einem zum anderen. Auch streicht sie über ihre Fäuste, deren aufgeschlagene Gelenke sie sehen, und strafft die Wangen, indem sie die Zähne zusammenbeißt. Bis sie aufgeben, in die andere Ecke der Haltestelle abziehen und anfangen, über Musik zu sprechen, indem sie die Ohrstöpsel eines Mini-Headsets austauschen.

Sicherlich wohnen sie in der Gegend und kennen zwangsläufig die Abfahrtszeiten. Das beruhigt sie. Der Bus müsste bald kommen. Sie setzt sich und beginnt wieder zu zählen, von eins bis sechzig, so wie man einen Rosenkranz herunterbetet, mechanisch, wie eine Litanei.

Ängstlich schaut sie zum oberen Ende der Straße, darauf gefasst, ein Auto auftauchen zu sehen, das vor ihr anhält, aus dem ein Fiesling springt und sie zwingt einzusteigen, ohne dass sie sich dagegen wehren könnte. Doch es ist der Bus, den sie an der Kreuzung auftauchen sieht. Hell erleuchtet kommt er den Hügel herunter, und ihr Herz beginnt ein wenig schneller zu schlagen.

Als er anhält, lässt sie die drei Typen vorgehen, die dem Fahrer ihre Dauerkarten zeigen und sich nach ganz hinten verziehen. Mit tauben Fingern zählt sie fieberhaft ihr Geld, kauft ein Ticket und stellt eine kurze und höfliche Frage. Ja, er hält am Bahnhof. Neuer Aufruhr im Inneren. Kleine Blasen der Erleichterung, die überall in ihrem Schädel knistern.

Sie setzt sich nach vorn, direkt hinter die Scheibe, die sie vom Fahrer trennt, schließt die Augen, um dem grellen Licht zu entgehen, und versucht, die sich anbahnende Unterzuckerung einzudämmen. Der Bus ist gut geheizt, und die sanfte, pulsierende Wärme, die aus einem Gitter unter ihren Füßen aufsteigt, hilft ihr, sich zu entspannen.

In den Tiefen ihrer Tasche findet sie einen alten Kaugummi. Das Alupapier ist zerrissen, teilweise verklebt, und Tabakkrümel kleben an dem grünen Streifen. Schmerzhaft beleben sich ihre Speicheldrüsen beim Kontakt mit der mentholhaltigen Süße. Die Kiefer sind im Kaumodus, aber noch nicht bereit zu kauen. Nach und nach wird ihr Körper weicher.

Eingelullt vom Geräusch des Motors, dem sanften Schaukeln, den undeutlichen, aber beruhigenden Gesprächsfetzen, die sie erreichen, könnte sie beinahe einschlafen … Diskret massiert sie ihre Fingergelenke, die langsam anschwellen und blau werden.

Bei jeder Haltestelle füllt sich der Bus etwas mehr mit jungen Leuten, die die Schlafstädte verlassen, um sich in der Stadt auszutoben. Sie hat nun das flüchtige Gefühl, wieder zu dieser kosmopolitischen Gruppe zu gehören, die sich darauf freut, an einem Samstagabend auf die Piste zu gehen. Für ein paar Stunden der Unbeschwertheit würde sie alles geben, für eine Ruhepause, dafür, dass sie aufhören, sie zu quälen, dass sie nicht ständig auf der Hut sein muss. Doch all dies ist vorbei. Zu spät.

Draußen wird die Stadtlandschaft immer vertrauter. Ihr Herz beginnt höherzuschlagen, als sich die Gebäude abzeichnen, die den Bahnhofsplatz überragen. Bald muss sie aufstehen und zur Ausstiegstür gehen. Sie setzt die Ellbogen ein und stürzt nach draußen. Davon hängt ihr Leben ab.

Ein neuer Schlag eisiger Luft. Es friert an diesem Abend. Nicht der Moment, hier hängen zu bleiben. Obdachlose krepieren auf den Bänken. Und wenn es nicht die Kälte ist, die sie umbringt, sind es die Arschlöcher, die Spaß daran haben, ihnen Rohrreinigungsmittel in Gesicht, Mund und Ohren zu gießen. Das hat sie letzte Woche in den Nachrichten gehört. Genau hier ist das passiert, ein paar Schritte weiter. Was für eine Scheißwelt!

In der grell erleuchteten Bahnhofshalle haben das Relay H und die überfüllte Brasserie noch geöffnet. Angespannt wirft sie einen Blick auf die große Uhr in der Mitte. Wie vor der Verkündung eines Urteils.

21.37 Uhr! Sie kann den 21.41er noch erreichen. Doch ihre Erleichterung hält nicht lange an. Der Bus hat sie zwar ein wenig aufgemöbelt, aber sie fühlt sich nicht in der Lage, gegen die Zeit zu rennen. Nicht heute Abend. Doch der Zug, den sie nicht verpassen darf, wird als abfahrbereit angekündigt. Auf Gleis 7. Jetzt ist nicht die Zeit, auf der Strecke zu bleiben. Sie hat das Gefühl, alles zu geben und trotzdem nicht voranzukommen. Die Treppe nach unten ist endlos, und die untere Ebene wird immer größer. Wie in den Alpträumen. Nach einem verzweifelten Rennen springt sie schließlich in den erstbesten Waggon, der sich anbietet, und landet außer Atem, am Ende ihrer Kräfte, mit rasendem Herzen und zitternden Beinen auf einem der Klappsitze. Das Abfahrtssignal ertönt. Hinter ihr schließen sich die Türen.

Verdammt! She made it! Sie ist ihnen entkommen! Ein weiteres Mal! Mit Parkinson’scher Hand fischt sie in den Tiefen ihrer Tasche nach der Fahrkarte. Und nach ihrem MP3-Player. Sie muss jetzt dringend Musik hören. Um sich zu beruhigen, um sich zu erholen. »Water« von PJ Harvey, das während der dreißig Minuten Fahrzeit in einer Endlosschleife läuft.

Sie lässt sich verschlingen, aufsaugen von der hypnotischen und eigenwilligen Basslinie, einhüllen von der eindringlichen Stimme, die fleht, wimmert, beruhigt und erzählt. Die Hybris von Ikarus. Der unausweichliche Absturz. Die Rettung im Wasser. Die Anziehung der Tiefe. Sich in den Abgrund stürzen und jede Phase genießen können, die einen dem Grund näher bringt …

Als sie aussteigt, ist sie erholt und sogar gestärkt. Gewaschen, erfrischt, wie neu. Ihr Gang ist wieder geschmeidig geworden. Sie schwebt auf dem Asphalt wie auf Luftkissen.

Die kleinen Fenster an der Fassade des Donjon sind mit Feuchtigkeit bedeckt. Bruchstücke von lebhaften Gesprächen erreichen sie. Es ist voll heute Abend. Jeff Beck elektrisiert die Jukebox. Es ist ein bisschen so, als ob sie nach einer langen Reise nach Hause käme. Die Rückkehr der verlorenen Tochter zu den Ihren. Sie schluckt ihren Hass hinunter, atmet tief durch und zwingt sich zu lächeln. Die Nacht ist jung. Sie hat heute einen Mann getötet. Den dritten. Doch es ist ihnen gelungen, sie wiederzufinden.

Aus lauter Zorn

Подняться наверх