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ZWEITES KAPITEL
Die ästhetischen Grundbegriffe der Baukunst

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1. Die Baukunst besteht aus Ordinatio, die griechisch Taxis genannt wird, Dispositio, die die Griechen Diathesis nennen, Eurythmia, Symmetria, Decor und Distributio, die griechisch Oikonomia genannt wird40.

2. Ordinatio41 ist die nach Maß berechnete angemessene Abmessung42 (der Größenverhältnisse) der Glieder eines Bauwerks im einzelnen und die Herausarbeitung der proportionalen43 Verhältnisse im ganzen zur Symmetrie. Diese wird aus der Quantitas, die griechisch Posotes heißt, hergestellt. Quantitas aber ist die Ableitung einer Maßeinheit aus dem Bauwerk selbst und die harmonische Ausführung des Gesamtbaues aus den einzelnen Teilen der Bauglieder.

Dispositio ist die passende Zusammenstellung der Dinge und die durch die Zusammenstellung schöne Ausführung des Baues mit Qualitas44. Die Formen der Dispositio, die die Griechen Ideen nennen, sind folgende : Ichnographia, Orthographia, Scaenographia. Ichnographia ist der unter Verwendung von Lineal und Zirkel in verkleinertem Maßstab ausgeführte Grundriß, aus dem (später) die Umrisse der Gebäudeteile auf dem Baugelände genommen werden. Orthographia aber ist das aufrechte Bild der Vorderansicht und eine den Maßstäben des zukünftigen Bauwerks entsprechende gezeichnete Darstellung in verkleinertem Maßstab. Scaenographia ferner ist die perspektivische (illusionistische) Wiedergabe der Fassade und der zurücktretenden Seiten und die Entsprechung sämtlicher Linien auf einen Kreismittelpunkt. Diese Formen entspringen dem Nachdenken und der Erfindung. Nachdenken ist die mit viel Eifer, Fleiß und unermüdlicher Tätigkeit verbundene mit einem Glücksgefühl gepaarte Bemühung um die Lösung einer gestellten Aufgabe. Erfindung aber ist die Lösung dunkler Probleme und die mit beweglicher Geisteskraft gefundene Entdeckung von etwas Neuem. Dies sind die Begriffsbestimmungen der Dispositio.

3. Eurythmia est venusta species commodusque45 in compo|10|sitionibus membrorum aspectus. Haec efficitur, cum membra operis convenientia sunt altitudinis ad latitudinem, latitudinis ad longitudinem, et ad summam omnia respondent suae symmetriae.

4. Item symmetria est ex ipsius operis membris conveniens |15| consensus ex partibusque separatis ad universae figurae speciem ratae partis responsus. Uti in hominis corpore e cubito, pede, palmo, digito ceterisque particulis symmetros est eurythmiae qualitas, sic est in operum perfectionibus. Et primum in aedibus sacris aut e columnarum crassitudi|20|nibus aut triglypho aut etiam embatere, ballista e foramine46, quod Graeci vocitant, navibus interscalmio, quae dicitur, item ceterorum operum e membris invenitur symmetriarum ratiocinatio.

5. Decor autem est emendatus operis aspectus probatis |25| rebus47 conpositi cum auctoritate. Is perficitur statione, quod graece dicitur, seu consuetudine aut natura. Statione cum Jovi Fulguri et Caelo et Soli et Lunae aedi|13|ficia sub divo hypaethraque constituents; horum enim deorum et species et effectus in aperto mundo atque lucenti praesentes videmus. Minervae et Marti et Herculi aedes doricae fient; his enim diis propter virtutem sine deliciis aedificia |5| constitui decet. Veneri, Florae, Proserpinae, fontium nymphis corinthio genere constitutae aptas videbuntur habere proprietates, quod his diis propter teneritatem graciliora et florida foliisque et volutis ornata opera facta augere videbuntur iustum decorem. Junoni, Dianae, Libero Patri cete|10|risque diis, qui eadem sunt similitudine, si aedes ionicae construentur, habita erit ratio mediocritatis, quod et ab severo more doricorum et ab teneritate corinthiorum temperabitur earum institutio proprietatis. 6. Ad consuetudinem autem decor sic exprimitur, cum aedificiis interioribus mag|15|nificis item vestibula convenientia et elegantia erunt facta. Si enim interiora perfectus habuerint elegantes, aditus autem humiles et inhonestos, non erunt cum decore. Item si doricis epistyliis in coronis denticuli sculpentur aut in pulvinatis columnis et ionicis epistyliis [capitulis] exprimentur triglyphi, |20| translatis ex alia ratione proprietatibus in aliud genus operis offendetur aspectus aliis ante ordinis consuetudinibus institutis. 7. Naturalis autem decor sic erit, si primum omnibus templis saluberrimae regiones aquarumque fontes in îs locis idonei eligentur, in quibus fana constituantur, deinde maxime |25| Aesculapio, Saluti et eorum deorum, quorum plurimi medicinis aegri |14| curari videntur. Cum enim ex pestilenti in salubrem locum corpora aegra translata fuerint et e fontibus salubribus aquarum usus subministrabuntur, celerius convalescent. Ita efficietur, uti ex natura loci maiores auctasque cum dignitate |5| divinitas excipiat opiniones. Item naturae decor erit, si cubiculis et bybliothecis ab oriente lumina capiuntur, balneis et hibernaculis ab occidente hiberno, pinacothecis et quibus certis luminibus opus est partibus, a septentrione, quod ea caeli regio neque exclaratur neque obscuratur solis cursu |10| sed est certa inmutabilis die perpetuo.

3. Eurythmia ist das anmutige Aussehn und der in der Zusammensetzung der Glieder symmetrische45 Anblick. Sie wird erzielt, wenn die Glieder des Bauwerks in zusammenstimmendem Verhältnis von Höhe zur Breite und von Breite zur Länge stehen, überhaupt alle Teile der ihnen zukommenden Symmetrie entsprechen.

4. Symmetria ferner ist der sich aus den Gliedern des Bauwerks selbst ergebende Einklang und die auf einem berechneten Teil (modulus) beruhende Wechselbeziehung der einzelnen Teile für sich gesondert zur Gestalt des Bauwerks als Ganzem. Wie beim menschlichen Körper aus Ellenbogen, Fuß, Hand, Finger und den übrigen Körperteilen die Eigenschaft der Eurythmie symmetrisch ist, so ist es auch bei Ausführung von Bauwerken. Und vornehmlich bei heiligen Bauwerken wird entweder aus den Säulendicken oder dem Triglyphon oder auch dem Embater, bei der Bailiste aus dem Bohrloch46, das die Griechen Peritreton nennen, bei den Schiffen aus dem Zwischenraum zwischen zwei Ruderzapfen, den die Griechen Dipechyaia nennen, und ebenso bei den übrigen Bauwerken aus einzelnen Gliedern die Berechnung der Symmetrien gewonnen.

5. Decor ist das fehlerfreie Aussehn eines Bauwerks, das aus anerkannten Teilen47 mit Geschmack geformt ist. Decor wird durch Befolgung von Satzung, die die Griechen Thematismos nennen, oder durch Befolgung von Gewohnheit oder durch Anpassung an die Natur erreicht: durch Beachtung von Satzung, wenn dem Jupiter Fulgor, dem Himmel, der Sonne und dem Monde Gebäude unter freiem Himmel ohne Dach über der Cella errichtet werden. Denn dieser Götter Erscheinen und Wirken sehen wir gegenwärtig in dem offenen und lichtdurchfluteten Weltraum. Der Minerva, dem Mars und dem Herkules werden dorische Tempel errichtet werden, denn es ist angemessen, daß diesen Göttern wegen ihres mannhaften Wesens Tempel ohne Schmuck gebaut werden. Für Venus, Flora, Proserpina und die Quellnymphen werden Tempel, die in korinthischem Stil errichtet sind, die passenden Eigenschaften zu haben scheinen, weil für diese Götter wegen ihres zarten Wesens Tempel, die etwas schlank, mit Blumen, Blättern und Schnecken (Voluten) geschmückt sind, die richtige Angemessenheit in erhöhtem Maße zum Ausdruck zu bringen scheinen. Wenn für Juno, Diana und Bacchus und die übrigen Götter, die ganz ähnlich sind, Tempel in ionischem Stil errichtet werden, wird ihre Mittelstellung berücksichtigt sein, weil sich die diesen Tempeln eigentümliche Einrichtung von der Herbheit des dorischen Stils (einerseits) und der Zierlichkeit des korinthischen Stils (andererseits) fernhält. 6. Nach Gewohnheit aber wird Decor so zum Ausdruck gebracht, daß bei Gebäuden, die innen prächtig ausgeführt sind, ebenso dazu passende und vornehme Vorhallen gebaut werden. Wenn nämlich das Innere geschmackvoll ausgeführt ist, die Zugänge aber niedrig und unansehnlich anzusehen sind, dann wird ihnen die Angemessenheit (decor) fehlen. Ebenso, wenn dorischem Gebälk am Gesims Zähnchen eingemeißelt werden oder an Säulen mit Polsterkapitellen und ionischem Gebälk Triglyphen ausgearbeitet werden, dann wird, weil aus einem Stil seine Eigentümlichkeiten in einen anderen übertragen sind, der Anblick gestört werden, da sich vorher andere Gewohnheiten der Anordnung herausgebildet hatten. 7. Dekor von Natur her aber wird so sein, wenn erstlich für alle Tempel die gesündesten Gegenden und an den Orten, an denen Heiligtümer errichtet werden sollen, gesunde Wasserquellen ausgesucht werden, zweitens insbesondere für Aeskulap, Salus und (Tempel) der Götter, durch deren Heilkünste offenbar sehr viele Kranke geheilt werden. Wenn nämlich Kranke von einem ungesunden an einen gesunden Ort überführt werden und ihnen (außerdem) Anwendung von Wasser aus Heilquellen verschafft wird, werden sie schneller genesen. So wird man erreichen, daß aus der natürlichen Beschaffenheit des Ortes der Glaube an die Gottheit zugleich mit ihrer Würde größer und stärker wird. Ebenso wird Decor von Natur her da sein, wenn für Schlafzimmer und Bücherzimmer vom Osten her Licht gewonnen wird, für Badezimmer und Wintergemächer von der Winterabendseite (SSW), für Bildergalerien und Räume, die gleichmäßiges Licht gebrauchen, vom Norden, weil diese Himmelsgegend durch den Lauf der Sonne weder erhellt noch verdunkelt wird, sondern während des ganzen Tages gleichmäßig und unveränderlich ist.

8. Distributio autem est copiarum locique commoda dispensatio parcaque in operibus sumptus ratione temperatio. Haec ita observabitur, si primum architectus ea non quaeret, quae non poterunt inveniri aut parari nisi magno. |15| Namque non omnibus locis harenae fossiciae nec caementorum nec abietis nec sappinorum nec marmoris copia est, sed aliud alio loco nascitur, quorum comportationes difficiles sunt et sumptuosae. Utendum autem est, ubi non est harena fossicia, fluviatica aut marina lota; inopiae quoque |20| abietis aut sappinorum vitabuntur utendo cupresso, populo, ulmo, pinu; reliquaque his similiter erunt explicanda. 9. Alter gradus erit distributionis, cum ad usum patrum familiarum et ad pecuniae copiam aut ad eloquentiae48 dignitatem aedificia apte disponentur. Namque aliter urbanas domos opor|25|tere constitui videtur, aliter quibus ex possessionibus rusti|15|cis influunt fructus; non item feneratoribus, aliter beatis et delicatis; potentibus vero, quorum cogitationibus respublica gubernatur, ad usum conlocabuntur; et omnino faciendae sunt aptae omnibus personis aedificiorum distributiones.

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