Читать книгу Kinder und Jugendliche im Spiegel gesellschaftlicher Veränderungen - Volker Langhirt - Страница 15
1.4 Werte und Kontextwandel – das Verhältnis der Generationen
ОглавлениеVor dem Hintergrund globaler Krisen mutet es schwierig an zu glauben, dass wir unseren Kindern Sicherheit und Zuversicht hinterlassen. Wir passen unsere Kinder vorwiegend einer Leistungsgesellschaft an, ohne zu hinterfragen, ob sie dazu bereit sind. Proteste werden sehr schnell als pathologische Szenarien von Jugendbewegungen etikettiert. Frühe außerfamiliäre Betreuung, Ganztagesschulen, der Jugendkult der Erwachsenengeneration und die Tabuisierung des Alters sind nur einige Ausdrucksformen gegenwärtiger Realität, die zudem durch den Mangel an gemeinsamer Zeit zwischen den Generationen und der Notwendigkeit, miteinander in die Auseinandersetzung zu gehen, geprägt sind. Auch scheint es ein Relikt früherer Zeiten zu sein, Jugendlichen noch Konzepte für ihr weiteres Leben durch die Erfahrung der älteren Generation mitzugeben. Mütter werden zu besten Freundinnen ihrer Töchter, Väter zu Kumpeln ihrer Kinder. Der Freizeitkult steht an erster Stelle, der Körper wird optimiert, das Individuum möchte etwas darstellen und zeigen. Die Abarbeitung der Generationenkonflikte tritt in den Hintergrund, da die Auseinandersetzung weitgehend fehlt. Die ältere Generation unterliegt einem Jugendkult, der zunehmend die Grenzen zwischen den Generationen verwischt. Die schnelllebige Zeit mit ihrem Optimierungszwang fördert zudem eine Begrenzung des Dialogs, beide Generationen scheinen sich zu entfremden. Hopf (2020) unterstreicht die Notwendigkeit einer klaren Markierung von Generationsunterschieden. Die ältere Generation muss Verantwortung übernehmen und ist in Besitz der Lebenserfahrung. Vielfältige Konflikte resultieren aus der Nivellierung von Generationsunterschieden: Missachtung, Übergriffe und Distanzlosigkeit in den Beziehungen verdeutlichen diese Generationenkonflikte.
Stierlin (1970, 1980) hat den dialektischen Beziehungsprozess zwischen den Generationen eindrucksvoll beschrieben. Er sieht eine lebenslange gegenseitige Verpflichtung von Kindern und Eltern, denn die Versöhnung zwischen den Generationen ist zentraler Bestandteil des Generationenkonfliktes. Ebenso wie Stierlin betont auch Günter (2015) die andere Perspektive des Generationenkonflikts. Er stellt die Krise der Eltern beim Heranwachsen ihrer Kinder in den Vordergrund, den Neid der älteren Generation auf die Möglichkeiten ihrer Kinder, deren Vitalität und ihre eigene Endlichkeit, die doch so viel näher ist als bei ihren Kindern. Oftmals werden die Kinder nicht in ihrer Eigenständigkeit und Individualität wahrgenommen, sondern dienen als Selbstobjekt narzisstischer Bedürfnisse ihrer Eltern. Die vielfältigen Möglichkeiten unserer Kinder, die Loslösung aus dem Elternhaus, sich auf dem Weg zu machen, Neues zu erobern, löst in der älteren Generation, den Eltern, häufig Angst aus. Ich meine hier nicht die Angst um die Kinder, sondern die Angst der eigenen Begrenztheit als ältere Generation. Günther beschreibt die elterliche Abwehr der Vitalität ihrer Kinder in Form von deren Disziplinierung, die sich vor allem auf ihre intellektuellen Fähigkeiten im Sinne unserer Leistungsgesellschaft richtet. Eine unkontrollierte Lebendigkeit verursacht Angst (ebd., S. 147). Oftmals fehlen den Kindern und Jugendlichen klare Vorgaben und die Orientierung, da es Eltern in unserer Gesellschaft schwerfällt, sich persönlich ihren Kindern zur Auseinandersetzung entgegenzustellen. Günter fordert in der klinischen Arbeit mehr Aufmerksamkeit darauf zu richten, wie die ältere Generation auf die jüngere reagiert. Auch Kinderanalytiker müssen sich fragen, inwieweit sie von den jugendlichen Patienten in ihrer Persönlichkeit infrage gestellt werden und dementsprechend Abwehrprozesse in Gang kommen. Günter erkennt auch in vielen Publikationen von Kollegen eine Abwehr gegen den Neid auf die Vitalität der Jugend.
»Speziell in der Analyse von Adoleszenten und Spätadoleszenten stellt sich dieses Problem verschärft, zumal diese häufig ganz offen die sexuelle Attraktivität des Analytikers/der Analytikerin in Frage stellen.« (ebd., S. 148)
Die Pädagogin Nelly Wolffheim verweist bereits 1927 darauf, dass die Formung des Kindes aus der Erwachsenensicht bei dem Kind zu hohen Anpassungsleistungen führt, teilweise Minderwertigkeitsgefühle die Folge sind. Auch kann das Kind aufbegehren, was zu heftigen Konflikten zwischen den Generationen führt (ebd., S. 240). Wolffheim plädierte dafür, dass die Kluft zwischen der Erwachsenenwelt und der Welt der Kinder oder Jugendlichen nicht zu stark wird. Dabei kommt dem Erwachsenen die Aufgabe zu, sich in die Welt des Kindes hineinzuversetzen. Kinder fühlen sich oftmals nicht verstanden (ebd., S. 241), das Kind muss in seiner Welt ernst genommen werden.
»Wie wenig Rücksicht wird aber auf Spiel und Beschäftigung der Kinder genommen, wie leichtfertig stören wir das Kind. Dem Erwachsenen erscheint ja im Grunde des Kindes Tun klein und nebensächlich.« (ebd., S. 241)
Vor allem in der Pubertät sollte man mit einer großen Sensibilität der jugendlichen Welt gegenübertreten, ansonsten wird sich eine Grenze errichten.
»Es pflegten nicht die schlechtesten Menschen zu sein, die sich in ihrer Sturm- und Drangperiode schroff-ablehnend und oppositionell betrugen.« (ebd., S. 242)
Wolffheim sieht schon damals die Zurückhaltung von Eltern gegenüber den andrängenden Impulsen ihrer pubertären Kinder als sehr wichtig an.
»Wir müssen doch anerkennen, dass sich die Einstellungen wandeln, und was der eigenen Jugend Ideal und lebenswert war, wird von der nächsten Generation in einem anderen Lichte gesehen.« (ebd., S. 244)
Ich finde, bemerkenswerte Gedanken zur damaligen Zeit, die heute in unserer Welt, die durchdrungen ist von Wirtschaftswachstum, globalen Krisen und vorwiegend narzisstischen Impulsen, nicht mehr, zumindest öffentlich, diskutiert werden. Die Sicht und das Empfinden der Kinder und der Jugendlichen erscheint heute mehr aus einer erwachsenen Sicht und der Notwendigkeit der frühzeitigen Anpassung kindlicher und jugendlicher Bedürfnisse an diese Welt geprägt zu sein. Der Dialog zwischen den Generationen findet in unserem traditionellen Verständnis nicht mehr statt. Jedoch sind die Übergangsräume zwischen der erwachsenen und der jugendlichen Welt nicht mehr klar abgegrenzt und strukturiert, es kommt zu fließenden Überlappungen (Becker et al., 2016, S. 45). Jugendliche erwerben heute vor dem Hintergrund rasanter gesellschaftlicher Veränderungen auf verschiedenen Wegen Erfahrungen, die der Erwachsenenwelt teilweise unbekannt sind und bleiben. Der Vorsprung an Wissen und Kompetenz, den ältere Generationen zu früheren Zeiten sozusagen von Natur aus auszeichnete, ist heute nicht mehr per se gegeben (ebd., S. 46).
»Es scheint im Zuge der Nivellierung der Generationsunterschiede oder sogar der Umkehrung des Generationengefälles kaum noch ein Autoritätsgefälle zu geben, in dem das Alter zum Entscheidungskriterium würde.« (ebd., S. 47)
Der gesellschaftliche Zwang, sich den Regeln einer Welt, die teilweise ignorant, vielleicht auch hilflos gegenüber kindlichen und jugendlichen Ausdrucksformen ist, zu unterwerfen, könnte künftig den Dialog zwischen den Generationen entgleiten lassen. Vitalität, Protest, Enthusiasmus und Leidenschaft, Ausdrucksformen der jüngeren Generation, scheinen sich zunehmend zu Störfaktoren in unserer Gesellschaft zu entwickeln. Die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen haben sich merklich verändert und sind weiter rasanten, sich stetig erneuernden Impulsen ausgesetzt. Dies bedeutet, dass wir in unseren Konzepten und Bewertungen von »normal« und »auffällig« stetig wechselnden Bewertungskriterien ausgesetzt sind.