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Einleitung

Zentrales Anliegen dieses Bandes stellt die vieldiskutierte Thematik »neuer Störungsbilder« bei Kindern und Jugendlichen dar. Eltern wie auch Kolleginnen und Kollegen1 sind des Öfteren der Meinung, dass sich die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen in den letzten Jahren wesentlich verändert habe und damit neue Facetten psychischer Auffälligkeiten im Alltag und in der Praxis erscheinen. Auch ich selbst bin mit der von mir persönlich in den letzten Jahren empfundenen Veränderung des Lebensalltags und der damit zusammenhängenden Symptomatik meiner Patienten befasst. Diese Gedanken führten zu der Konzeption des nun vorliegenden Buches. Insbesondere das Spannungsverhältnis sich stetig verändernder gesellschaftlicher Impulse und der sich in der Folge ergebenden »Produktion neuer Störungsbilder« bei Kindern und Jugendlichen möchte ich näher betrachten.

Zunehmend ist in den letzten Jahren gesellschaftlich die Tendenz zur Selbstoptimierung zu beobachten. Funke (2016) hat seinem Buch den Titel »Idealität als Krankheit?« gegeben. Grenzenloser Konsum, Grandiosität und Allmacht, Effektivität, Souveränität, Selbstoptimierung u. a., all das wandelt sich zu Metaphern unserer Gesellschaft, während die eigene Begrenztheit und Endlichkeit verleugnet wird. Der Impuls, sich diesen Idealen zu unterwerfen, steht in engem Zusammenhang mit der Zunahme psychischer Erkrankungen. Auch die Psychotherapie ist davon betroffen, da sie eine Anpassung an gesellschaftliche Idealbilder erreichen soll. Der Psychotherapeut muss sich diesen Strömungen stellen und in seine Arbeit mit einbeziehen. Funke sieht beispielsweise als wichtigsten Indikator in der menschlichen Entwicklung die Verinnerlichung stabiler Beziehungen in der Kindheit (ebd., S. 28), um sich im weiteren Leben nicht an Abwehrmechanismen klammern zu müssen. Krankheit steht in einem Verhältnis zu Gesundheit, Auffälligkeit zu Normalität.

Was bedeutet im gesellschaftlichen Kontext »normal«?

Seit jeher unterliegt der Begriff der Normalität den Interpretationen im jeweiligen kulturellen Kontext. Sowohl die theoretischen Konzepte der Kinderpsychotherapie wie auch der praktische Alltag des Psychotherapeuten sind davon stark beeinflusst. Die »Abstinenz« vergangener Epochen sollte unter diesen Bedingungen neuen Konzeptionen und Überlegungen unterzogen werden. Die Kinderanalyse beschäftigt sich mit der inneren Welt des Kindes/Jugendlichen und der Etablierung psychischer Strukturen im Entwicklungsprozess. Vor diesem Hintergrund bietet sie als Wissenschaft die geeigneten Voraussetzungen für einen entsprechenden Diskurs. Eines möchte ich an dieser Stelle festhalten, der Leser wird im Folgenden merken, dass dies ein zentrales persönliches Anliegen meiner Seite darstellt: Der gesellschaftliche Rahmen und seine Veränderungsprozesse, das heißt auch die zur Erkrankung verursachenden gesellschaftlichen Phänomene, bleiben leider oft unberücksichtigt.

Welchen Grund gibt es hierfür?

Die Antipsychiatrie, die italienische Bewegung, Richter, Hopf und andere präsentierten einen Ansatz, der die soziale Umgebung des Patienten in die Behandlung miteinbezog. In einer Welt, in der scheinbar alles machbar ist und das Individuum mit seinen unzähligen Gestaltungsmöglichkeiten des Lebens im Vordergrund steht, kommt diese Sichtweise kaum noch in Betracht. Auch die Psychotherapie und ihre Forschungsstudien fokussieren zunehmend Technik und Spezialisierung in der Behandlung des Individuums und tendenziell weniger soziale Umweltfaktoren. Tschuschke (2019) mahnt vor dem Hintergrund der Wandlungen und Besorgnis erregenden gesellschaftlichen Impulse die Notwendigkeit eines öffentlichen Appells und Mitwirkens der kindertherapeutischen Fachwelt an. Mit ihrer über 100-jährigen Erfahrung wäre sie besonders für den Diskurs künftiger Entwicklungsbedingungen, protektiver Faktoren und anderem geeignet.

Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben und seiner Begrenztheit sind in Zeiten schneller Reparationsleistungen und dem Drang nach Selbstoptimierung hinderlich und bergen in sich die Gefahr des Protests und der kritischen Haltung. Die Kinderanalyse ist ähnlichen Prozessen unterworfen und in der Gefahr, im öffentlichen Diskurs nur noch eine Randposition einzunehmen. Jedoch bietet insbesondere die psychoanalytische Sicht eine Möglichkeit, gesellschaftliche Missstände und krankmachende Faktoren, die die künftige Generation belasten, in den Fokus zu rücken. Dieses bedeutet jedoch Zeit und einen verlässlichen Rahmen, der aktuell starker Kritik ausgesetzt ist.

1 Im Folgenden verwende ich in aller Regel, der besseren Lesbarkeit des Buches wegen, das generische Maskulinum. Stets werden dabei beide Geschlechter bzw. alle Geschlechtsformen gleichermaßen angesprochen.

Kinder und Jugendliche im Spiegel gesellschaftlicher Veränderungen

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