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5. November 2006, Gent

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Alex hat den größten Teil der Fahrt geschlafen. Ein unruhiger, anstrengender Schlaf mit der übermächtigen Präsenz des Kerls von gestern. Mit seinem ekelhaften Grinsen, seiner Prahlerei, seiner widerlich geschwollenen Zunge, seinem für alle Zeiten monströs angespannten Schwanz, dem Gestank seines Schweißes, seines Spermas.

Sie wacht mit einem Ruck auf und stößt heftig seinen fidelen Leichnam zurück, der sie wieder besteigen will. Sogleich entschuldigt sie sich für den Tritt ans Schienbein, den sie dem ihr gegenübersitzenden Reisenden versetzt hat. Er bedeutet ihr lächelnd, dass ihm nichts passiert sei.

Sie fährt nach Gent, um Abstand zu gewinnen. Die haben sie wiedergefunden, kommen näher. Sie muss Bilanz ziehen. Die sind hinter ihr her. Sie weiß weder, wie viele ihr Junior dieses Mal hinterhergeschickt hat, noch, wann sie zuschlagen. Und noch weniger, wie sie es immer wieder schaffen, sie trotz aller Vorsichtsmaßnahmen aufzuspüren. Manchmal denkt sie, dass sie ihr einen Chip eingepflanzt haben, als sie ohnmächtig war, und das macht ihr Angst.

Am Bahnhof nimmt sie eine Straßenbahn in Richtung Patershol und zum Hostel, das in der Nähe der Wassergräben von Gravensteen liegt, der Burg der Grafen von Flandern. Sie hat dort für zehn Nächte ein Zimmer reserviert. Hier kommt sie oft unter, vor allem bei ihren regelmäßigen Treffen mit Bernd.

Sie lässt ihre Tasche im Zimmer und bricht zu einem Spaziergang in die Stadt auf. Angespannt ist sie, vergiftet von den Bildern des Hotels, von dem, was sie dort getan hat, von all den Erinnerungen, die zurückkommen, um sie anzugreifen und brutal wieder die Kontrolle zu übernehmen.

Der Tag ist grau und kalt. Es ist zwar erst Anfang des Nachmittags, doch schon bevor er richtig angefangen hat, neigt sich der Tag dem Ende zu. Sie macht einen Schlenker über den Groentenmarkt und geht dann ins Groot Vleeshuis, ein imposantes mittelalterliches Haus der Fleischergilde, in dem sich heute eine große Markthalle befindet.

Zerstreut durchstreift sie die Gänge und landet an einem Fischstand. Die toten Fische sehen sie mit ihren verwirrten und glänzenden Augen an. Am Ende der Auslage entdeckt sie eine riesige Holzschüssel, die mit lebenden Aalen jeder Größe gefüllt ist.

Und ihr Flanieren findet ein jähes Ende. Unterbrochen von diesem alptraumhaften und faszinierenden Anblick einer Hydra mit tausend Augen und einer Unmenge von Körpern, die sich ständig verflechten und voneinander lösen, sich zu einem labyrinthischen und unentwirrbaren Strang zusammenfügen. Sie beugt sich über die wimmelnde, fließende und kompakte Masse. Ein Schwindelgefühl. Sie sieht, wie sie in die Schüssel fällt. Und wie schlangenartige Kreaturen über sie herfallen und in sie eindringen, sie von innen auffressen, aus ihrem Bauch herauskriechen und wieder in ihn eintauchen. Wie sie nach und nach in der Mannigfaltigkeit ihrer gefräßigen Mäuler verschwindet, verschlungen und verdaut wird.

»Goedemiddag, kan ik u helpen?«

Sie kommt wieder zu sich, taucht aus der schleimigen Masse auf und kreuzt den klaren Blick des Fischhändlers, dann, auf dem Hauklotz vor ihr, den einer gevierteilten und vervielfachten enthaupteten Gorgo. Die Überreste von etwa fünfzehn Aalen, deren ausgewaidete Körper im Waterzoï landen werden, aber deren Köpfe weiter zwischen den Häuten und den noch zuckenden Eingeweiden zappeln.

Speichelfluss. Sie ist kurz davor, sich zu übergeben, und läuft schnell weg. Nein, da kann ihr nichts und niemand helfen. Direkt vor dem Eingang spuckt sie einen dunklen Strahl aufs Pflaster. Den Automatenkaffee, den sie in der Bar des Hostel De Draecke getrunken hat, bevor sie aufbrach.

Ihr ist kalt, ihr Kiefer ist wie erstarrt, sie hat einen ekelhaften Schlammgeschmack im Mund. Sie braucht einen Muntermacher. Steckt sich eine Lucky an und geht taumelnd zum Quai hinunter.

Sie geht ins ’t Dreupelkot, eine kleine Kneipe, kleiner noch als ihre Bude, in der es aber mehrere Hundert Genever gibt. Es ist gerade Gästeflaute. Ein Gast döst im Ledersessel am Fenster vor sich hin. Der beste Platz, direkt neben dem Radiator. Zwei Gäste stehen an der Theke.

Sie setzt sich auf einen Strohhocker an der Theke, hinter der Joos, der Wirt, seines Amtes waltet, und nimmt die Aromatisierten in Angriff. Einen mit Ingwer und einen mit Pfeffer, um sich aufzuwärmen. Die Gläser sind großzügig eingeschenkt, laufen fast über. Sie beugt sich vor und schlürft vorsichtig den ersten Schluck. Der Alkohol verbreitet sich schnell in ihrem Körper und tötet die Aale, die noch in ihren Eingeweiden stecken.

Langsam kommt sie wieder zu Kräften. Zwei weitere, um die Wirkung zu unterstützen, dann geht sie zu Oude Jenever nach Art des Hauses über. Frank’s Wild Years von Tom Waits läuft leise im Hintergrund und trägt zur Gemütlichkeit des Ortes bei. Sie saugt die Worte auf, singt den Refrain von »I’ll Be Gone« mit, indem sie kaum die Lippen bewegt, und denkt an morgen früh … Ja, es könnte gut sein, dass sie auch gegangen sein wird. Ohne Vorwarnung. Weder Flucht noch Finte. Ein schlichtes und einfaches Verschwinden, mit Leib und Seele, wie bei einem Schiffsuntergang … Einfach Schluss, endlich.

Bei den ersten Takten von »Yesterday Is Here« muss sie lächeln. Weil es nichts gibt, was wahrer ist. Diese einfache, ruhige, des-illusionierte Ballade beruhigt sie. Es gibt kein Heute mehr, kein Zu-Spät, nichts zu erwarten oder zu erhoffen, wenn das Gestern alles verdunkelt. Gestern, da, ständig, und an all den Gestern ihres beschissenen Lebens, in denen sie feststeckt, die sie festhalten, sie ersticken, sie jeden Tag etwas mehr nach unten ziehen. Ihre Erinnerungen sind eine Last, sie wird gehemmt von schlechten Entscheidungen und falschen Wegen, die sie eingeschlagen hat und die ihr um die Ohren fliegen. Jeden Tag etwas mehr. Sie kann nicht mehr.

Als Tom Waits wie ein erleuchteter Prediger die Mahnrufe von »Way Down in the Hole« ausstößt, verzieht Alex das Gesicht, und ein Schauder läuft ihr über den Rücken. Ihr ganzer Körper zieht sich zusammen. Sie macht sich klein. Ihr Teufel hat zwei Köpfe, deren eiskalte blaue Augen auf sie gerichtet sind. Ständig. Selbst wenn sie die Augen schließt. Er ist in sie eingedrungen und nie wieder hinausgegangen, begleitet sie seit dem Bayou bei jeder Bewegung. Warum soll sie sich also darauf versteifen, vor ihm wegzulaufen?

Noch zwei alte Genever, in einem Zug runtergekippt, dann macht sie sich in der Dämmerung auf den Weg. Ihre Pupillen haben Schwierigkeiten, sich anzupassen, alle Lichter funkeln, sind von einem Glorienschein umgeben.

Der Nieselregen macht das Pflaster rutschig. Sie steckt sich eine Kippe an, zieht die Kapuze hoch und geht in Richtung t'Zuid. Hoogpoort, dann nach rechts auf den Botermarket, wo sie einen ersten Zwischenstopp vor einer Kneipe einlegt. Im Schaufenster zwinkern ihr eine Gulden-Draak-Werbung, ein goldener Drache und eine rote Neonleuchtschrift tückisch zu. Und beamen sie im Nu auf die Shetlandinseln, zum Up Helly Aa, dem letzten Abend des Wikingerfestes. Zur Verbrennung des Drakkar. Ihr Blick vernebelt sich. Flammen beginnen, hypnotisch vor ihren Augen zu tanzen. Sie hört das Knistern und tritt zurück, um sich von der Hitze des Brandes zu entfernen, als das flehende Miauen einer Katze, die sich an ihren Knöcheln reibt, sie auf den Gehsteig nach Gent zurückkehren lässt. Sie streichelt das kleine nasse Tier, schüttelt sich, um die letzten Teilchen der Erinnerungen zu vertreiben, und stößt die Tür des kleinen Stadtteilcafés auf, das an diesem Sonntagabend ganz ruhig ist. Am Tresen bleibt sie stehen, bestellt ein Duvel, noch ein Gläschen Genever, und verleibt sich beides schnell ein. Als sie geht, stellt sie sich einige Minuten in eine schützende Toreinfahrt und dreht sich einen Stick.

Aus dem Nieseln ist ein feiner, anhaltender und durchdringender Regen geworden. Sie erreicht die Limburgstraat, kommt an St.-Bavo vorbei, geht die Vlaanderenstraat entlang, dann den Brabantdam. Dann zeichnen sich im Regen die Lichter des Rotlichtviertels ab.

Die überdachte Passage der Glazen Straatje bietet einen vorübergehenden und willkommenen Schutz. Die meisten Schaufenster sind erleuchtet, die Vorhänge geöffnet, ein Mädchen sitzt im Inneren. Alex zündet den Joint an und schlendert gemächlich in eine Richtung, dann in eine andere, unter einigen Touristen, die sich die Augen aus dem Kopf gaffen, und einer Handvoll von potenziellen Freiern.

Sie bleibt einen Moment stehen, um eine Verhandlung zu beobachten, und versucht, die Codes, Gebärden und Zeichen zu verstehen, die auf beiden Seiten des Schaufensters ausgetauscht werden. Anscheinend vierzig Euro (vier Finger) für einen Blowjob (explizite Mimik, die Faust vor den offenen Mund gelegt, die Zunge in die Wange geklemmt) und Liebe »eine Stellung« (ausgestreckter Zeigefinger für die Eins), das Ganze in einer Viertelstunde, inklusive Aus- und Anziehen (zehn plus fünf mit beiden Händen und dem Zeigefinger, der auf die Uhr klopft). Der Handel ist schnell abgeschlossen (hochgereckter Daumen des Freiers), das Mädchen im pinkfarbenen Minibikini steht vom Hocker auf, schließt die Vorhänge und öffnet dem Kerl die Tür.

Dann wird Alex’ Aufmerksamkeit abgelenkt und buchstäblich von einem Paar heliumverstärkter Brüste gepackt, die in einen Leopardenbody gezwängt sind, der nicht einmal mehr versucht, sie zurückzuhalten. Und sie bleibt sprachlos stehen, wie festgeklebt vor dem Fenster.

Ihre Vorstellungskraft beginnt zu rasen und projiziert vor ihr ein animiertes Bild in Technicolor auf einem fliesengroßen Stück Zelluloid. Darauf erkennt sie eine kleine Mücke mit Brille, die herumfliegt und knattert wie ein altes Moped. Sie muss schlecht sehen oder abgelenkt sein, denn sie hat nicht die Heroine bemerkt, die verzierte Nachahmung einer Riesenskulptur von Niki de Saint Phalle, und steckt aus Versehen ihren kleinen Saugrüssel in einen der beiden Euter! Zwei, drei Sterne, die über ihrem Kopf umherwandern, weil sie ziemlich angeschlagen ist, und dann dringt ein beunruhigendes Pffft in den Soundtrack ein. Und das aufgeblasene Leopardenmädchen beginnt mit einem langen Zischen, die Luft zu verlieren. Und damit setzt ein Festival ein. Zuerst wirbelt sie sehr schnell und in alle Richtungen zwischen den vier Ecken des Bildes umher. Sie verbindet Längen, Diagonalen und Figuren auf völlig unvorhersehbare Weise und springt willkürlich in alle Dimensionen ihres Glaswürfels. Dann wird ihr verrückter Sprint langsamer, und bald ist sie nur noch eine leere Hülle, die langsam, wie in Zeitlupe, herunterfällt wie ein abgestorbenes Blatt oder eine Feder, bis ihre Haut, die jetzt im Body schwebt, schlaff und flach auf dem Teppich landet. The End.

Heftige Schläge an die Schaufensterscheibe reißen Alex aus ihrem Cartoon heraus, bringen sie auf ihre Seite des Bürgersteigs zurück und lassen vor ihren Augen wieder das Mädchen in all seiner vollen Üppigkeit erscheinen. Die Frau wirft ihr einen finsteren Blick zu, der Mund formuliert Beleidigungen, die sie nicht versteht, unterstrichen von einem Stinkefinger, der »Verpiss dich!« bedeutet. Alex erwidert ihren Gruß mit dem Mittelfinger, sogar mit beiden. Auf jeden Fall muss sie gehen.

Der Regen ist stärker geworden und sickert langsam in ihre Sweatjacke. Sie setzt ihren Weg vom Zentrum zum Stadtrand fort.

Kurs Babylon, der alternative Club in einem Außenbezirk, eine Lagerhalle, die fast unverändert gelassen wurde und in der man am Wochenende Punkgruppen, Hardcore, Thrash Metal oder Industrial sehen kann, oft gut und vor allem sehr laut. Die Eingänge bewacht ein rasierter Koloss, ganz in Leder, Typ Biker, mit einem zu einem Zopf geflochtenen Bart, der bis zum Bauch hinunterhängt. Von Weitem beeindruckend, doch recht freundlich, wenn man sich nähert. Sie bekommt sogar ein zum Teil zahnloses Lächeln.

Es ist noch früh, und die große Halle wirkt fast verlassen. Gedämpftes Licht, dicke Ventilatoren an der Decke zwischen einem Gewirr von Stahlrohren, Betonfußboden. Zwei Theken, die sich auf den Längsseiten gegenüberliegen. Die Bühne, sehr hoch, nimmt den ganzen Hintergrund ein und scheint auf einer Wand von Lautsprechern zu ruhen, die sich über die volle Breite des Raums erstreckt. Heute Abend auf dem Programm eine Industrial-Trash-Punk-Band aus Lothringen. Das wird bestimmt der Hammer, und genau deshalb ist Alex da.

Im Moment dröhnt Psalm 69 von Ministry aus den Lautsprechern, und das tut ihr so richtig gut. Sie geht zur Theke auf der linken Seite, die von blauen Neonleuchten hervorgehoben wird, und bestellt ein Kasteel Donker. Allmählich hat sie ganz schön einen im Kasten. Die 11 % ihres Bieres nähren weiter das Feuer, das sie schon am frühen Nachmittag gelegt hat. Und die Musik von Al Jourgensen lässt eine kochende, mit Schwermetallen aufgeladene Flüssigkeit durch ihren Körper strömen.

Nach und nach füllt sich der Saal. Ein zweites Bier. Dann ein drittes mit Schuss. Und Pretty Hate Machine von NIN, während sie all dies in sich reinschüttet. Sie liebt diesen Ort definitiv. »Head Like a Hole«, »Terrible Lie«, »Down in It«. Diese Stücke versetzen sie um Jahre zurück, in ihr früheres Leben, das jetzt so fern ist, dass es anscheinend von einer anderen gelebt wurde … Sie fragt sich sogar, ob es nicht völlig erfunden wurde …

Die Musik wird in der Mitte von »Sin« unterbrochen. Die Halle ist schnell in Dunkelheit getaucht, und das Bild eines Turmes, eines mit rostigen Geländern versehenen Wachtturms, zeichnet sich ab, wird auf einen riesigen Bildschirm projiziert, der die ganze Wand hinter der Bühne bedeckt. Sie verlässt die Theke und nähert sich dem Schlachtfeld.

Drei Typen mit Sturmhauben und Bauhelmen auf dem Kopf erscheinen. Der Gitarrist und der Bassist schließen ihre Instrumente an und stellen die Höhe ihrer Mikros ein, während der Dritte sich hinter einer Reihe von Tastaturen und Samplern niederlässt, die ihn fast vollständig verbergen. Der Saal hält den Atem an. Rote und orangefarbene Scheinwerfer beginnen das Halbdunkel zu durchdringen.

»Wie ihr wisst, nennen wir uns Muckrackers, und was ihr da hinten seht, ist ein Hochofen. UND WIR HABEN EINEN IM KOPF!!!!!«

Der Gitarrist, der das geschrien hat, nimmt nun ein Riff mit drei Beats und Loops in Angriff, das durch und durch geht. Der Titel des Stücks, »Konkassor«, blinkt auf dem Bildschirm, und das Erlebnis wird total.

Ein langer Rückkopplungseffekt verfeinert sich zu einem Bohrgeräusch, das an den Nervenwurzeln zerrt, dann explodiert das tonale Chaos, und Eisenschmelze strömt in großen Blasen von der Bühne, setzt die Lautsprecher in Flammen, fließt auf die Tanzfläche, füllt den Saal wie eine Flutwelle und schleudert Myriaden von glühenden Funken in den Raum, eine brennende Wolke, die beim Aufprall alles verzehrt. Das Geschrei des Sängers vermischt sich mit Samples aus alten Radio- oder Fernsehnachrichten, in denen Streiks in den Minen und Stahlwerken Lothringens kommentiert werden, während Bilder in einer schnellen, ruckartigen, stroboskopischen Montage vorbeiziehen, die wahllos Arbeiter bei der Arbeit, den Abbruch von Industrieanlagen, Explosionen, Bombardierungen, Trümmerhaufen, von der Anstrengung zerfurchte Gesichter und von Menschenfressermaschinen versklavte Körper miteinander verbinden.

Nach und nach kommt Alex in Einklang mit diesen Visionen eines heillosen Chaos, mit diesen ohrenbetäubenden Dampfhämmern, diesen brennenden Schwefel- und Phosphorstrahlen. Sie schließt die Augen und stößt einen heiseren Schrei aus, ein wildes Heulen, das aus ihrem Bauch aufsteigt und jede Zelle ihres Körpers vibrieren lässt.

Der Weltuntergang hat begonnen. Das ist der Anfang von Ragnarök! Die Zeit der furchtbaren Stürme und der Wölfe, die das All verschlingen. Die letzte große Schlacht vor der Vernichtung. Sie muss kurz lächeln, als sie die singende Stimme ihrer Großmutter Hjördis hört, die ihr die großen Mythen aus ihrer Heimat Norwegen erzählt. Der Lärm schlägt sie in seinen Bann, sie kann darin das Geschrei der Krieger vernehmen, die vor dem letzten Angriff mit ihren Äxten auf die Schilde schlagen. Und der Deich, der all ihren Hass eindämmt, diese schwarze Galle, die sie seit Monaten ständig ausscheidet, zerbröckelt, bekommt Risse und bricht schließlich zusammen. Loki, der Lügengott, der Verräter, der vor Wut Schäumende, begleitet sie. Sie verlässt sich auf ihn, streicht sich über den Hinterkopf, auf dem die vier Runen seines Namens tätowiert sind, und stürzt sich wutentbrannt in den Kampf.

Kopfüber wirft sie sich in die barbarische Schlägerei, die den ganzen Platz einnimmt. Das kompakte Handgemenge ist eine monströse mythologische Kreatur, deren vielfältige Körper sich gegenseitig zerfleischen, deren unförmige Köpfe ihr Gebrüll ausstoßen, deren Pfoten auf den Boden schlagen, sich anrempeln und umstoßen. Als ob man unter dem Fleischklopfer gelandet wäre. Fußtritte, Ellbogenstöße, Fausthiebe, Schulter- und Kopfstöße. Alex teilt blind aus und steckt ein, betäubt von Lärm, Erregung, Joints und Alkohol, gedopt mit Adrenalin und Verzweiflung, geschützt von ihrem zerstörerischen Gott, unverwundbar in diesem apokalyptischen Kampf. Die Zusammenstöße und Reibereien erzeugen die dunkle Energie, die die Raserei der Horde nährt. Der makabre und brutale Tanz reißt alle mit in eine ständige Bewegung. Dieser unbändige, epileptische Sabbat wird bis zum Ende der Zeiten dauern.

Ein harter Schlag mitten ins Gesicht unterbricht abrupt ihren Stammestanz.

Alles bleibt stehen. Alex hat den Sound verloren. Das Bild auch. Sie bleibt einen Moment in der Luft hängen, aufrecht gehalten von der Masse der anderen sich bewegenden Körper, dann fällt sie auf den Boden des Mörsers, und das Stampfen geht weiter. Rückkehr des Lärms und der Wut. Sie kauert sich zusammen, benommen. Schluckt warmes Blut und versteht, dass alles zu Ende gehen kann. Hier und jetzt. Endlich.

Dann entspannt sich ihr ganzer Körper und überlässt sich dem Stampfen. Sie wird zu einer schlaffen Masse, die keinen Widerstand mehr leistet. Ein formloses Gelee, in das die Schläge eindringen. Sie macht sich in die Hose. Gibt nach und lässt alles über sich ergehen. Getrampelt, zertreten, am Boden, erledigt. Brei, Matsch, eine große ekelhafte Pfütze. Man braucht das Ganze nur noch aufzuwischen, in einen Eimer auszuwringen und in die Gosse oder ins Klo zu schütten. Sie wird verschwinden. Spurlos. Die werden sie nie wiederfinden.

Als sie sich die Vollendung dieses finalen Szenarios ausmalt, lächelt sie über die Art und Weise, in der sie sie ficken wird, Junior und die Meute, die er auf sie angesetzt hat. Doch plötzlich greift ihr jemand unter die Achseln und zieht sie aus dem Getümmel heraus. Sie schreit, will, dass man sie zufriedenlässt, und vor allem, dass man sie krepieren lässt. Man soll sie nicht retten. Nicht jetzt, wo alles seinen Abschluss findet. Doch ihre Schreie bringen nicht mehr als ihre schwachen Versuche, sich gegen die Hilfe zu wehren.

Bald liegt sie ausgestreckt auf dem Boden, die rechte Wange badet in einer kleinen, sich langsam ausbreitenden Pfütze aus Rotz und Sabber. Zopfbart beugt sich über sie. Er lächelt nicht mehr so wie am Eingang. Sieht eher besorgt aus. Will ihren Samariter spielen. Scheißfreundlich! Sie hat ihn um nichts gebeten. Der Blödmann hat sie um ihr Halali gebracht. Ihren Abgang vermiest.

Der Rausschmeißer wischt Alex’ Gesicht mit einem feuchten und kalten Lappen ab, der danach blutig ist. Sie sagt sich, dass man ihr wahrscheinlich die Fresse eingeschlagen hat, aber sie spürt nichts davon. Jedenfalls im Moment. Sie kann nur das linke Auge öffnen. Er hebt sie hoch wie eine Feder und trägt sie zur Seite. In seinen großen Armen fühlt sie sich ganz klein und schwach. Sich so zerbrechlich und verletzlich zu fühlen, ist ihr ein Horror.

Sie wehrt sich, versucht sich zu befreien, aber er hält sie fest und bringt sie in ein Zimmer, das von grellem, aggressivem Neon erleuchtet und in dem das Getöse des weitergehenden Konzerts nur noch gedämpft zu hören ist. Zumindest nimmt Alex das so wahr, denn ihre Trommelfelle haben auch was abgekriegt.

Ihr Bernhardiner setzt sie in einem alten Clubsessel ab und holt einen Erste-Hilfe-Kasten. Die beiden sprechen nicht. Sie, weil sie sich ein wenig matschig fühlt, und auch weil sie nichts Besonderes zu sagen hat, und vor allem nicht Danke. Er, weil er die Schnauze voll hat von durchgeknallten Gästen, die sich aufs Maul hauen, und weil er sich auf das konzentriert, was er tut. Ein antiseptischer Verband. Ihr tut noch immer nichts weh. Dann schnelle Blicke zwischen ihrem blutigen Gesicht und der Schachtel mit den Pflastern: ein kleines für den Nasenrücken, ein mittleres für den rechten Mundwinkel und ein großes für die linke Augenbraue.

Dann fragt er, wo sie wohnt, und sie zieht aus der Tasche ihrer Sweatjacke einen Schlüsselbund vom Hostel De Draecke. Er nimmt sie wieder auf die Arme, um sie zu seinem Wagen zu tragen, und fährt sie nach Patershol. Kaum eine Viertelstunde Fahrdauer, der Verkehr ist flüssig. Alex schließt die Augen. Sie reden kein Wort.

Er bringt sie bis zu ihrem Zimmer, indem er sie am Ellbogen festhält wie eine kleine alte Oma, der man über die Straße hilft. Dann gibt er ihr den Schlüssel, zieht die Tür zu und geht.

»Slaap lekker!«

»Ja, du hast recht! Gute Nacht, Arschloch!«

Alex, mit dem ausgestreckten Mittelfinger hinter der Tür, sagt sich, dass Zopfbart einen verdammt guten Sinn für Humor hat: Sie wird bestimmt eine außergewöhnliche Nacht verbringen.

Ihr ist kalt, und der Schmerz macht sich nun im ganzen Körper in kleinen heimtückischen Wellen bemerkbar, die immer stärker werden. Wie ein Häufchen Elend hockt sie an der Tür und versucht, sich aus den feuchten und blutigen Klamotten zu schälen, die nach Kippen und Pisse stinken.

Alles fällt ihr schwer. Ihre Bewegungen sind langsam und ungeschickt. Die Doppelknoten der Schnürsenkel haben sich im Regen zusammengezogen, und sie bräuchte jemanden, der ihr hilft, die hohen Doc Martens auszuziehen, die scheinbar hauteng an ihren Füßen festgeschweißt sind.

Sie schlägt sich mit den Knöpfen am Hosenschlitz herum. Fünf, die sie schließlich mit letzter Kraft überwindet. Die Jeans, durchnässt und stinkend, klebt ihr an der Haut. Sie muss sie bis zu den Knöcheln auf links drehen, um sich von ihr zu befreien. Plötzlich hat sie das ekelhafte Bild eines Aals vor Augen, dem man die Haut abzieht und der sich windet. Das ist wirklich nicht der richtige Moment dafür. Sie muss sich übergeben.

Die Arme zu heben und das T-Shirt über den Kopf zu ziehen, ist eine Tortur. Ein oder zwei Rippen sind bestimmt gebrochen. In ihren Schläfen hämmert es.

Ihr Schädel scheint anzuschwellen und aus der Form zu geraten. Sie sieht sich mit einem Wasserkopf voller Auswüchse à la Joseph Merrick. Und sie denkt, dass sie mit alldem und ihren Tätowierungen eine Hauptattraktion in der verdammten Freak Show bilden würde.

Ihre Speicheldrüsen spielen verrückt. Nackt wie ein Wurm kriecht sie über die ein Meter fünfzig, die sie von der Toilette trennen, und, festgeklammert am Klodeckel, den Kopf in der Schüssel, spuckt sie, wie es ihr scheint, literweise eine bittere Brühe aus. Jeder neue Brechreiz entreißt ihr ein dumpfes animalisches Wimmern, wie bei einem gebärenden oder sterbenden Tier. Sie verliert das Bewusstsein.

Als sie flach auf dem Bauch auf den kalten Kacheln erschöpft wieder zu sich kommt, gelingt ihr nicht die geringste Bewegung. Nach einer Weile, vielleicht zehn Minuten, einer Viertelstunde, einer Stunde, öffnet sie, zu Eis erstarrt, wieder das Auge und schafft es, sich langsam kriechend und unter starken Schmerzen zur Dusche zu schleppen, sich dort aufzusetzen und auf den Druckknopf zu drücken. Der Wasserdruck auf ihrer geschundenen Haut ist zu stark. Sie beißt die Zähne zusammen und überlässt sich dem Strahl, erst kalt, dann wärmer und schließlich heiß. Und dann nichts mehr.

Aus lauter Zorn

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