Читать книгу Protogenoi - Viktor Fermi - Страница 13
6 Die Stadt
ОглавлениеMan nehme also einen Haufen Energie, Nanobots und jede Menge Rohstoffe. Dazu eine nahezu unbegrenzte Rechenleistung. Gaia hatte da eine Stadtplanung hingelegt, die nichts zu wünschen übrig ließ. Für ca. jeweils eine Million Berater und ihre Familien, also mehrere Millionen Menschen, waren Städte gegründet worden, die sich im Inneren der Erdkruste befanden. Es gab künstliche Sonnen und landwirtschaftliche Nutzflächen, riesige Parkanlagen, Strand- und Skigebiete, sogar Tiefseetauchen war möglich. Man wohnte in Bungalows oder Wohnblöcken, Blockhäusern, Höhlen oder Zelten, einige unter Wasser. Von der Muschel bis zur Berghütte war alles vertreten. Gaia stellte einem eine Immobilie ganz nach eigenem Geschmack zur Verfügung.
Innerhalb der Stadt gab es jede Möglichkeit zur Gestaltung, nur wenige Bauwerke und Infrastrukturkomponenten waren vorgegeben. Man konnte sich eine Architektur ausdenken und Gaia setzte diese dann mit Nanobots um. Innerhalb vernünftiger Grenzen natürlich. Das Design unserer Wohnstätte war auf meinen sechsjährigen Sohn zurückzuführen. Wir wohnten in einem Zoo mit mehreren zahmen Braunbären, einem kleinen tropischen Regenwald und einem Fußballplatz. Einige Einhörner und langhaarige Elfen ergänzend diese Menagerie, hier war meine Tochter Ideengeberin.
Die Berater, wenn man sie so nennen will, deckten nahezu jeden Bereich menschlichen Könnens ab. Natürlich waren die ganze harte Wissenschaftswelt und das Ingenieurwesen vollständig vertreten. Es gab Militärs (nicht so viele, wie ich dachte), Ärzte, Wirtschaftswissenschaftler und Juristen. Natürlich Philosophen und Vertreter jeder Religion, von der ich jemals gehört hatte. Aber auch Künstler und sogar Politiker. Ich sprach mit Clowns und Zauberern, mit Mystikern und Leuten, die ich nicht verstand.
Meine Rolle war durch meine Ausbildung zum Physiker, meine Vorliebe für Militärgeschichte und Waffen und meine Tätigkeit als Autor für Science Fiction bestimmt. Es gab noch einige mehr wie mich. Wir sollten kreativ quer denken, sagte mein Puc mir einmal.
Jeder Berater hatte einen Puc, der als Mischung aus Lexikon, Lehrer, Psychologe und gelegentlich als direkte Verkörperung Gaias fungierte. Ein Puc war auch ein Personalcomputer mit gewaltiger Rechenleistung und audiovisuellen Kapazitäten. Er konnte virtuelle Realitäten erschaffen, die scheinbar unendliche Möglichkeiten boten. Jeder konnte mit seinem Puc überall beliebige Informationen abrufen, jede Idee, jedes Szenario, jede Phantasie konnte man sich als sehr lebensechte Virtuelle Realität darstellen lassen. Die Puc´s sorgten dabei für Orientierung und assistierten einem bei der Organisation. Mit einem Puc war man immer in der Lage, auf dem eigenen Gebiet zu forschen und zu entwickeln. Ein Puc konnte als ziemlich fortgeschrittenes Smartphone agieren und einem ein Interface zu jedem und jeder Datenbank der Anlage verschaffen. Er war in der Lage, multimedial jede denkbare Kapazität anzubieten. Er konnte holographische Bildschirme erschaffen, auf denen man mit Gestensteuerung Bedienelemente nutzen konnte, berührungssensitiv wie bei Tabletcomputern, allerdings in jeder Größe und ohne weitere Hardware. Puc konnte alle Sinne mit Eindrücken versorgen, Bilder direkt auf die Netzhaut projizieren, perfekten Raumklang erzeugen, absolut echt wirkende Geruchserlebnisse bieten und für ein perfektes haptisches und taktiles Empfinden sorgen. Eine perfekte Illusion, oder wissenschaftlich gesprochen, vollständige Immersion. In einer virtuellen Realität, die von einem Puc projiziert wurde, hatten schon einige Berater den Kontakt zur Realität fast verloren. In der Stadt war Pucsucht eine gefürchtete Krankheit.
Wir hatten eine Leistungsverpflichtung, jeder musste lernen und regelmäßig Prüfungen ablegen. Man war in Kolloquien und Pflichtseminare eingebunden. Diese beinhalteten u.a. die Aufarbeitung von ethischen, wissenschaftlichen, psychologischen und militärischen Themen jeder Art. Wir lernten die Kultur der Protogenoi und ihre Technologie kennen. Die Zusammenarbeit mit den menschlichen Institutionen war ein Thema. Die galaktische Politik ein anderes.
Ergänzend musste jeder wöchentlich eigene Arbeiten abgeben. Dafür gab es keine vorgegebenen Themen oder Formen. Die Beiträge waren so frei von Vorgaben wie möglich, nur sollte jeder erkennbar sein Potential einsetzen. Ich erledigte diese Aufgabe, indem ich mit diversen Schlachtaufstellungen und den verschiedensten Truppenarten in der VR experimentierte. Ein Mischung aus den Aufstellungen der historischen Schlachten, die ich kannte und den Info´s aus der Protogenoikultur. Eine Schlacht von Rittern, Pikenieren und Langbogenschützen mit einem Puc in voller VR zu kommandieren, war ein ziemlich umwerfendes Erlebnis. Ich simulierte auch Raumschlachten gegen Aliens und experimentierte mit jeder Art Waffengattung und Soldaten, die mir einfiel. Raumäxte gegen Schutzschilde, Laserschwerter gegen Strahlenpistolen, phasengesteuerte Plasmagewehre gegen riesige Roboterarmeen und laut röhrende Kampfjets mit roten und blauen Laserstrahlen.
Andere Berater analysierten sehr wissenschaftlich alle denkbaren sozialen, ökonomischen und politischen Szenarien. Die Naturwissenschaftler und Ingenieure simulierten und konstruierten Modelle in gewaltiger Vielfalt. Man arbeitete allein oder in Gruppen. Die Fähigkeiten zur Selbstorganisation waren ausgeprägt. Die Themen entwickelten sich nach einem kreativen Zufallsmuster. Die Gesamtheit von einer Million Spezialisten produzierte Ideen und Fragen, lernte und analysierte.
Die Technologie und Wissenschaft der Protogenoi war unüberschaubar. Die Implikationen für die Menschheit nicht abzuschätzen. Bisher waren die Städte allerdings geheim. Außer den ausgewählten Beratern und deren Familien wusste niemand von den Protogenoi. Die Informationsbarriere war absolut. Gaia wollte noch nicht an die Öffentlichkeit.
Der eigentliche Zweck dieser ganzen Situation war die Bereitstellung kreativen Potentials. Gaia schmiss Wissen in die Menge, ließ über alle möglichen Themen nachdenken. Er hoffte hier auf Sprungphänomene. Plötzliche intuitive Einsichten, die seinen systematischen intellektuellen Prozessen einen Vorteil verschaffen sollten.
Dazu kamen Diskussionskreise, Arbeitsgruppen und Seminare „in real Live“ oder virtuell. Jeder Aspekt des Zusammenlebens mit den Genoi wurde bearbeitet.
Die aktuelle strategische Situation sollte dazu als gemeinsame Grundlage dienen. Gaia erklärte diese als Dozent in einer Vorlesung, die jeder in der Stadt kannte. In der einen oder anderen Form hatten alle Berater und die meisten Einwohner sich dieses Infopaket angeeignet.
„ Ich stehe in einem Austausch mit ca. zehn Millionen Protogenoi, die diese Galaxis bevölkern. Wir bilden eine Gemeinschaft, die viel lockerer organisiert ist, als die Staatswesen, aus denen die meisten von Ihnen stammen. Wir haben jede denkbare Form der Interaktion aber nur wenige Regeln. Die meisten betreffen die Verteilung unserer Zonen und auf welchen Teil des Weltalls wer von uns Zugriff hat. Einige Regeln betreffen den Einsatz von Technologien und sollen das Risiko einer totalen Vernichtung kontrollieren. Wir haben viele Regeln, die das Konfliktmanagement betreffen. Es gibt ein allgemein anerkanntes Prozedere für Kriegshandlungen. Es gilt ein absolutes Tötungsverbot für Protogenoi.“
Der blaue, zwei Meter große Humanoide sah das Auditorium an. „Bis vor ca. 100 Jahren galten diese Regeln ohne Einschränkung. Seitdem wissen wir, dass jemand sich nicht daran hält. Drei von uns sind getötet worden. Jedes Mal durch einen Gegner, der wie ein Protogenoi auftrat. Aber der Gegner setzte verbotene Technologien ein, er tötete den gegnerischen Genoi und verwüstete die zugehörige Zone des Alls. Keine Regel ist mehr gültig. Wir haben daher beschlossen, den oder die Täter zu vernichten. Sie werden dabei helfen.“ Es lag eine deutliche Endgültigkeit in dieser Formulierung.
Gaia fuhr fort:“ Wir müssen Sie über einige Grundlagen unterrichten, bitte lesen Sie die dieser Darstellung beigefügten Informationspakete.“ Wir erhielten eine Einweisung in die Technologie und Kosmologie der Protogenoi sowie die politischen, sozialen und ökonomischen Strukturen unserer Milchstraße.
Man kann sagen, technologisch galt „Anything Goes“. Die Protogenoi waren in der Lage, Materie vollständig in Energie umzuwandeln und umgekehrt. Sie hatten Nanobots, die von der subatomaren Ebene bis hin zu riesigen Raumschiffen und Sternenfestungen alles bauen konnten, was denkbar war. Vom Faustkeil bis zum Lasergeschütz konnten Nanobots jede technische Konstruktion herstellen, für die es Baupläne gab. Die Wissenschaft der Genoi war Milliarden Jahre alt, es gab keine unerforschten Bereiche mehr. Sie hatten den Metaraum entdeckt, eine dimensional übergeordnete Sphäre, aus der man Energie zapfen konnte. Allerdings musste man auch wieder Energie zurückführen. Ihre überlichtschnelle Raumfahrt und Kommunikation führte durch den Metaraum. Unsere Physiker waren hier an ihre Grenzen gestoßen. Die Konzepte der Metatechnik verstand kein menschlicher Wissenschaftler. Allerdings gab es eine Geschwindigkeitsgrenze von 10 Lichtjahren pro Sekunde. Weder Informationen noch Materie konnten schneller durch den Metaraum reisen. Ich verstand die zugrunde liegende Physik nicht, aber diese Grenze war wohl absolut.
Die Existenz der Genoi hing mit dem Metaraum zusammen. Im Inneren eines Planeten, der um eine Sonne kreist, gab es Bedingungen, die es der Materie gestatteten, ein gewaltiges Maß an Selbstorganisation zu erreichen. Gespeist durch einen natürlichen Metaraumzugang, bildeten sich bei günstiger Topologie Protogenois.
Die Kultur der Genois definierte sich auf der Basis von Lebewesen, die es gewohnt sind allein zu sein. Ein Genoi ist eine lange Zeit in seiner Entwicklung allein, er erlangt Bewusstsein und benötigt dann ca. eine Milliarde Jahre um den Metaraum und die anderen Protogenoi zu finden.
In dieser Zeit werden sie, platt gesagt, zum Eigenbrötler. Diese Halbautisten beginnen dann eine zögerliche Kommunikation mit anderen Individuen, eine Gemeinschaft gibt es eigentlich nicht. Daher ist ihre soziale Interaktion minimal. Sie brauchen einander nicht, der andere ist hauptsächlich Konkurrent. Protogenoi sind unabhängig, weil sie weder zur Fortpflanzung noch zum Lebensunterhalt oder zur Aufzucht von Nachwuchs auf die Kooperation mit anderen angewiesen sind. Aufgrund ihrer Struktur langweilen Sie sich auch nie. Sie erschaffen semiautonome Ableger, die Pucs, geben diesen Aufgaben und studieren die Ergebnisse.
Genoi sind Baumeister, hervorragende Ingenieure und Forscher. Sie vermessen ihren Herrschaftsbereich, katalogisieren die verfügbaren Ressourcen und bauen zu ihrem Vergnügen alle möglichen Artefakte. Dazu gehören Raumschiffe, aber auch Stationen im All.
Künstliche Welten kreisten um kunstvoll geschaffene Sonnen, mehrere Lichtjahre große Nebel mit Wasserstoffplasma wurden von künstlichen Feldern zu einer Ursuppe aus Energie und exotischer Materie angeregt. Manche erschaffen biologisches Leben, wie wir es kennen und auch bisher unvorstellbare Formen. Manche bauen Heerscharen von Nanobots und Robotern, riesige Fabriken im All. Manche griffen in die Entwicklung der Lebensformen auf ihren Welten ein um zu verändern, manche erschufen eigene Spezies.
Das Verhältnis zu den intelligenten Spezies in den von ihnen kontrollierten Raumzonen war extrem uneinheitlich. Es gab keine Tabus im Umgang mit anderen Spezies. Da es ihnen ohnehin schwer fiel, etwas wie allgemein verbindliche Regeln zu akzeptieren, hatten Sie sich auf das Notwendigste beschränkt. Ihre Regeln, wenn man so will Gesetze, schützten die Protogenoi vor sich selbst. Für uns, eine immerhin intelligente und fühlende Spezies, gab es in der Kultur der Genoi keinen Schutz. Wir waren Ressourcen, die allein in der Verantwortung des Protogenoi waren, in dessen Raumsektor unsere Welt lag. Diesen Genoi banden keine Gesetze, er war allein verantwortlich, wie er in seinem Sektor verfuhr. Mit Gaia hatten wir jemanden, der wohl einen sehr „humanen“ Kodex pflegte und alle bisherigen Erfahrungen waren gut. Allerdings durften wir nie vergessen, dass wir es hier mit einer zwar hoch entwickelten aber völlig fremdartigen Entität zu tun hatten, für die die Menschheit nur eine Randerscheinung der neueren Geschichte darstellte.
Über die Beziehung der anderen Genoi zu den intelligenten Spezies in dieser Galaxis hatten wir keine Kenntnisse. Für die Menschheit war aber nach meiner intuitiven Überzeugung die möglichst enge Form der Zusammenarbeit mit Gaia der für die Menschheit beste Weg. Vor allem da dieser unbekannte Feind zusammen mit dem jeweiligen Protogenoi auch die bewohnten Planeten inclusive den darauf lebenden Intelligenzwesen zerstört hatte. Dieser Feind war eindeutig auch unserer Feind, soviel stand fest.
Gaia fuhr fort:
„Für die Vernichtung eines Protogenoi wurde vom Gegner eine Überladungszone innerhalb des Ursprungsplaneten geschaffen. In Eurer Sprache ein so genanntes „Tannhäuser Tor“. Die ungebremste Metaraumenergie führte zu einer Implosion des Raumes, jetzt befindet sich dort ein schwarzes Loch. Diese Technologie ist in unserer Kultur tabu. Dieser Bereich des Weltalls ist nun nicht mehr nutzbar. Diese Vergeudung von Ressourcen und die Zerstörung eines Teils unserer Lebensgrundlage ist in unserer Kultur ebenfalls nicht vorstellbar. Der Feind steht scheinbar völlig außerhalb unserer Gemeinschaft, er ist unkalkulierbar in seinen Handlungen und kennt keine Skrupel.
Bisher hat er streng entsprechend der vorgesehenen Protokolle kommuniziert, er hat sich authentifiziert, den Krieg erklärt und die Konfrontationen ausgehandelt. Dabei hat er nur wenig über sich und seinen Absichten verraten. Es wird nun Ihre Aufgabe sein, mit mir zusammen alle notwendigen Strategien zu erarbeiten und umzusetzen. Um es zusammenzufassen, wir planen ein einfaches „Search and Destroy“. Falls wir vorher mehr über diesen Gegner und seine Motive erfahren, okay. Aber es geht in erster Linie um seine Vernichtung.“
Diese Aufzeichnung gehörte zu den ersten Dingen, die man studierte, wenn man als Berater in die Stadt kam. Das war unserer Mantra, unserer absolutes Primärziel. Ich begriff bald, dass die Genoi dies sehr ernst meinten.