Читать книгу absolut solide - Vanessa S. Morolt - Страница 10

Achtes Kapitel:

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„Ich habe einen Freund“, sage ich stockend. „Und er heißt Alexander. Alexander Tewaag.“

„Alexander Tewaag?“, wiederholt Natascha und wirkt ein wenig bleich. Wahrscheinlich der Eisenmangel, wegen dem sie seit ein paar Tagen dieses Kräuterblut trinkt.

„Sie meint natürlich Kitt, du Dummchen“, mischt Tine sich ein. „Nun erzähl doch!“

„Wir waren in der Kirche, bei der Oma zu Mittag und dann Picknicken. Das ist alles.“

Tine wirkt enttäuscht. „Na, was habe ich bei dir auch erwartet.“

Vier Tage lang höre ich gar nichts von ihm. Wir haben auch noch nicht einmal unsere Handynummern ausgetauscht und ich bin zu stolz, Thomas danach zu fragen oder Alexander nach der Arbeit abzufangen. Immerhin hat er mich überstürzt zu Hause abgesetzt und hätte sich doch danach als Erster bei mir melden müssen, oder?

Letzte Woche hat Kati Natascha zur Geburtsvorbereitung mitgenommen, aber diese Woche kann sie nicht kommen, sagt Natascha. Deshalb muss ich neben ihr sitzen, als sie zum Babyboom fährt. Noch neun Wochen, dann wird das Baby kommen. Zurzeit steckt Natascha selbst im Prüfungsstress. Die Zentralprüfungen stehen an und ich höre sie jeden Abend in Deutsch, Englisch und Mathe ab. Sie hat schon vorher mit Kati gelernt und den Stoff recht gut drauf.

„Warum lernst du denn nicht mehr mit Kati?“

„Sie muss sich schonen. Sie war zwei Tage im Krankenhaus, weil sie vorzeitige Wehen hatte. Hat sie zumindest gedacht, aber die Ärzte meinen, es seien nur Senkwehen. Sie hat ja nur noch sechs Wochen bis zum Termin.“

„Also kann ihr Baby bald kommen?“

Vor der Ampel schaltet Natascha in den ersten Gang und ordnet sich rechts ein.

„Besser wäre es, wenn sie noch mindestens zwei Wochen durchhält, sonst sind die Lungen vielleicht noch nicht richtig entwickelt. Ralf war jedenfalls ziemlich besorgt.“

Es ist grün und sie fährt über die Kreuzung, links an Möbelladen und Tankstelle vorbei, rechts passieren wir einen großen Supermarkt, in dem ich später noch einkaufen könnte, denn der hat jeden Tag bis 22 Uhr geöffnet.

„Wer ist Ralf? Der Kindsvater?“

Natascha zögert. „Ihr Freund, vielleicht auch der Kindsvater.“

„Vielleicht?“, ich grinse spöttisch. „Deine Freundin weiß nicht, von wem sie schwanger ist?“

„Bitte, Rebecka, sag´ nichts. Ich habe es versprochen.“

Sie blinkt in den Kreisverkehr – kurz: Kreisel - hinein und blinkt nicht als wir ihn wieder verlassen. Vollkommen falsch.

„He, konzentrier dich auf die Straße“, ermahne ich sie, als sie einen kleinen Schlenker macht. „Ich kenne sie doch gar nicht, ist mir doch egal, mit wem sie ins Bett geht.“

Während Natascha atmet und hechelt, treffe ich mich mit Rike in der Stadt auf ein Eis. Das italienische Eiscafé ist im unteren Geschoss eines Gründerzeithauses untergebracht und hat das Glück, nicht nur an der Hauptstraße zu liegen, sondern auch einen großen Innenhof zu haben, wo man gemütlich draußen sitzen kann ohne dem direkten Verkehr und den Blicken der Passanten ausgesetzt zu sein.

„Wann treffen wir uns denn nun morgen zum Abiball?“ Henrike leckt ihren Löffel ab.

„Ach, den habe ich ganz vergessen“, gebe ich zu. Im Schrank hängt seit Wochen ein dunkelblaues Cocktailkleid aus Satin, das meine Mutter hinter meinem Rücken für mich gekauft hat.

„Wird Kitt dich begleiten?“

„Weiß ich auch nicht. Denke, das ist nicht so sein Ding.“

Meine Freundin nickt, als sei es nicht seltsam, dass ich meinen Freund nicht eingeplant habe.

„Um zehn habe ich für uns beide Friseurtermine in dem neuen Laden an der Hauptstraße gemacht. Wegen Haare aufstecken, das kriege ich selbst bei mir nicht hin und ich hatte gehofft, du begleitest mich.“ Mit der Rechten winkt sie dem jungen schlaksigen Kellner zu und bestellt noch einen Cappuccino.

„Ja, warum nicht? Normalerweise macht das Natascha, aber vielleicht haben die Experten ja ein paar hilfreiche Ideen. – Oh, ich muss los, der Kurs ist schon zu Ende.“

Ich drücke meiner Freundin das Geld für das Eis in die Hand und laufe los. Von der Eisdiele sind es ungefähr fünf Minuten Weg bis zur Hebammenpraxis. Zwei Zebrastreifen und drei Straßenecken weiter bin ich angekommen.

Zu Hause fängt mich meine Mutter an der Tür ab.

„Der junge Mann, dieser Alexander, wollte dich besuchen. Ich habe ihn zu Thomas geschickt, weil ich nicht wusste, ob es dir recht ist, wenn er in deinem Zimmer wartet.“

„Ach so.“

Ich mustere Mama, um rauszukriegen, was für einen Eindruck sie von ‚dem jungen Mann‘ hat. Sie zeigt sich aber ganz arglos. Bei vier Kindern und gefühlten 50 ein- und ausgehenden Freunden und Freundinnen hat sie sich eine gewisse Professionalität angeeignet. Also hänge ich nur meine Strickjacke an der Eichenholzgarderobe hinter der Haustür auf und gehe durch die Zwischentür und die Treppe ins Erdgeschoss zurück.

Mein Bruder und Alexander fläzen sich auf der alten Couch von Opa und spielen Play Station. Fußball.

„Hallo“, sage ich und bekomme ein kurzes Kopfnicken. Das wird mit Sicherheit noch eine Weile dauern. Deshalb schnappe ich mir eine Zeitschrift aus einem Pappkarton, in dem Thomas seinen ganzen Papierkram aufbewahrt und werfe mich in einen Sessel. Autos! War ja klar. Na wenigstens kein Schmuddelmagazin, das wäre mir ziemlich peinlich gewesen.

Bereits fünf Minuten später johlt Thomas begeistert auf und gibt Alexander einen heftigen Boxhieb. Man merkt, dass ihm ein Bruder fehlt.

„Ha, hab´ ich dich! Drei zu zwei in letzter Minute! Yeah!“

Ein wenig halbherzig flucht Alexander vor sich hin und wirft den Joystick in die Ecke.

„Sah erst gar nicht gut für mich aus“, erklärt mir Thomas, als würde mich das interessieren. „Bist genau richtig zum Ablenken gekommen. Mit deinem Erscheinen begann sein Abstieg“, freut er sich.

„Na, da bin ich ja froh, dass du kein Profisportler bist, sonst würde ich deine ganze Karriere zerstören“, flachse ich.

Alexander grinst.

„Ähem ja, wenn ihr es mir nicht übelnehmt, hätte ich jetzt gerne meine Ruhe. Bin ziemlich groggy“, geräuschvoll gähnt Thomas.

Mein Bruder, die Partymaus, will schlafen? Um kurz nach acht?

„Du bist eher ein alter Kuppler“, werfe ich ihm vor, lasse mich aber willig von Alexander auf den Flur ziehen. Als wir allein sind, küsst er mich endlich, diesmal mit Drei-, nein Vier-Tage-Bart.

„Warum hast du dich nicht gemeldet?“

„Ich habe auch nichts von dir gehört“, wirft er mir vor, aber mit einem Lächeln. „Kann ich von einer Frau nicht auch ein wenig Initiative erwarten?“

Verlegen sehe ich auf meine Fußspitzen.

„Vielleicht.“

Meine Finger fahren den Schriftzug auf seinem T-Shirt nach.

„Ich habe nicht mal deine Handynummer.“

„Und ich nicht deine.“ Er nestelt sein Handy hervor und gibt es mir. Langwierig kämpfe ich mich durch das Menü, denn er besitzt eine Handymarke, die ich noch nie in Fingern hatte, und speichere meine Nummer. Dann schicke ich mir selbst eine SMS über sein Telefon.

„Dein Hintern piept.“

Alex umfasst meine Pobacken, scheinbar, um mein Handy ausfindig zu machen.

„Komm, gehen wir zu mir.“

Über den Flur ziehe ich ihn hinter mir her, treppauf, nochmals treppauf und in mein Zimmer. Hinter jeder Tür glaube ich eine meiner Schwestern durchlinsen zu sehen, doch das ignorieren wir beide.

In meinem Zimmer sieht sich Alexander genau um. Mein Zimmer ist mit schlichter weißer Raufaser tapeziert und die klebt da auch schon seit fast acht Jahren. Eine große Korkpinnwand gespickt mit Postkarten, Eintrittskarten von Konzerten und Museen, hängt an der einen Wand, daneben ein Memoboard mit Magneten und den nächstanstehenden Terminen. Ich gehe an Alex vorbei, wische die abgelaufenen Termine mit dem Handrücken weg und schreibe mit dem schwarzen Marker: Sa, 10.00 Friseur; 19.00 Abiball

„Abiball. Ach, sowas gehört ja auch dazu.“

„Klar. Hast du kein Abitur gemacht?“

Ich weiß echt gar nichts über ihn. Nicht mal, wo er früher gewohnt hat. Ein Sofa gibt es in meinem kleinen Zimmer nicht, nur einen großen uralten Sessel, den ich mit einer bordeauxroten Cordhusse überzogen habe, um den hässlichen abgeriebenen Bezug des Polsters zu überdecken. Darauf liegen ein paar Bücher, die ich schnell ins Regal zurückräume um Platz zu schaffen falls Alexander sich setzen möchte.

„Nein, ich bin froh, dass ich meinen Abschluss an der Hauptschule geschafft habe.“

Er geht zum Fenster und zieht die limonengrünen Vorhänge zur Seite, um zu sehen, wohin der Fensterblick geht. Ich denke noch über seine Worte nach. Er macht mir intelligenzmäßig nicht den Eindruck, als sei er zu dumm für einen vernünftigen Schulabschluss. Ja, ich bin ein Snob! Ein Hauptschulabschluss ist nicht akzeptabel. Seine scheinbaren Schulschwierigkeiten wundern mich jedoch nicht. Wenn ich mir so seine auffällige Kleidung, die heftig zerfetzten Jeans, die abgelaufenen Sportschuhe und den Pferdeschwanz ansehe, die ein zwar leiser, aber doch sichtbarer Widerspruch gegen die Norm sind, kann ich mir vorstellen, dass sie nur ein schwacher Abglanz eines 17jährigen Revoluzzers sind, der gegen alles rebelliert hat, was von ihm verlangt wurde. Solche Burschen habe ich schon ein paar Mal beim Nachhilfeunterricht erlebt. Mit sanfter aber bestimmter Führung lassen sie sich recht schnell einnorden, denn sie suchen eigentlich nur nach Aufmerksamkeit. Wer ihn wohl zu Hause nicht beachtet hat?

Ich gehe zu ihm und lege mein Gesicht an seinen Rücken, die Arme schlinge ich fest um seine Taille. Er drückt meine Hände.

„Du hast ja einen Balkon“, staunt Alex.

„Ja, er führt rund um die Hausecke und ist auch mit Tines Zimmer verbunden.“

„Könnte ich da eine Zigarette rauchen?“

Die Frage überrascht mich.

„Ich habe dich noch nie rauchen sehen.“

„Kommt nicht oft vor, nur, wenn ich gestresst bin.“

Er dreht sich zu mir um und ich sehe die Ringe unter seinen Augen.

„Du siehst müde aus.“ Sanft streichele ich seine raue Wange. „Was ist denn los? Gibt es einen Grund, weshalb du dich die ganze Woche nicht gemeldet hast?“

„Ach komm, ein bisschen mit dir kuscheln und eine gute Mütze voll Schlaf und dann geht‘s mir wieder gut. Kriege bestimmt nur eine Sommergrippe.“

„Dann ist Rauchen aber nicht die ideale Lösung“, lasse ich die Erzieherin heraushängen.

„Kommt auch nicht so gut beim Knutschen, was?“

Er küsst mich intensiv und ich glaube noch einen leichten Nachhall einer Zigarette vom Vormittag zu schmecken. Aber er hat sich die Zähne geputzt und es kann auch nur Einbildung sein. Seine Hand wandert zu meinem Kofferradio auf einem Wandregal und schaltet es ein. Die Musik lässt ihn das Gesicht verziehen und er löst sich von mir, um den Suchlauf zu betätigen. Schließlich ist er zufrieden. Ob TNT von AC/DC aber der richtige Sound für eine romantische Stimmung ist, bezweifle ich. Nur ehrlich gesagt sind wir so gierig aufeinander, dass wir gar nicht auf die Hintergrundgeräusche hören.

Nur mit unseren Slips bekleidet kommen wir beide viele Minuten später wieder in meinem Bett zu Bewusstsein.

„Tines Futon war bequemer“, meint Alex, während er versucht, in meinem 90 x 200 Zentimeter Kastenbett eine bequeme Position zu finden.

„Da hast du wohl Recht. Was für ein Bett hast du?“

„2 x 2 Meter“, grinst er. „Beim nächsten Mal bei mir?“

„Absolut.“

Wir machen weiter, wo wir aufgehört haben.

„Schlafen wir heute Nacht miteinander?“, frage ich ihn. Die Frage scheint ihn zu verwirren.

„Nein“, meint er schließlich, „ich glaube nicht.“

„Nein? Warum nicht?“

Was ist denn das für eine Masche? Die Dämmerung hat eingesetzt und Alexander setzt sich auf, um meine Nachttischlampe anzuschalten.

„Ich hatte nicht damit gerechnet, dass du schon bereit bist und habe keine Kondome mitgenommen.“

Noch nicht bereit? Hält er mich für eine verklemmte Jungfer? Wahrscheinlich. Vielleicht sollte ich das sofort klarstellen.

„Ich habe noch Kondome.“

Ich wühle in meiner Nachttischschublade. „Wenn die nicht abgelaufen sind. – Und, wenn sie da sind …“

Ich wühle weiter, finde aber nichts. Wahrscheinlich hat sich eine meiner Schwestern hier bedient. Die liegen da ja auch schon seit einem Jahr unberührt da drin.

„Warte mal, Rebecka.“

Alex dreht mich zu sich um. „Sieh mal.“ Er zeigt auf seine linke Brust. Ich kneife die Augen zusammen und sehe dort einen kleinen tätowierten Schriftzug in Schreibschrift: „Discite moniti“, lese ich und krame in meinem Hirn nach der Übersetzung des lateinischen Spruches. „Lernt, ihr Ermahnten.“

„Lernt, ihr seid gewarnt“, wandelt Alex ab. „Den Spruch habe ich mir vor vier Monaten machen lassen, als ich beschlossen habe, mein Leben zu ändern.“

„Als du der Vielweiberei abgeschworen hast?“

Ich lächele schwach, denn ja, zugegeben, die Worte seiner Oma von den ewig wechselnden Mädchen haben mir heftige Stiche versetzt.

„Als ich vierundzwanzig wurde und mein Jugendstrafregister gelöscht wurde. Als ich erfuhr …“, er zögert, „dass es Zeit ist, erwachsen zu werden.“

Jugendstrafregister. Darauf zielen die ganzen Andeutungen, die im Umlauf sind. Straftaten, die zwischen dem 15. und 21. Lebensjahr begangen werden. Ich wusste, dass die irgendwann verjähren, nur nicht, wann.

„Du bist vorbestraft?“, flüstere ich und denke, dass meine Eltern durchdrehen werden, wenn sie erfahren, dass ich mit einem Kriminellen das Bett teile.

Meine Eltern sind relativ locker, was das Übernachten andersgeschlechtlicher Jugendlicher in unserem Haus betrifft. Das mussten sie bei vier Sprösslingen einfach werden. Thomas bringt hin und wieder ein Mädel mit und Tine hat keinerlei Skrupel oft und immer andere Männer anzuschleppen. Aber nachdem sie Sven beherbergt haben und unter unserem Dach ein ungeplantes Kind gezeugt wurde, sind sie empfindlicher geworden.

„Nein, meine Weste ist weiß wie frischgefallener Schnee“, reißt Alexander mich aus meinen Gedanken. „Die Akte wurde vernichtet und ich könnte jetzt sogar Polizist oder Anwalt werden. Nur das hier“, er tippt auf das winzige Tattoo, „soll mich ermahnen, dass ich an mir arbeiten muss.“

Er verrät mir, dass es ihn große Überwindung gekostet hat, seinen Körper für die Ewigkeit zu zeichnen. Gerne würde ich mit einem Witz wie „Ich hol mal ein Mikroskop, um es lesen zu können“ über meine Verlegenheit hinwegtäuschen, mich bewegt allerdings mehr die Frage, warum er glaubt, ich sei nicht bereit, mit ihm zu schlafen.

„Du warst bisher sehr scheu und ich dachte, du verhütest sicher gar nicht.“

Da hat er Recht. „Und da deine Schwester bald ein Baby bekommt … Ich gehe da kein Risiko ein. Doppelter Schutz oder gar nicht.“

„Das bedeutet, wir können die nächsten Wochen nicht miteinander schlafen“, mache ich ihm klar. „Bis ich die Pille nehmen kann …“

Er legt seine Finger auf meine Lippen.

„Ist mir ganz egal. Ich habe Zeit.“

Obwohl ich ihn so gedrängt habe, fällt mir ein Stein vom Herzen. Wenn wir erst soweit gewesen wären, wäre ich vielleicht doch wieder durchgedreht. Die Stimme wäre zurückgekehrt und immer, immer lauter geworden, bis ich selbst geschrien hätte. Wahrscheinlich … Obwohl, bei Alexander vielleicht nicht.

„Was waren das für Straftaten?“

„Ich habe ein paar Mal Autos geknackt, Werkzeug in Baumärkten mitgehen lassen … Komm, lass uns ein bisschen schlafen!“ Er kuschelt sich an mich und ich merke, dass ich an einer Grenze angekommen bin, an der er nicht weitererzählen wird.


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