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Erstes Kapitel:

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absolut solide

Verliebter Sommer





solide 1. fest, gediegen, haltbar, langlebig, massiv, qualitätsvoll, robust, sorgfältig gearbeitet, stabil, stark, strapazierfähig, unempfindlich, anständig


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Warburg, Mai 2011

Printauflage April 2015



Natascha geht mir mal wieder total auf die Nerven! Ich könnte jetzt in aller Ruhe zu Hause an meinem Schreibtisch sitzen und mich auf meine mündliche Prüfung vorbereiten. Stattdessen sitze ich im stickigen Auto, meine Unterlagen umständlich am Lenkrad befestigt und versuche, mich auf meine Lektüre zu konzentrieren. Ist aber nicht so ganz einfach. Dauernd parkt jemand neben mir ein und aus, Autotüren werden zugeschmissen und die Leute begrüßen einander lautstark. An dem Gebäude prangt ein riesiges neonpinkes Schild mit gelber Aufschrift BABYBOOM wobei jedes B wie ein schwangeres Strichmännchen aussieht. Yippie!

Ich gebe es auf, pfeffere den Block auf den Rücksitz und steige aus. Gleich glotzen mich zwei Typen, die auf einer Mauer sitzen und auf ihre Frauen oder Freundinnen warten, von oben bis unten an. Na ja, in meinem grauen Schlabbershirt, das mir bis auf die Knie reicht, sehe ich ja nicht viel anders aus als die werdenden Muttis, deren Kichern durch die offenen Fenster dringt. Aber die beiden Männer sind auch nicht gerade männliche Topmodels. Der Eine trägt trotz des warmen Maiwetters einen Strickpullunder über seinem gestreiften Hemd und eine braune Cordhose. Sieht aus wie ein Uniprofessor und könnte vom Alter auch einer sein. Der andere ist vielleicht halb so alt, kaum älter als ich und trägt verwaschene Jeans und ein uraltes Metallica-T-Shirt, das er vielleicht seinem großen Bruder geklaut hat. Am Auffälligsten wirken aber sein dichter dunkler Bart und die langen Locken, die bis zu den Schultern reichen. Beide grüßen mich freundlich und ich nicke ihnen kurz zu um mich dann so weit wie möglich von ihnen zu entfernen. Ich gucke auf die Uhr: 19.32 Uhr – Mensch, was quasseln die denn so lange? Da ist ja noch nicht mal Aufbruchsstimmung zu hören!

„Die überziehen immer!“, ruft mir der Uniprofessor zu. Wieder nicke ich. Echt keine Lust auf ein Schwätzchen. Morgen ist meine letzte Abiprüfung und ich muss meine blöde kleine Schwester von der Geburtsvorbereitung abholen. Hätte die sich nicht ein halbes Jahr später schwängern lassen können? Und überhaupt, warum bin ich hier… Na ja, das muss man dem Metallica-Burschen ja lassen, der kümmert sich wenigstens um seine Freundin. Nataschas Sven hat sich ganz fix aus dem Staub gemacht. Er wohnt zwar immer noch zwei Orte weiter und geht in die elfte Klasse auf meinem Gymnasium, also eine Klasse unter mir, aber offiziell kennt er keinen aus Nataschas Familie mehr.

„Ein Vaterschaftstest wird das dann schon alles klarstellen“, hat seine Mutter rumgetönt. „Mein Sven, der macht sowas nicht!“

Hallo?! Wer da nicht alles wie und was mit wem macht! In meinem Jahrgang waren schon so viele miteinander verbandelt, dass ich mich schon lange an die meisten Kombinationen nicht mal erinnern kann. Bei Kalle und Marie habe ich nur Letztens gedacht, waren die nicht schon 2009 in der Zehnten miteinander gegangen? Aber gerade mir, die ich immer als spießig und verklemmt gelte, muss es passieren, dass die 17jährige Schwester schwanger wird. Und von Tine, meiner knapp 21jährigen Schwester fangen wir erst gar nicht an, die hat es als Dorfmatratze zu zweifelhafter Berühmtheit gebracht.

Und dann endlich schlurfen die ersten Bald-Muttis mit ihren Yoga-Matten unter den Achseln aus der Hebammenpraxis. Ja, das ist ein echter Babyboom diesen Sommer. Fünf, zehn, fünfzehn, neunzehn Frauen stapfen mit ihren aufgeblähten Bäuchen und dicken Knöcheln an mir vorbei und erzählen einander, wie oft sie am Morgen erbrochen haben und wie das in ihrer ersten, zweiten, dritten Schwangerschaft war. Der Großteil der Frauen hat auch ein vernünftiges Alter zum Kinderkriegen, die sind so zwischen Ende Zwanzig, in den Dreißigern und auch ein paar schon Anfang Vierzig. Eine der Älteren wird gleich freudig vom Uniprofessor abgefangen und er nimmt ihr sofort die Yogamatte ab. Die wiegt zwar höchstens ein Kilo, aber Natascha behauptet ja auch, ihr Frauenarzt hätte ihr befohlen, nichts zu tragen, was schwerer als zwei Päckchen Zucker sei. Ich denke eher, sie will sich nur um die Hausarbeit drücken und Mama, die sonst knallhart ist, fällt auch noch drauf rein.

Natürlich kommt Natascha als Letzte raus. An ihrer Seite Kati, ihre neue beste Freundin. Bisher habe ich sie noch nicht kennengelernt, aber jeden Tag schwärmt Natascha:

„Kati sagt das auch immer … Und Kati kriegt einen Jungen… und die schönsten Babysachen, die auch bezahlbar sind, die gibt‘s im…“

Mein erster Eindruck von Kati: Sie ist ungefähr 22, fast 1,80 m groß und hat lockige blonde Haare.

„Hi, ich bin die Kati“, sie streckt mir die Hand hin und sagt, bevor ich weiterreden kann, „und du musst die Becky sein. Siehst Natascha ja zum Verwechseln ähnlich.“

„Ähem, ja, Rebecka ist mir lieber. – Komm Natascha, heute habe ich es eilig, wir müssen los.“

„Charmant wie immer, Becky“, säuselt Natascha.

„Macht doch nichts, Natti, wenn sie doch morgen ihre letzte Prüfung hat. Ist nun einmal wichtig“, Kati knuddelt meine Schwester kurz, sieht ziemlich lustig aus, bei den beiden dicken Bäuchen und geht zu dem Metallica-Typen.

Fassen wir kurz zusammen: Mein Name ist Rebecka, ich bin achtzehn Jahre alt und absolviere morgen um 11.30 Uhr meine abschließende Abiturprüfung. Wenn sie super läuft, schließe ich meine Schullaufbahn mit einem Durchschnitt von 2,4 ab und gehe ab Herbst an eine Uni in Bayern und wähle den Studiengang Geographie. Läuft sie schlecht, schließe ich mit 2,5 ab, schaffe den vorgegebenen NC nicht und komme auf die Warteliste. Wahrscheinlich belege ich dann ein Semester Psychologie an der nächstgelegenen Hochschule, oder ein Praktikum. Jedenfalls muss ich mir eine Wohnung suchen, denn meine Eltern haben vier Kinder und bald ein Enkelkind und irgendjemand muss ausziehen. Eigentlich sollte sich da mein Bruder Thomas, 23, angesprochen fühlen, aber als Junge und Ältester hat er einen Sonderstatus. Als er mit 17 in die Schlosserlehre ging, hat er sich gleich die Erdgeschosswohnung eingerichtet und in den letzten sechs Jahren peu á peu umgebaut. Jeden Monat gibt er meinen Eltern eine Spottmiete von 200 €, die er sich aber locker wieder reinholt, wenn er sich durch den Kühlschrank futtert. Wären wir bei Kristine – kurz Tine – meiner älteren Schwester. Sie hat letztes Jahr die Schule einfach hingeschmissen und mittlerweile drei oder vier verschiedene Praktika hinter sich. „Mal gucken, was mir so liegt.“ Erzieherin im Kindergarten war schon mal nix, Sekretärin fand sie auch öde, dann war sie bis vor zwei Monaten als Animateurin auf Mallorca und das war „Einfach nur spitzenmäßig“, aber jetzt ist sie wieder da und muss sich erst mal im spießigen Westfalen eingewöhnen. Tine hat somit auch ihr altes Zimmer wieder in Beschlag. Dabei hatte Natascha schon alles vermessen und überlegt, wo sie das Kinderbettchen hinstellt und wo eine Steckdose für diesen komischen Heizstrahler ist, der über dem Wickeltisch montiert wird. Wofür ist dieser Heizstrahler eigentlich gut? Sollen die Babys gleichmäßig gegrillt werden? Nein, schon klar, Baby soll es schön kuschelig haben. Als ich ein Baby war, kam unsere Mutter auch ohne so ein Ding aus und keines von uns Kindern ist erfroren.

Da Kindsvater Sven die Vaterschaft leugnet, können wir davon absehen, dass meine kleine Schwester demnächst auszieht. Zumal sie jetzt ja grad die 10. Klasse abschließt, das passt gerade so vor dem Geburtstermin und meine Eltern bestehen darauf, dass sie auch das Abitur macht. Also muss ich raus. Basta, Ende der Diskussion!

„Dir traue ich auch am ehesten zu, dass du da draußen zurechtkommst“, lobt mich meine Mutter. Ja, prima! Ich bin ja so klug und erwachsen und – wie ich ja schon erwähnte: spießig und verklemmt. Ich werde weder meine Ersparnisse verpulvern, mein Studium hinwerfen, noch mich vom letzten Deppen schwängern lassen. „Auf unser Rebecka ist Verlass“, hat unser Opa immer geprahlt. Unser Opa hat immer Recht behalten. Er hat sogar gesagt, mit 84 sei es mit ihm vorbei und prompt drei Wochen nach seinem Geburtstag ist er beim Azaleen gießen ins Blumenbeet gekippt und es war vorbei mit ihm. So bekam Thomas seine Wohnung.

Es ist jetzt 23.12 Uhr und ich reibe mir die Stirn. Ich kann kaum noch gucken, meine Schrift verschwimmt vor meinen Augen und in meinem Kopf klopft dauernd ein kleines Männchen und ruft: „Stopp hier! Wir haben Verarbeitungsstau, Hirn außer Betrieb.“

Gut, dann geh ich eben jetzt schlafen, stelle mir den Wecker auf 7 Uhr und lerne dann weiter. Wenn ich um 10.55 Uhr das Fahrrad nehme, bin ich lange vor der Prüfung da. Ihr wollt jetzt sicher sagen: „Wenn die versucht, am Abend vorher den ganzen Stoff in sich reinzupauken, wird das eh nix.“ Da habt ihr Recht. Ich habe den Stoff auch schon seit über einer Woche drauf, aber ich kann einfach nicht aufhören bis die Prüfung hinter mir liegt. Dauernd denke ich: ‚Ich hätte in dem Buch doch noch Kapitel 7 lesen sollen oder im Internet ein weiteres Mal über Erosion recherchieren müssen. Vielleicht sind in den letzten zwei Wochen ja interessante neue Artikel zu dem Thema erschienen…‘ Genau, ich mache meine Prüfung in Erdkunde und jetzt LICHT AUS UND GUTE NACHT!


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