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Kapitel 9

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11. November 2006, Gent, Hostel De Draecke

Der Schmerz strahlt aus, ist kaum zu ertragen. Ihr ganzer Körper ist zerschlagen, zerschmettert, verwüstet. Sie ist in Stein verwandelt. Eine leidende Grabfigur, ausgestreckt in ihrem Schlafsack wie in einem Kokon.

Der Sturm von Sonntagabend ist vorbei. Ein heftiger Sturm, nun haben sich die Wogen geglättet, aber ihre blauen Flecken, Wunden und Beulen zeugen davon, dass es sie getroffen hat. Fast ein Schiffbruch.

Seitdem sie Montag vor fünf Tagen wieder zu sich gekommen ist, führt sie ein quasi vegetatives Leben. Sie schläft viel und denkt gern, dass ihr Körper sich im Schlaf erholt und heil wird. Sie stellt sich eine Kohorte von winzig kleinen Arbeitern vor, die zerrissene Taue spleißen, Löcher verstopfen, an den Pumpen stehen, hobeln, kalfatern, den Ballast wieder ins Gleichgewicht bringen. Und sie stellt Tag für Tag die Fortschritte auf der großen Miniwerft fest.

Die beiden ersten Tage verließ sie ihre Koje nur, um pinkeln zu gehen, kurz zu duschen und ihren Körper wiederzubeleben, indem sie ihn erst kaltem, dann lauwarmem und dann heißem Wasser aussetzte.

Mittwoch versuchte sie zum ersten Mal auszugehen und schleppte sich, so gut sie konnte, bis zur Cafeteria des Hostels, um sich dort hinzusetzen, einen abgestandenen Kaffee zu trinken, dann einen zweiten, und auch um sich an dem Automaten zu vergreifen, den sie von seinem Mars-Vorrat befreite. Nur die Riegel mit Schokomousse, keine Nuts und keine Snickers. Nüsse und Erdnüsse kann sie noch nicht kauen.

Gestern ist sie zu dem Typen am Empfang gegangen und hat ihm einen Geldschein gegeben, damit er ihr eine Flasche Genever besorgt. Fachleute für Entziehungskuren würden ihre Alkohol-Joints-Schokoladen-Diät sicher verurteilen, doch sie spürt, dass es ihr allmählich besser geht. Und dieser Cocktail hilft ihr zu schlafen, einen schweren, tiefen Schlaf, ohne Träume und Alpträume. Schwarz und dicht wie das Vergessen und das Nichts, in dem Junior sie nicht erwischen kann.

Seit diesem Morgen muss sie ständig an Bernd denken und an ihre Verabredung in zwei Tagen. So lange kann sie nicht warten. Sie wird ihn heute Nachmittag aufsuchen. Diese vier Wände geben ihr das Gefühl, im Krankenhaus oder sogar im Knast zu sein. Sie ist in Isolationshaft und bekommt keinen Besuch. Die Einsamkeit und das Schweigen machen sie langsam verrückt. Sie muss hier weg.

Während sie darauf wartet, sich aus ihrem Sarkophag-Schlafsack zu schälen, denkt sie wieder an ihr Treffen im letzten Jahr, im Juli, beim Gentse Feesten, dem großen Fest von Gent. Ein zehn Tage dauerndes Fest mit Konzerten an verschiedenen Orten der Stadt.

Es war drückend, stürmisch, und sie verbrachte den Abend am Bierstand, von dem aus man einen guten Blick auf die Bühne hatte, die auf dem Korenmarkt errichtet worden war. Sie hörte PPz30, eine belgische, eher verrückte Fusion-Funk-Band, während sie einige kühle Duvels schlürfte und mit einer gewissen Ungeduld auf den Auftritt von Pigalle und François Hadji-Lazaro wartete.

Sie hatte bereits beschlossen, das letzte Konzert wegzulassen, Zachary Richard, dessen Name auf den Plakaten sie fast zum Kotzen gebracht hätte. In ihrem früheren Leben hatte sie den Sänger der Cajun-Kultur gemocht. Doch heute war Schluss damit. Louisiana, Zydeco, die Bayous, »Les Haricots Sont Pas Salés«. Vorbei. In einer Kiste, versiegelt, verplombt. Eine echte Büchse der Pandora. Und immer noch dieser verdammte Schlammgeschmack im Mund, der sie nicht mehr verlässt und den sie an diesem Abend in Gent mit Bier wegspülte.

Als sie sich umdrehte, um noch ein Duvel zu bestellen, stieß sie auf diesen großen Kerl, der hinter ihr lehnte, die Musik auch lieber aus einer vernünftigen Entfernung genoss und Erfrischungen bevorzugte. Sie hatten sich zugenickt und sogar angelächelt.

Sie fand gleich, dass er gut aussah mit seinen leicht verschwommenen grünen Augen, umringt von einer kleinen Schildpattbrille, seinem kurzen Irokesenputz und dem Grübchen am Kinn. Dann wurde ihr Blick von Tätowierungen angezogen, die unter den Ärmeln seines T-Shirts auftauchten und seine Arme bis zu den Handgelenken bedeckten. Ein dichtes Geflecht, wie mit schwarzer Tusche und einem feinen Pinsel gezeichnet, von dem sie nicht wusste, ob es Rinde oder Stein war, Pelz, Feder oder Faser, Wasser, Erde oder Feuer. Vielleicht eine Mischung aus alldem, wie eine Schimäre, die alle Elemente der Schöpfung kombinierte, eine ursprüngliche Kreatur, Matrix der Welt.

Von dieser kosmogonischen Bildwelt beflügelt, war ihr Geist abgeschweift, weit weg von den stinkenden Swamps und vom Korenmarkt. Sie fand sich in Norwegen wieder, in Aglen bei ihrer Großmutter, und war aufgebrochen, um mit ihr das Astwerk von Yggdrasil zu erforschen, des ersten aller Bäume, der großen immergrünen Esche, die die neun Reiche der nordischen Mythologie trägt. Ausgestreckt auf einem Ast über der Leere, betrachten sie beide lachend den verrückten Lauf von Ratatöskr, dem Eichhörnchen, sein wütendes Kommen und Gehen auf dem ehrwürdigen Baumstamm, um dem namenlosen Adler die Schmähungen von Niddhöggr, der Schlange, zu überbringen. Und umgekehrt.

Klirrende Gläser. Der große Typ hatte gerade mit dem Bier angestoßen, das sie in der Schwebe gelassen hatte, und sie auf den Korenmarkt zurückgeholt, neben sich und sein Lächeln.

»Hi, ich bin Bernd.«

»Hi, Alex.«

Er erzählte ihr, dass er Tätowierer sei, nicht weit von hier, aber auch Illustrator von Kinderbüchern und Zeichner von Storyboards. Das Eis war gebrochen. Sofort.

Und als der Sturm, der den ganzen Tag drohte, schließlich ausbrach, packte er sie an der Schulter, und sie rannten zum ’t Dreupelkot, fanden Zuflucht in dieser winzigen Arche und sahen zu, wie der schwarze Regen fiel, ohne ein Glas bestellen zu können, da es brechend voll war.

Also zogen sie weiter, er nahm sie an der Hand, und sie liefen zu ihm nach Hause, unter warmen Wasserfluten, im auf dem Pflaster fließenden Wasser, durch Pfützen. Vom Sturm berauscht, von der Spannung ihrer eng verschlungenen Körper in der dichten Menge der Genever-Bar und von der Elektrizität dieser improvisierten, unerwarteten Begegnung.

Sie gingen ins Tattoo-Studio, in dem eine Tür im Hintergrund zu einer Treppe führte, die zu seiner Wohnung hinaufging. Sie befreiten sich von ihren nassen Schuhen, ohne sie aufzubinden, stiegen aus den Jeans, indem sie sie auf die Knöchel hinunterschoben, ohne sich aus den Augen zu lassen, sich gegenüberstehend, ohne aufzuhören zu lächeln. Dann beugte er sich über sie, gab ihr einen schnellen Kuss und zog ihr das T-Shirt aus.

Und die freudige, beinahe übersprudelnde Energie sackte plötzlich ab. Alex sieht deutlich wieder den bestürzten Blick, den Bernd an diesem Abend auf ihren geschundenen Körper warf. Sie hatte sofort verstanden, dass er verstand. Dass sie diese blassen Sonnen, die ihre Brust verunstalteten, und alle erloschenen Sternbilder, die ihren Bauch, ihre Arme, ihre Schenkel überzogen und sich rund um ihre Scham konzentrierten, dass sie sich all diesen Schmerz nicht selbst zugefügt hatte.

Er erstarrte, sein grüner Blick versank in Alex’ Augen, ernst, düster, bewegt, verschämt. Wie ein Nichteingeweihter, der einen Ort voller Mysterien und Geheimnisse betritt. Er schloss die Augen.

Also stellte sie sich auf die Zehenspitzen und gab ihm leichte Küsse auf sein Grübchen, seine Lippen und Augenlider. Dann streckten sie sich aus, Alex nahm Bernds Hände und legte sie auf sich. Er streichelte ihren Körper, so wie man eine trostlose Landschaft, ein verwüstetes Land erkundet, das vom kalten Licht des Mondes beleuchtet wird und in dem sich unter der Heide ein mikroskopisches und unterirdisches Leben regt. Er liebkoste sie mit seinem Atem, berührte sie, streifte sie kaum. Mit den Fingerspitzen wanderte er hin und her, kostete sie mit der Zungenspitze, und überraschend wurde Alex von Lust ergriffen. Lange, heftige, blaue Entladungen, die aus der Tiefe ihres Leibes kamen und sich in ihrem ganzen Körper ausbreiteten, um die kleinsten Muskeln, die kleinsten Nerven wiederzubeleben. Sie fühlte sich plötzlich lebendig und vibrierte in allen Zellen. Und sie erinnert sich, dass sie damals an die Verlobte von Frankenstein gedacht hat, eingepuppt in vernarbtes Fleisch, wiederbelebt auch sie, durch einen Blitz an einem stürmischen Abend.

Und sie wusste, dass sie ihre Haut Bernd anvertrauen wollte. Dass er die Spuren beseitigen konnte. Dass er ein unauslöschliches Verlies aus Tinte schaffen würde, um darin ihre Erniedrigungen und Schrecken einzuschließen. Eine schwarze und dichte Masse, die sie für immer einsperrt, die sie verschwinden lässt.

Aus lauter Zorn

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